Marquardt, Bernd, Umwelt und Recht in Mitteleuropa. Von den großen Rodungen des Hochmittelalters bis ins 21. Jahrhundert (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 51). Schulthess, Zürich 2003. XVIII, 712 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die gewichtige, mit der Ansicht einer von Wald umgebenen, Rauchwolken gen Himmel sendenden bäuerlichen Kleinsiedlung der Vergangenheit geschmückte Arbeit des 1966 in Minden geborenen, derzeit wohl in Bogotá tätigen Verfassers ist seine von Karl H. Burmeister betreute, zum 1. April 2003 von der rechtswissenschaftlichen Abteilung der Universität Sankt Gallen angenommene Habilitationsschrift. Sie befasst sich mit einem besonders für die Gegenwart offensichtlich sehr wichtigen Thema. Da sie von einem inzwischen verstorbenen Rechtshistoriker an einen seine Zusage nicht einhaltenden Umweltrechtskenner weitergegeben wurde, muss der Herausgeber sie wenigstens mit einigen Sätzen anzeigen.
Dem Verfasser geht es nach seinen eigenen Worten um eine Reise von einem Jahrtausend von den großen Rodungen am Beginn des Hochmittelalters bis zum berüchtigten Treibhauseffekt der Gegenwart, der möglicherweise das gesamte Leben auf der Erde bedroht. Sein Interesse stammt aus den Göttinger Studientagen, in denen er die - auch abgebildeten - Kirchenruinen untergegangener Dörfer in den weiten südniedersächsischen Wäldern aufspürte. Es hat ihn auf seinen weiten Reisen durch Raum und Zeit bis in den Himalaja und nach Äthiopien begleitet.
Gegliedert ist die beeindruckende, auf stattlicher Literaturgrundlage ruhende Frucht dieses tiefgreifenden Interesses in drei Teile, von denen die beiden ersten Teile die Resultate eines dreijährigen Projekts des schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung „Rechtsgeschichte des mitteleuropäischen Umweltrechts des 14. bis 19. Jahrhunderts“ sind. Sie betreffen einerseits die Zeit zwischen 950 und 1800 und andererseits die Zeit zwischen 1800 und 1950. Der dritte Teil behandelt die „Post-1950er Jahre“.
Im ersten Teil über das Umweltrecht in der solarenergetisch-agrarhochkulturellen Epoche Europas beschreibt der Verfasser zunächst Forschungsproblem, Quellenlage und theoretischen Ansatz, der sowohl umwelthistorisch (Energiesystemansatz) wie auch rechtshistorisch (vernetzte lokale Herrschaften statt homogener Territorialstaaten) akzentuiert ist. Danach wendet er sich der Phase der nachholenden Hochkulturalisierung des nordalpinen Europa und seiner Kollision mit den ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen (950-1350) zu, in der das große Dörfersterben stattfindet, an das Exkurse an Euphrat, Indus, Nil, die antike Mittelmeerküsten-Hochkultur, zu Mayas und Khmer, nach Grönland und zu den Osterinseln angeschlossen werden. Es folgen die umweltrechtlichen Regelungssysteme in der Epoche der entwickelten agrarischen Hochkultur (1350-1800), die nach lokalen Herrschaften, Industrieforstbezirken , agrarkulturellen Städten und überlokalen Herrschaftsebenen gegliedert werden, ehe das Ende der agrarischen Hochkultur und ihres Umweltrechts behandelt wird.
Im zweiten Teil untersucht der Verfasser das Zeitalter der großen Transformation weg von der agrarischen Hochkultur im langen Jahrhundert des fossilen Energiesystems der Steinkohle (1800-1950). Auch hier stehen Forschungsproblem, Quellenlage und theoretischer Ansatz am Beginn, wobei für die Sachbehandlung vom Nullpunkt der Umweltrechtsgeschichte ausgegangen wird. Kern der Überlegungen ist die defensive Wiederentdeckung der Idee des Umweltschutzrechts, die vom waldbezogenen Umweltrecht, dem sonstigen Schutzrecht bodengebundener Ökosysteme und dem industrialisierungsbezogenen Umweltrecht bis zum Umweltschutzrecht im totalitären Staat des „dritten Reiches“ verfolgt wird.
Die Post-1950er Jahre verbindet der Verfasser mit der zweiten fossilenergetischen Revolution, der Konsumrevolution und der globalen Stromrevolution. Seit 1970 erkennt er die Renaissance des Umweltschutzrechts. Dafür betrachtet er die Umweltbewegung, den Übergang vom Naturschutzrecht über das Umweltschutzrecht zum Nachhaltigkeitsprinzip, das Umweltrecht als Parallelphänomen der europäischen Welt, die umweltrechtliche Herausforderung an den liberalen Rechtsstaat und das Stufensystem der Herrschaftsebenen (gliedstaatliches, bundesstaatliches, europäisches und globales Umweltschutzrecht).
Danach verfolgt er genauer die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland (Abfallbeseitigungsgesetz 1972, Chemikalienrecht 1972/1980, Luftreinhaltung 1974, Gewässerschutzrecht 1975/1976, Waldschutz- und Naturschutzrecht 1975/1976, Stagnation 1977-1986/1989, Integration in das Verfassungsrecht 1990-1997, Umweltverträglichkeitsprüfung 1990, Gentechnikgesetz 1990, Tiere sind keine Sachen 1990, Umwelthaftung 1990, Öko-Audit 1993/1995, Verbandsklage, Kreislaufwirtschaft 1991/1994, ökologischer Landbau 1991, Beschleunigungsgesetze 1991/1996, Umweltinformationsgesetz 1994, nachhaltigkeitsorientierte Reform im Raumordnungs- und Baurecht 1997, Bundesbodenschutzgesetz 1998, nachhaltigkeitsorientierte Reform des Energierechts 1998-2002 sowie unvollendetes Kodifikationsprojekt). Etwas kürzer fasst er die Umweltrechtsentwicklung in Österreich zusammen (Immissionsschutzrecht ab 1973, Forst- und Naturschutzrecht 1975/1976, Atomsperrgesetz 1978, Umwelt-Verfassungsrecht 1984, Abfallwirtschaftsgesetz 1990, Gewässerschutzrecht 1990, als Mitglied der Europäischen Union 1995 Übernahme des europäischen Umweltrechts, Problem des alpenquerenden Verkehrs, Nachhaltigkeit und Schutz der Erdatmosphäre), wobei er insgesamt einen Wechsel von der umweltrechtspolitischen Aktivität zur Passivität feststellt. Geringfügig besser beurteilt er die Entwicklung in der Schweiz (Natur- und Heimatschutzgesetz 1966, Umweltschutz als Staatsziel 1971, Gewässerschutzgesetz 1971, Raumplanungsgesetz 1979, Umweltschutzgesetz 1983, Waldgesetz 1991, Alpenschutzartikel 1994, Revision des Umweltschutzgesetzes 1995, Landwirtschaftsgesetz 1998, Bundesverfassung vom 18. April 1999 und Nachhaltigkeitsprinzip, globaler Klimaschutz und nationales Kohledioxidgesetz 1999 sowie Annäherungen an eine nachhaltigkeitsorientierte Reform des Energierechts).
Am Ende bietet er eine Standortbestimmung und im Epilog Überlegungen zur Zukunft des ökologischen Verfassungsstaates. Danach ist ihm in Wiederholung der Abbildung eines sehr alten Baumes trotz vieler offener Fragen deutlich geworden, dass zu Umweltfatalismus kein Grund bestehe. Nicht-Nachhaltigkeit liege weder in der Natur der Dinge noch in der Natur des Menschen, sondern sei nur ein nicht allzu altes kulturelles Arrangement, gegenüber dem die Entwicklung zum ökologischen Verfassungsstaat bereits begonnen habe - wenn auch, so wird man angesichts der einfallsreichen, weitgespannten und vielseitigen Arbeit hinzufügen dürfen, die daraus erwachsenen Früchte noch der Vermehrung bedürfen.
Innsbruck Gerhard Köbler