Nemo, Philippe, Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation, aus dem Französischen übersetzt von Horn, Karen Ilse (= Walter Eucken Institut Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 49). Mohr (Siebeck), Tübingen 2005. VI, 146 S. Besprochen von Jürgen Weitzel.

 

Das Buch des französischen Philosophen und Historikers wurde von einer Professorengruppe für das Jahr 2007 als Leseempfehlung vorgestellt (NJW 2007, S. 3332ff.). Es handelt sich dabei nicht eigentlich um ein rechtshistorisches Buch, sondern um einen ideengeschichtlichen Essay aus der Weltsicht des (Wirtschafts-)Liberalismus und des fortgeschrittenen Individualismus. Doch betont er die „zentrale Rolle des Rechts“ für die Ausbildung einer „westlich“ genannten Identität, die Westeuropa, Nordamerika, Australien, Neuseeland und andere, kleinere Teile der Welt umfasse (S. 111, 113). Dabei wird Deutschland durchgehend Westeuropa zugeordnet, während etwa Polen und Ungarn zu „Osteuropa“ und nur zu den „dem Westen verwandten“ Ländern (S. 113) gezählt werden. Mitteleuropa fehlt. Auch sonst kann das Buch die französische Perspektive nicht verleugnen: deutschsprachige Literatur findet sich kaum (Max Weber wird S. 56 genannt, findet aber keine Aufnahme in das Literaturverzeichnis); die Einschätzung, Europa sei im zehnten und elften Jahrhundert in „eine Vielzahl sehr kleiner politischer Einheiten zersplittert“, gibt die Situation Frankreichs in dieser Zeit wieder, ignoriert aber das Römische Reich der Deutschen, dessen Kaiser als „germanische“ bezeichnet werden (S. 46).

 

Fünf „wesentliche Ereignisse“ prägen nach Nemo die kulturelle Morphogenese des Westens:

„1. die Erfindung der Polis, der Freiheit unter dem Gesetz, der Wissenschaft und der Schule durch die Griechen;

2. die Erfindung des Rechts, des Privateigentums, der ‚Person’ und des Humanismus durch Rom;

3. die ethnische und eschatologische Revolution der Bibel;

4. ‚die päpstliche Revolution’ des elften bis dreizehnten Jahrhunderts;

5. die Förderung der freiheitlichen Demokratie durch das, was man gemeinhin als die ‚großen demokratischen Revolutionen’ bezeichnet …“.

Dem folgt die überzogen hoch gelegte Messlatte: „Doch dem Westen ist es eigen von allen diesen fünf Ereignissen geformt zu sein, und von keinem anderen Ereignis“ (S. 4, Hervorhebung im Original).

 

Es ist dieser Ausspruch, der vor allem auch in seinem zweiten Teil, entschiedenen Widerspruch verdient. Im kulturellen Gedächtnis eines Volkes und der europäischen Völker verbleiben nicht nur einzelne abzählbare „Ereignisse“, sondern grundsätzlich alle „Ereignisse“, insbesondere dann, wenn sie einen schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Es geht um Relationen zwischen Traditionen und Wirkkräften, nicht um den Ausschluss solcher, die einem Verfasser nicht ins Konzept passen.

 

Die Abhandlung schöpft prinzipiell aus bedeutenden Werken der Fachliteratur, setzt deren Erträge in den eigenen Gedankengang ein. Die wichtigsten und hierzulande bekanntesten Autoren sind Harold J. Berman und Friedrich August von Hayek. Der eigene Gedankengang muss freilich über die großen Linien hinaus vielgestaltig verbindend und argumentierend ausgeformt werden. Hierbei können die Überlegungen Nemos die Beliebigkeit des Arguments, eigenwillige historische Aussagen, anachronistische Begriffsbildungen und Gedankenverbindungen, eigenwillige Bewertungen und Wertungswidersprüche nicht vermeiden. Es müssen ja rund 3000 Jahre europäischer Kultur und Geschichte im Hinblick auf fünf „Ereignisse“ im Sinne des (Wirtschafts-)Liberalismus gedeutet werden.

 

Unter Berücksichtigung des Charakters dieser Zeitschrift sollen nachfolgend drei Punkte etwas näher angesprochen werden. Zunächst der, dass einige „Ereignisse“ gänzlich fehlen oder aber von vornherein stark negativ besetzt sind: so der germanische, keltische und slawische Beitrag zum Mittelalter; die Entfaltung genossenschaftlicher Sozial- und Rechtsstrukturen, das europäische Städtewesen, Humanismus, Naturrecht und in gewisser Weise auch die Aufklärung. Es waren „schlichte Wesen, welche die keltischen und germanischen Wälder bevölkerten“ (S. 5). Doch sie blieben nicht dort! Die „Welle der Barbaren überspült“ bei Nemo eine „‚moderne’ Idee aus der Antike“, obwohl doch diesen Barbaren angesichts der Christianisierung das „wahrhaft prophetische Konzept des Erwerbsgeistes“ (S. 84f.) nie vermittelt wurde. Und: „Der heilige Augustinus war der letzte Kirchenvater des abendländischen Reiches gewesen, bevor dieses in der barbarischen Nacht versank“ (S. 51). Auf derselben Seite steht zu lesen, dass es Augustinus mit seiner pessimistischen Prädestinationslehre gewesen sei, der die Menschen bis ins 11. Jahrhundert dazu gebracht habe, „auf jegliches Handeln zu verzichten“. In der Folge hätten Irrationalität und „abergläubische Prozeduren“ (S. 55) das Mittelalter bestimmt. War also Augustinus der Barbar? Er, der „eine neue und bessere Qualität menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns suchte, eine höhere Erkenntnisstufe, als die er den Glauben erkannte“ (Alexander Ignor). Und der in diesem Zusammenhang auch das ungehemmte kapitalistische Denken kritisierte („… uns liegt nur daran, dass jeder seinen Reichtum immerfort vermehre. Dann hat man genug für die tägliche Verschwendung, und jeder Mächtige kann sich damit Schwächere untertan machen …“ (Vom Gottesstaat II, 10).

 

Der zweite Punkt ist die überzogene, von Zeit und Raum, wesentlichen Inhalten und sozialen Zusammenhängen abstrahierende Alleinstellung, die Nemo dem römischen Recht zuschreibt. Und zwar dem römischen Privatrecht, denn es geht ihm um „die Grenzen zwischen ‚Mein’ und ‚Dein’“, um „ein Mittel, das Privateigentum zu definieren“ (S. 21, 27). Dieser Punkt ist ihm so wichtig, dass er sogar formulieren kann, die Römer hätten „das Recht erfunden“ (S. 3, 19). Und „indem sie das Privatrecht schufen“, hätten sie „zugleich auch die unabhängige individuelle Person erfunden“. Das römische Recht sei folglich „die Quelle des abendländischen Humanismus“ (S. 29). Noch in keiner anderen Zivilisation seien nämlich Hab und Gut jedes Einzelnen solchermaßen definiert und garantiert gewesen. „So hängt das, was man ist, in gewissem Maße davon ab, was man hat“ (S. 28). Garniert wird dieses hohe Lied des Ego mit einigen rein hypothetisch bleibenden Warnungen vor der „Einwirkung irgendeines Ritus oder kollektiven Fiebers, das alle Rechtsgarantien zerschlüge“, die Bürger „wieder zu einer ‚verschmolzenen Gruppe’ zurückentwickelte, zu einer solidarischen und einstimmigen Gemeinschaft, in welcher der Eigencharakter der individuellen Persönlichkeiten ausradiert wäre“ (S. 29f.). Sein Individuum steht also jenseits der Solidarität!

 

Ob man nun ein solches Menschenbild, das auch maßgeblich auf die Dreifaltigkeitslehre Einfluss genommen haben soll (S. 31f. Fn. 32), goutiert oder nicht, rechtshistorisch bleibt die Sonderstellung des römischen Rechts nicht nur hinsichtlich der Ausbildung des Personenbegriffs fragwürdig. Jede Rechtsordnung muss zumindest einem Teil ihrer Mitglieder die volle Rechtsstellung zuerkennen. Was aber eine Gesellschaft als Essentialia des Vollrechtsstatus ansieht, das richtet sich nicht nach dem Recht selbst. Wenn also das römische Recht hoch differenziert die Scheidung von „Mein“ und „Dein“ als seinen Kern ausbildet, dann zeigt dies, dass die Wirtschaft kapitalistische Züge angenommen hatte. Dieses Recht diente Großgrundbesitzern und Handeltreibenden, die als Hausväter nicht nur über ein Heer von Sklaven, sondern auch über ihre nicht vermögensfähigen Familienmitglieder geboten. Die Minderbemittelten hingegen forderten Brot und Spiele und unterstanden der Polizeijustiz. Einen derart kapitalistisch reduzierten Personenbegriff sollte man nicht zur Wiege des Humanismus erklären.

 

Das römische Recht hat im Westen über viele Jahrhunderte hin nur begrenzt weitergewirkt. Es herrschten die Regeln der Familienverbände und der Stammesgesellschaften vor. In welchem Ausmaß es sich seit seiner Wiederentdeckung um 1100 den jeweiligen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Gegebenheiten anpassen musste, ist schwer zu sagen. Erst kürzlich formulierte ein Fachvertreter, das römische Recht sei die Nussschale des europäischen Rechts, nicht aber die Nuss selbst (Martin Josef Schermaier). Es konnte schon nicht als klassisches römisches Recht wiedergeboren werden, sondern als hoch- und spätmittelalterliches römisch-kanonisches. Zentrale Rechtsfiguren, man denke nur an das Eigentum, mussten so gedacht werden, wie die Zeit es zuließ oder forderte. Und es gab zumindest eine zeitgleiche große Parallelentwicklung in Europa, die ebenfalls zum Schutz der Person und des Eigentums führte: das angelsächsische, dann angloamerikanische Recht. Für den angelsächsischen Rechtskreis ist das römische Recht nur partiell zur „Nussschale“ geworden. So z. B. bei Bracton nach 1230: „His treatise equipped the nascent common law with the minimum theoretical structure that id needed to grow in a coherent way“ (Peter Stein). In seiner Substanz aber ist das common law ein Produkt mittelalterlich-einheimischen und ungelehrten Rechts. Nach Gerichtsverfassung, Rechtsverfahren, Institutionen und Methoden der Entscheidungsfindung geht es aus der sächsisch-fränkisch-normannischen Tradition hervor. „Bracton … adapted Roman law to quite unroman institutions, to give them greater authority“ (P. Stein; vgl. auch Wilhelm Brauneder, Deutsches Privatrecht und Common Law: Zweckidentität und institutionelle Ähnlichkeiten, in: ZNR 30, 2008, S. 177-185). Seine Verwalter wurden nicht an den Universitäten ausgebildet, die Fachsprache des Rechts war nicht das Lateinische, sondern ein spezielles Französisch. Die Anerkennung der Person und der Schutz des Eigentums entwickelten sich in der Gerichts- und Rechtspraxis des common law und durch die berühmten königlichen Privilegien. Das Recht band auch die Macht. Der unter den Stuarts aufkommende Absolutismus wurde nicht zuletzt mit den Mitteln des common law niedergekämpft. Das ist erkennbar eine andere Geschichte des europäischen Rechts, die Nemo nicht erzählt. Für mehr als die Hälfte des von ihm als „der Westen“ in Anspruch genommenen Gebietes steht „der Sockel“ (S. 26) des Rechts nicht in Rom.

 

Ähnlich überzogen und verzerrt schildert Nemo die Rolle der römischen Kirche. Zwischen den Stammesrechten und den Resten des römischen Rechts einerseits, der christlichen Moral andererseits habe „kaum eine Verbindung“ bestanden (S. 48). Dies widerspricht dem Forschungsstand. Die Ausführungen legen die unzutreffende Annahme nahe, Christentum und Recht hätten erst seit der „päpstlichen Revolution“ etwas miteinander zu tun. Die angebliche „Gleichschaltung der Kirche“ durch die von den „germanischen Kaisern“ ausgeübte Kontrolle (S. 46, 81 Fn. 72) vereinfacht in unzulässiger Weise das Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Gewalt im frühen Mittelalter. Es folgen eine entsprechend einseitige Würdigung des Dictatus Papae von 1075 (S. 46) sowie die allen historischen Erkenntnissen widerstreitende Behauptung, Papst Gregor VII. (1073-1085) habe „in einer Initiative mit unermesslichen Folgen“ in Bologna „Irnerius die erste europäische Rechtshochschule gründen“ und „neuerlich das antike Recht studieren“ lassen (S. 47, auch S. 62 Fn. 55). Üblicherweise datiert man die Gründung als eine studentengenossenschaftliche auf 1088. Des Zentralpunktes der „päpstlichen Revolution“, der Ausbildung des klassischen Kirchenrechts, wird dann in wenigen Zeilen wenig qualifiziert gedacht (S. 47f.). Auch sonst spielt das Kirchenrecht in diesem Buch eine viel zu geringe Rolle. Derartige Konstruktionen und Auslassungen dienen wohl dazu, die Renaissance des römischen Rechts als eine Veranstaltung der römischen Kirche erscheinen zu lassen, um so das zuvor als kapitalistisch und individualistisch geschilderte römische Privatrecht ethisch aufzuwerten (vgl. auch S. 64f.).

 

Eine wie ich meine unangemessene Rolle spricht Nemo der römischen Kirche auch hinsichtlich des Weges zur modernen Demokratie zu (S. 75-83). Die als Beleg fragwürdige Benediktinerregel und die Domkapitel besagen doch gar zu wenig gegenüber der fundamentalen Unterscheidung von Klerus und Laien, gegenüber der Hierarchisierung der kirchlichen Ämter, der zunehmenden Ausprägung des päpstlichen Primats und dem Unfehlbarkeitsdogma. Die konziliaristischen Theorien und vollends die evangelischen, vor allem die calvinistischen Vorstellungen von Gemeindeverfassung sind hingegen gerade Ausdruck der Verweigerung gegenüber den herrschenden Traditionen der römischen Kirche. Beiträge zur Idee des Rechtsstaates: ja, auch zur Menschwürde (die Autonomie des Menschen allerdings ist säkular), aber keine Gleichheit in herrschaftsrelevanten Zusammenhängen, kein „one man, one vote“. Da gibt es wesentlich prägendere Traditionen: (Ding-)Genossenschaften, das Lehnswesen, die bürgerliche Stadtgemeinde, Ständewesen und früher Parlamentarismus, insbesondere in England. Und was die „Entheiligung des Staates“ in Europa als „Frucht des Judäo-Christianismus“ (S. 79, 82) angeht, so hat doch wohl am nachhaltigsten die Kirche zwischen 1075 und 1303 versucht, das in der abendländischen Geschichte sicher nicht nur einmal entdeckte und gedachte „Konzept der Laizität“ zu überwinden.

 

Würzburg                                                                                           Jürgen Weitzel