Machtstrukturen im Staat in Deutschland und Frankreich - Les structures de pouvoir dans l’État en France et en Allemagne, hg. v. Frisch, Stefan/Gauzy, Florence/Metzger, Chantal (= Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees 1). Steiner, Stuttgart 2007. 188 S., 12 Abb. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das deutsch-französische Historikerkomitee vereinigt als wissenschaftliche Gesellschaft französische und deutsche Historiker, die über die Geschichte des jeweils anderen Landes und über die deutsch-französischen Beziehungen in den letzten beiden Jahrhunderten arbeiten. Der vorliegende Band enthält die komparativ angelegten Beiträge, die auf dem Kolloquium des Historikerkomitees im Jahre 2000 zur Diskussion gestellt worden sind. Die Thematik „Machtstrukturen bzw. Machtapparate“ im Staat vom beginnenden 19. Jahrhundert an betrifft „die Frage nach der Entstehung der Macht im modernen Staat, nach ihrer umstrittenen Ausübung in Zeiten zunehmender Parlamentarisierung, nach den wechselnden Akteuren in Politik, Militär, Wirtschaft und Gesellschaft und bei alledem auch nach Kontinuitäten und Brüchen“ (S. 7f.). Diese Thematik ist auch für die Geschichte des Verfassungsrechts, die neben den Normen der Verfassung auch immer die Verfassungswirklichkeit im Blickfeld hat, von erheblicher Bedeutung. Der erste Themenblock befasst sich mit dem Parlament seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. H. Best berichtet über die Zusammensetzung der französischen und deutschen Parlamente zwischen 1848 und 2003 (Anteile der Vertreter aus dem Agrarsektor, mit Adelstitel, aus dem öffentlichen Dienst, aus dem Bildungsbereich [Lehrer], der Anwaltschaft usw.; S. 13ff.). Th. Raithel befasst sich mit dem preußischen Verfassungskonflikt von 1862-1866 und der französischen Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentsgeschichte (S. 29ff.). Trotz des ähnlichen Ausgangspunkts (Konflikt zwischen Monarchen/Regierung und Parlament in Preußen, Konflikt zwischen dem Staatspräsidenten/der Regierung und dem Parlament in Frankreich) waren die Ergebnisse sehr unterschiedlich. In Frankreich führte die Krise zu einem Ausbau der regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer, in Preußen blieb der konstitutionelle Gesetzgebungsdualismus und die bestehende monarchische Prärogative bestehen. Die starke Stellung des député-maire, d. h. des Bürgermeisters, der gleichzeitig Parlamentsabgeordneter ist, im französischen parlamentarischen System ist Gegenstand des Beitrags von J. Philippon (S. 61ff.). Mit den Mandatsträgern (Reichstag, Landesausschuss und Landtag) in Lothringen zwischen 1871 und 1918 beschäftigt sich Fr. Roth (S. 51ff.). Der zweite Themenblock betrifft die Zentren der real ausgeübten Macht. M. Kirsch trifft hinsichtlich der Funktion des Monarchen im Verfassungsstaat des 19. Jahrunderts (S. 81ff.) drei Unterscheidungen: die nationale Integrationsfunktion, die Rolle des politischen „Vermittlers“ und die (teilweise) desintegrierend wirkende Aufgabe eines „Bollwerks“ (S. 88). Am Ende der Funktionalisierung des Monarchen stand nach Kirsch „der politisch entmachtete König, der Präsident und der Diktator“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 97). Für das Ministerialkabinett (cabinet ministériel) des französischen Regierungssystems, das diesem ein großes Maß an Professionalität und Durchsetzungskraft sichert, gibt es – so Heinen (S. 117ff.) – auf deutscher Seite kein Äquivalent. Der dritte Themenblock betrifft die politischen Parteien und Interessengruppen. Ph. Alexandre vergleicht die deutschen Linksliberalen mit den französischen Radikalen zwischen 1866/68 und 1914. Trotz großer Ähnlichkeiten im Programm hielten sie untereinander kaum Verbindung (S. 127ff.). P. Grupp befasst sich mit der französischen und deutschen Koloniallobby in der Zeit bis 1914; die Kolonialbewegung während der 30er Jahre (bes. in der NS-Zeit) wurde nicht mehr berücksichtigt. S. Lefevre-Dalbin geht dem Einfluss deutscher und französischer Industrieller auf die Begründung und Ausformung des gemeinsamen Marktes zwischen 1956 und 1966, insbesondere dem Einfluss auf die Römischen Verträge nach (S. 163ff.). J.-Fr. Eck endlich schildert das Schicksal der deutsch-französischen Handelskammer in der 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (S. 173ff.).

 

Die Beiträge des Bandes vermitteln insgesamt einen Einblick in wichtige Bereiche der Praxis des Verfassungsrechts Frankreichs und Deutschlands. Die vergleichende Perspektive ermöglicht es, die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten der verfassungsrechtlichen Entwicklung herauszuarbeiten. Nicht wenige der sog. deutschen Sonderentwicklungen auf dem Gebiete des Verfassungsrechts werden auf diese Weise relativiert, zumal die Autoren neben der deutschen und französischen Entwicklung grundsätzlich immer auch die gesamteuropäische Perspektive in ihre Untersuchungen einbeziehen. Alles in allem liegt mit dem vorliegenden Band ein wichtiger Beitrag zur vergleichenden Verfassungsgeschichte vor, dessen Lektüre auch für den Rechtshistoriker lohnend sein dürfte.

 

Kiel

Werner Schubert