Meder, Stephan, Ius non scriptum - Traditionen privater Rechtssetzung. Mohr
(Siebeck), Tübingen 2008. X, 205 S. Besprochen von Theodor Bühler.
Der Titel des Werkes ist zugleich dessen roter
Faden. Dabei ist das Eigenschaftswort „privat“ nicht im engen Sinn von „privatrechtlich“
zu verstehen, sondern umfasst auch öffentlich-rechtliche Anstalten und
Korporationen. Die Untersuchung ist „romanistisch“ im Sinne der traditionellen
Einteilung der Rechtsgeschichte in eine romanistische und in eine
germanistische Abteilung. So sind die „germanischen“ Stammesrechte, die
mittelalterlichen Landfrieden, Stadtrechte, die sog. Weistümer und die sog.
Reformationen weitestgehend ausgeblendet. Der Leser hat zuweilen den Eindruck
eines Sprunges vom antiken römischen Recht zum 19.Jahrhundert. Neu ist
gegenüber der traditionellen Romanistik, dass nunmehr das antike römische
Recht, d. h. jenes der Republik im Zentrum steht, was durchaus im Trend liegt,
wie die Arbeiten von Okko Behrends zeigen.
Die Fragestellungen, die der Titel des Werkes
auslösen, erscheinen bereits in der Einleitung, so die Rechtssetzung durch
Private, das alttestamentarische und das römische Gesetzesverständnis, ein neues
Verständnis von schriftlichem und mündlichem Recht, indem Niederschriften
mündliches Recht festhalten und mündliches Recht als schriftliches Recht
erscheint, die Autonomie als Rechtsquelle, das Entstehen von nicht staatlicher Rechtssetzung
jenseits einer staatlichen Delegation, die Stellung des Gewohnheitsrechts
gegenüber dem Gesetzesrecht und schließlich die Qualifikation des Vertrages und
der Gesetzesinterpretation als Rechtsquellen.
Die Fülle der aufgeworfenen und behandelten
Themen macht eine umfassende Würdigung und Besprechung unerlässlich.
Im zweiten Kapitel befasst sich der Verfasser
mit der Einteilung des Rechtsquellen in ius scriptum und ius non
scriptum vor allem anhand des römischen und des alttestamentarischen
Rechts: „Während die Offenbarung der Zehn Gebot einen radikalen Bruch und
Neubeginn bewirkte, wollen die Zwölf Tafeln eine bislang geheim gehaltene,
schon vorhandene Rechtsordnung neu aufzeichnen“ (S. 11). Im Gegensatz zu den
Zwölftafeln, die vorbestandenes Gewohnheitsrecht verschriftlichen, bedeutet die
Offenbarung des Gesetzes am Sinai einen „revolutionären Bruch“, „einen
radikalen Neubeginn“ (S. 23), denn neu war vor allem der Befehlscharakter mit
Sanktion bei Nichtbefolgung. Der Mediävist kann anhand analoger Erkenntnissen
auf Grund der mittelalterlichen Rechtsquellen dem nur zustimmen, denn der
Vorgang hat sich bei der Rezeption des justinianischen Rechts in ähnlicher
Weise wiederholt. Die Betonung auf „justinianischem Recht“ ist deshalb
notwendig, weil die Römer das Juristenrecht, wie es vor der justinianischen
Kodifikation vorlag, als ius non scriptum betrachteten, obwohl dieses
schriftlich vorlag, weil das Juristenrecht im Unterschied zu Vertrag und Gesetz
nicht auf einem formalisierten Rechtsakt beruhte (hierzu S. 10).
Das zweite Kapitel stellt die transzendente
Autoritätsquelle der vereinbarten Rechtsquelle gegenüber. Dieser Gegensatz
werde heute überlagert durch die sog. Dekodifikation, die in Zweckprogrammen,
Zielvereinbarungen, Selbstverpflichtungen und Kollektivverträgen überlagert
würde. Dazu komme, dass der Staat heute nicht mehr durch einseitige Gesetze
zwingen könne, sondern mit bestimmten Gruppen neue, speziell auf ihre
Bedürfnisse zugeschnittenen Regeln aushandeln müsse.
Die Folge sei, dass Kooperation, Bündnis und Vertrag an die Stelle von Befehl
und Gebot getreten seien. Letzteres galt allerdings schon zu Ciceros Zeiten.
Ohne an die römische Republik anzuknüpfen, war
dies das ganze Mittelalter zum Teil bis ins 16. Jahrhundert der Fall,
ausgenommen der kirchliche Bereich, wo die päpstliche oder die konziliare
Autorität maßgebend war. Diese Ausnahme war aber nur möglich, weil die
Geistlichkeit die Schrift beherrschte und auch in der Lage war, mit diesem
Medium zu kommunizieren.
Neu ist die Auslegung der Zwölf Tafeln als
Ostentation herkömmlichen Rechts und nicht als von den Griechen übernommenes
Recht, wie es die Legende suggeriert.
Der Gegensatz zwischen Gesetzgebung von oben
nach unten und Gesetzgebung von unten nach oben deckt sich in keiner Weise mit
dem Gegensatz zwischen „ius scriptum“ und „ius non scriptum“.
Neuere Arbeiten zeigen vielmehr, dass bis zum 15. Jahrhundert „Befehle“ von
oben auch mündlich erteilt worden sind. Auch halte ich die Qualifikation „ius
non scriptum“ für Gewohnheitsrecht im Einklang mit dem Verfasser für
ungeeignet, denn – und dies zeigt die heutige Geschichtsforschung mehr und mehr
(zuletzt Peter Brun, Schrift und Politisches Handeln, eine „zugeschriebene
Geschichte des Aargaus 1415-1425“, Zürich 2006) , dass
die Schrift bis zum 15.Jahrhundert ein Kommunikationsmittel wie jedes andere
war.
Insofern kann ich dem Verfasser nicht folgen,
wenn er auf S. 26 schreibt: „dass es bis heute keine historische Quellenkunde
und Methodologie der Geschichte oder Rechtsgeschichte gebe“. Im Rahmen eines
Projektes, das vom Schweizerischen Nationalfonds getragen wird, sind unter der
Leitung von Roger Sablonier neuere Arbeiten erschienen, die nicht nur neue
Erkenntnisse in Bezug auf den Übergang von der Oralität zur Schriftlichkeit im
Spätmittelalter bringen, sondern auch an die Interpretation der damaligen
schriftlichen Quellen neue Anforderungen stellen, die zwar bereits schon
wahrgenommen, aber nicht ausgeschöpft worden sind. Dem genannten Projekt gingen
das Projekt der Sonderforschungsbereich 231 „Träger, Felder, Formen
pragmatischer Schriftlichkeit“ an der Universität Münster in Westfalen und jenes
über das Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit an der Universität
Freiburg im Breisgau voraus (vgl hierzu. Brun S. 26) Namentlich die Arbeit Peter
Bruns zeigt auf, dass selbst in den hohen Sphären des deutschen Kaisers und
seiner Fürsten das Ritual wichtiger war als eine Urkunde, so bei der Lösung
Erzherzog Friedrichs IV von Österreich vom ihm von Kaiser Sigmund auferlegten
Bann (Brun S. 167ff.). Indem sie sich nicht damit begnügt, wie der Verfasser (S. .27ff.) und sein Rezensent (erstmals in Forschungen zur
Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde 1982 S. 79ff.) eine Liste der
Kommunikationsmittel in einer oralen Welt aufzuzählen, sondern das Verhältnis
unter ihnen zu untersuchen, ist die Geschichtswissenschaft weiter gekommen als
die Rechtsgeschichte.
Immerhin hebt der Verfasser die Bedeutung des
Rituals im altrömischen Recht hervor (S. 28). Dabei hätte das Rechtsgeschäft per
aes et libram (S. 30) die Romanisten schon längst
auf die Sprünge helfen sollen. Es ist daher das Verdienst des Verfassers, auf
die Ernsthaftigkeit dieser Zusammenhänge zu verweisen. Allerdings ist damit das
Thema in keiner Weise erschöpft.
Nun versucht der Verfasser zwischen diesen
Erkenntnissen und einer angeblichen neuen Oralität (im Sinn von nicht
staatlichem Recht) eine Brücke zu schlagen. Dazu dient ihm der Begriff der
„Autonomie“, die er somit als Rechtsquelle betrachtet, wobei Autonomie nicht
mit Privatautonomie verwechselt werden darf. Dies führt nun zum Problemkomplex
der Rechtssetzung durch Private, die eine solche Autonomie voraussetzt. Unter
Verweis auf die gesamte diesbezügliche juristische Literatur namentlich des
19.Jahrhunderts unterscheidet der Verfasser streng zwischen Autonomie und Privatautonomie
(„Automonie versus Privatautonomie“).
Rechtssetzung durch Private ist eine alte
Erkenntnis und war bereits 1933 Gegenstand der Antrittsvorlesung von Hans
Grossmann-Doerth in Freiburg im Breisgau. Herausragende Modelle von
Rechtsetzung durch Private sind die Incoterms und die Einheitlichen Richtlinien
und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive (abgekürzt ERA) der Internationalen
Handelskammer sowie die technische Normung. Sie gehen zum Teil auf die erste
Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Die ERA sind denn auch regelmäßig
Gegenstand von Gerichtsurteilen (so zum Beispiel das Schweizerische
Bundesgericht in BGE 130 III S. 467f.). Die Problematik hat auf dem Niveau der
Europäischen Gemeinschaft (EG) eine besondere Resonanz gefunden, nachdem die EG-Organe
bei der technischen Normung beschlossen hatten, nur noch Rahmenrichtlinien zu
erlassen, die Detailregelungen aber den privaten europäischen technischen
Normungsverbänden zu überlassen. Eine Zürcher Doktorandin hat unter dem Titel
„Rechtsetzung durch Private“ diesbezüglich Pionierarbeit geleistet (Ursula
Brunner, Rechtsetzung durch Private, 1982, Zürcher Beiträge zum öffentlichen
Recht 33).
Die europäische private Rechtsetzung auf dem
Gebiet der technischen Normung besteht ausdrücklich auf Delegation der
EG-Behörden, deshalb wird hierfür auch der Begriff „ausgelagertes Recht“
verwendet, während die Rechtsetzung durch die Internationale Handelskammer aus
eigener Initiative und im Rahmen ihrer Autonomie erfolgt ist. Wenn man also von
privater Rechtsetzung spricht, so ist jeweils zwischen abgeleiteter oder
delegierter Autonomie im Sinne von Privatautonomie oder autonomer Rechtsetzung
zu unterscheiden.
Während die delegierte autonome Rechtssetzung
durch die Delegation legitimiert werden kann, bleibt die Frage der Legitimation
bei der reinen autonomen Rechtsetzung offen. Aber auch diese kann nicht im
rechtsleeren Raum wirken. Entweder sie beruht auf Vereinbarung oder auf
Gewohnheitsrecht. Die Legitimation der Rechtsetzung durch Vereinbarung wurde am
schärfsten durch Jean Jacques Rousseau in seiner Theorie des „Contrat social“
formuliert. Daraus folgert, dass auch die Vereinbarung als Rechtsquelle
betrachtet werden muss, was sich anhand des Völkerrechts am treffendsten zeigen
lässt.
Die Pluralität der Rechtsquellen im Mittelalter
war nicht zwingend an ein bestimmtes Territorium oder an die Ausübung einer
bestimmten Macht gebunden. Dies änderte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts,
indem immer mehr der Absolutismus die Autonomie verdrängte (S. 56ff.). Über die
Entstehung des Rechts bestand im 19. Jahrhundert Streit zwischen Gerber und
Laband einerseits, welche diese Entstehung an die Willensmacht des
Rechtssubjektes Staat anknüpften und Otto von Gierke, der diese Entstehung an
den Volksgeist band. Der Streit dreht sich somit um die Frage: Ob der Staat
immer Ursprung des Rechts ist, indem das Gewohnheitsrecht erst dann Recht wird,
wenn es vom Staat bestätigt wird. Die Frage, mit der sich der Verfasser nun
befassen will, ist, ob die Autonomie eine Rechtsentstehungsquelle ist oder in
anderen Worten, ob neben dem staatlichen Recht Raum besteht für autonomes
Recht. Die meisten Romanisten – nicht anders aber die Germanisten – würden in
der Autonomie eine selbständige Rechtsquelle erblicken (S. 67). Dabei wird die
Autonomie – in der besprochenen Abhandlung und bei den vom Verfasser
angeführten Autoren – mit dem Gewohnheitsrecht gleichgesetzt. Sie setzen somit
voraus, dass Gewohnheitsrecht nur im autonomen Bereich entstehen könne, was
aber – wie die mittelalterliche Rechtsentwicklung zeigt, wo jeweils des
Gewohnheitsrecht später kodifiziert worden ist, nicht zutrifft, da damit
nämlich auch staatliches Gewohnheitsrecht beispielsweise in der Form von
mündlichen Befehlen des Kaisers nachträglich verurkundet wurde. Insofern lagen
Savigny und Puchta richtig, als sie erkannten, dass Autonomie und
Gewohnheitsrecht nicht deckungsgleich sind (S. 70).
Durch die generalisierenden Tendenzen der
heutigen Gesetzgebung, die sich immer mehr mit Prinzipien behilft, verwischt
sich der Unterschied zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung immer mehr (S. 142).
Aber schon Pomponius hatte die Rechtsanwendung durch die Juristen als
Rechtsquelle anerkannt (D 1, 2, 2, 12).
Der Verfasser schließt sich zu recht der immer noch gültigen Auslegungslehre Savignys an.
Diese fordert nichts anderes, als dass, bevor eine Rechtsnorm überhaupt
ausgelegt wird, sie zuerst verstanden werden muss, was dazu führt, dass die
Norm historisch in ihrem Kontext aber auch philologisch zu analysieren ist, um
genau das zu erfassen, was der Gesetzgeber mit dem Erlass dieser Norm
beabsichtigt hatte. Erst, wenn diese Vorarbeit geleistet worden ist, kann mit
der eigentlichen Anwendung begonnen werden, die darin besteht, die Norm in die
zeitgemäße Rechtsordnung und Umwelt einzupassen. Das heißt, es ist zunächst die
Brücke zwischen dem Verständnis des historischen Textes und der Gegenwart zu
schlagen, indem alle Präjudizien, die den Text weiterentwickelt haben,
mitberücksichtigt werden. Um diese Entwicklung zu verfolgen, muss unbestreitbar
die historische Methode angewendet werden. Diese ist allein geeignet, zu
verhindern, dass eine Norm auf Grund einer willkürlichen Grundlage ausgelegt
wird. Savigny ist in der Tat als Rechtshistoriker, der sich auf das vergangene
Recht konzentrierte, missverstanden worden. In Wirklichkeit hat er die
Kodifikation vor allem deshalb bekämpft, weil er in ihr die Gefahr einer
Rechtserstarrung sah. Die seitherige Rechtsentwicklung hat ihm trotz
Kodifikationen nicht recht gegeben. Die Rechtsfortbildung wurde nicht gehemmt,
sie wurde aber – und dies entgegen Savigny – nicht vornehmlich durch die
Juristen sondern durch die Gerichte und vor allem die Höchstgerichte
vorangetrieben. Bei einer Durchsicht der publizierten Entscheide des
Schweizerischen Bundesgerichtes der letzten Jahre, kann man feststellen, wie
intensiv dieses Gericht Gesetzesgeschichte betreibt, bevor es zur Auslegung
schreitet, ein Vorgehen, das erstaunlicherweise bisher kaum zur Kenntnis
genommen wurde.
Der Verfasser hat eine Überfülle von grundsätzlichen
Fragen angepackt. Er hat auch zahlreiche Tabous gebrochen, was der
Rechtsgeschichte nur gut tun kann. Es ist zu hoffen, dass seine vielfältigen
Anregungen von der weiteren Forschung ernst genommen und vertieft werden.
Winterthur Theodor
Bühler