Modell
und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im
Königreich Westphalen (1806-1813), hg. v. Dethlefs, Gerd/Ozwar, Armin/Weiss,
Gisela (= Forschungen zur Regionalgeschichte 56). Schöningh, Paderborn
2008. X, 539 S., Ill. graph. Darst. Besprochen von Werner Schubert.
Der vorliegende Band enthält die Ergebnisse der Tagung, die im April 2004 zum Thema „Das Königreich Westphalen und das Großherzogtum Berg – Quellen, Forschungen und Deutungen“ vom Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und vom Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte veranstaltet worden ist. Primär ging es den Veranstaltern der Tagung darum, die „Ambivalenz der Modernisierungsprozesse und die Integration der Bevölkerung in den damaligen Staaten herauszuarbeiten – und das auch unter Einbeziehung kulturhistorischer und kulturwissenschaftlicher Methoden“ (S. IX). Die Beiträge des Bandes stammen aus den Bereichen Geschichte, Volkskunde sowie Kunstgeschichte und behandeln den Umgang mit Repräsentation und Staatskult, kirchliche und religiöse Fragen, die Neuausrichtung der Gewerbepolitik sowie die Reform von Justiz und Verwaltung. R. Pöppinghege untersucht in seinem Beitrag: „Das Justizwesen im Königreich Westphalen und im Großherzogtum Berg“ (S. 285ff.) außer der Justiz im 18. Jahrhundert die Einführung des französischen Rechts, die Innovationen des Justizwesens und die Umsetzungsprobleme. Im Einzelnen hätte der primär auf Berg zentrierte Beitrag detaillierter auch noch auf die Reformen im Königreich Westphalen und auf die Folgewirkungen insbesondere im Gebiet des Großherzogtums Berg eingehen können. – B. Severin-Barboutie befasst sich mit der Rekrutierung der lokalen Amtsträger im Großherzogtum Berg nach dem Erlass der französischen Kommunalverfassung im Jahre 1807 (S. 321ff.). Der Beitrag N. P. Todorovs geht auf die zum Teil massiven Widerstände der alten Eliten im Elbe-Departement des Königreichs Westphalen ein (S. 301ff.), den die Zentralverwaltung aber weitgehend brechen konnte.
H. Stubbe da Luz spricht in seinem Beitrag von „,demokratischen’ und partizipatorischen Ansätzen im politischen System der napoleonischen Modellstaatswesen Westphalen und Berg“ (S. 33ff.), eine Feststellung, die trotz der zu Euphorie keineswegs Anlass gebenden Verfassungspolitik Frankreichs „nicht völlig übertrieben“ sein dürfte (S. 45). Wichtig erscheint, dass Stubbe da Luz auch auf Zusammenhänge mit der innerfranzösischen Verfassungsentwicklung eingeht. – P. Fleck befasst sich mit den Verfassungsplänen des nassauischen Reformbeamten Ludwig Harscher von Almendingen (S. 47ff.), dessen verfassungsrechtliche Überlegungen mit dazu geführt haben, dass Nassau bereits 1814 noch vor den süddeutschen Staaten die erste moderne konstitutionelle Verfassung erhielt (S. 59). Bei den Beiträgen von F. Dross und F.-J. Jakobi (Armenpflege im Großherzogtum Berg; Armenpflege in Münster) fehlen detailliertere Angaben über die gesetzlichen Grundlagen der Armenpflege und deren Zusammenhang mit dem französischen Recht. G. Dethlefs arbeitet unter Herausstellung der jeweiligen gesetzlichen Grundlagen für die Zeit vor und nach 1815 heraus, dass die Einführung der Gewerbefreiheit (Aufhebung der Zünfte) und der Patentsteuer in Münster (Großherzogtum Berg/später zu Frankreich gehörig) und Osnabrück (Westphalen) ohne größere Wirkung blieb. Die Beiträge J. van Nordens und A. Dylongs über die evangelische und katholische Kirche in Berg und Westphalen behandeln auch Fragen der Auflösung von Klöstern und Konventen sowie der rechtlichen Stellung der Pfarrer hinsichtlich ihrer Funktion als Personenstandsbeamte. M. Minninger stellt in ihrem Beitrag über die behördliche Umsetzung der neuen Judengesetzgebung in den westlichen Distrikten des Königreichs Westphalen (S. 337ff.) fest, dass die Realisierung absoluter Gleichstellung der Juden, wie sie von Kassel aus beabsichtigt worden sei, in den westlichen Distrikten des Königreichs vielerorts zögerlich und mit hergebrachten Vorurteilen verbunden gewesen sei. Nach dem Beitrag H. Witthöfts ist es im Großherzogtum Berg zu einem Dekret zur Übernahme eines modifizierten dezimalen Systems nicht mehr gekommen (S. 419ff.). B. Friemel stellt die Bedeutung der Residenzstadt Kassel als Zentrum deutsch-französischer Kulturbeziehungen zumindest bis 1808 heraus (Berufung Johannes von Müllers in die Regierung; Johann Friedrich Reinhardts als Theaterdirektor; Aufrechterhaltung der angesehenen Universität Göttingen). Leider geht kein Beitrag auf die in Westphalen erschienene Rechtsliteratur zum westphälisch-französischen Recht ein. Hingewiesen sei noch auf die Überblicksaufsätze A. Ozwars („Vom Topos der Fremdherrschaft zum Modernisierungsparadigma“) und H. Berdings („Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modell- und Satellitenstaat“) sowie auf die Beiträge über die Stadtplanung für Kassel, über die politische Ikonographie des Königreichs Westphalen und über den Staatskult in Berg und in Westphalen. Das Werk wird abgeschlossen mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 476-529), das weitere Impulse für die interdisziplinäre Fachdiskussion geben könnte.
Wenn sich auch ein unmittelbarer Bezug zur Rechtsgeschichte Bergs und Westphalens nur aus einigen Beiträgen ergibt, so vermitteln die Beiträge insgesamt gleichwohl dem Rechtshistoriker wichtige Anregungen zu weiterführenden rechtshistorischen Arbeiten im Bereich der Justizgeschichte und des öffentlichen Rechts. Bedeutsam erscheint, dass viele Beiträge „über eine gesamtgesellschaftliche Betrachtungsweise der anonymen Strukturen den Einzelnen in seinen lebensweltlichen Zusammenhängen“ nicht aus den Augen verlieren (S. 13). Ferner betrachten nicht wenige Beiträge die napoleonische Zeit nicht mehr isoliert, sondern gehen auch auf die Vorgeschichte ein. Immer noch werden jedoch zu pauschal die Folgewirkungen der französischen Zeit nach 1814/15 angesprochen. Von rechtshistorischer Seite fehlen bisher noch detaillierte Forschungen über das Notariat und die Rechtsanwaltschaft in Berg und Westphalen sowie über die Durchführung der neuen Justizorganisation und der Rechtspraxis hinsichtlich einzelner Gerichte und einzelner wichtiger Rechtsmaterien. Ein weiteres, wenig bearbeitetes Feld stellt das bergische und westphälische Verwaltungsrecht dar, auf das einige Beiträge des Bandes am Rande eingehen. Insgesamt gibt der Band einen guten Überblick über den Stand der Forschungen über das Großherzogtum Berg und das Königreich Westphalen, über deren Geschichte neue, die bisherigen reichhaltigen Forschungsergebnisse zusammenfassenden und weiterführenden Gesamtdarstellungen noch immer ausstehen.
Kiel |
Werner Schubert |