Lutze, Nora, Der Verwandtenunterhalt nach den §§ 1601 bis 1603 und §§ 1610 bis 1612 BGB in der Rechtsprechung des Reichsgerichts (= Rechtshistorische Reihe 351). Lang, Frankfurt am Main 2007. 300 S. Besprochen von Reinhard Schartl.

 

Die von Werner Schubert betreute Kieler Dissertation liefert einen weiteren Beitrag zur Aufarbeitung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung. Das Thema wurde zwar schon in früheren Arbeiten, insbesondere in Kommentaren und Lehrbüchern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgehandelt. Jedoch nimmt sich Lutze der Rechtsprechungsanalyse erheblich ausführlicher an als alle Vorautoren. So stellt die neunte, 1944 erschienene Auflage des Kommentars der Reichsgerichtsräte zum Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Judikatur des obersten Gerichts nur auf etwa einem Sechstel des Umfangs der zu besprechenden Untersuchung dar. Die Autorin wertet 86 Entscheidungen des Reichsgerichts aus, wobei der Schwerpunkt mit 77 Entscheidungen in den Jahren 1900 bis 1923 liegt. Wegen der Reform des Gerichtsverfassungsrechts von 1921, welche die Zuständigkeit für alle Unterhaltsklagen ohne Rücksicht auf den Streitwert den Amtsgerichten übertrug, war das Reichsgericht im anschließenden Zeitraum nur noch selten mit Fragen des Verwandtenunterhalts befasst.

 

Die in drei Kapitel gegliederte Arbeit behandelt zunächst das Unterhaltsrecht unter Verwandten im gemeinen Recht, im preußischen Allgemeinen Landrecht, im Code Civil sowie im sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch. Dabei zeigt die Verfasserin, dass die drei Grundvoraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs, nämlich Verwandtschaft, Bedürftigkeit des Anspruchsstellers und Leistungsfähigkeit des in Anspruch Genommenen in allen diesen Rechten grundsätzlich gleichartig geregelt waren. Unterhaltspflichten bestanden unter Verwandten in gerader Linie, die das Allgemeine Landrecht allerdings auf Geschwister und der Code Civil auf die Schwiegertochter ausdehnten. Insbesondere traf beispielsweise überall die Eltern eine gesteigerte Unterhaltspflicht gegenüber den noch unter väterlicher Gewalt stehenden Kindern, indem etwa der Stamm des Kindesvermögens zur Bestreitung des Unterhalts nicht angegriffen werden durfte. Bei der Art der Unterhaltsgewährung sah nur der Code Civil grundsätzlich einen Anspruch auf Barunterhalt vor, während die übrigen Rechte noch die Leistung von Naturalunterhalt zumindest gleichrangig neben die Geldzahlung stellten.

 

Anschließend referiert die Verfasserin die Entstehung der Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Verwandtenunterhalt. Von der 1. Kommission wurde Gottlieb Planck mit der Erarbeitung des Teilentwurfs Familienrecht betraut. Er behandelte den Verwandtenunterhalt in den §§ 289 bis 291 und 297 bis 301. In den Beratungen der 1. Kommission wurde Plancks Entwurf dahin geändert, dass auch Geschwister zur Entlastung der öffentlichen Armenpflege einander unterhaltspflichtig sein sollten. Ferner entschärfte die 1. Kommission die Verwirkungsfolge bei unwürdigem Verhalten des Unterhaltsberechtigten insofern, als der Unterhaltsanspruch nicht vollends entfiel, sondern auf den notdürftigen Unterhalts beschränkt wurde. Lutze schildert anschließend die Kritik aus der Wissenschaft am ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches, die sich jedoch nur am Rande mit dem Unterhaltsrecht der Verwandten befasste. So widersprachen der Rechtsanwalt Paul Klöppel und der Romanist und Geheime Justizrat August Ubbelohde einer Unterhaltspflicht unter Geschwistern mit Hinweis darauf, dass den Geschwistern im Gegenzug dann auch ein Pflichtteilsrecht zugebilligt werden müsste. Die Verfasserin hält diese Kritik für begründet und die 2. Kommission strich die Heranziehung der Geschwister wieder.

 

Im Hauptteil ihrer Arbeit geht Lutze auf die reichsgerichtliche Rechtsprechung zu den einzelnen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Unterhaltspflicht ein. Im Reichsgericht war in erster Linie der IV. Zivilsenat für unterhaltsrechtliche Sachen zuständig. Zur Frage der Unterhaltspflicht entschied das Reichsgericht bereits im Jahre 1900, dass ein vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs ergangenes rechtskräftiges Urteil, das die Unterhaltspflicht eines Bruders gegenüber seiner Schwester ausgesprochen hatte, nach dem 1. 1. 1900 keine Wirkung mehr hatte. Zu der die Bedürftigkeit ausschließenden Erwerbsobliegenheit hatte sich das Reichsgericht mehrfach mit der Frage zu befassen, inwiefern dem Unterhaltsgläubiger eine Berufstätigkeit zuzumuten war. Das Gericht lehnte es ab, Töchter wohlhabender Väter auf eine Berufstätigkeit zu verweisen, so im Jahre 1901 mit der Begründung, die Tochter habe keine Vorbildung erhalten, eine Stellung als Erzieherin sei ausgeschlossen und als Gesellschafterin fehle es ihr an Bildung, Selbstbeherrschung und Sittlichkeit. In einem 1937 entschiedenen Fall vertrat das Reichsgericht die Ansicht, der 28 Jahre alten Tochter des Unterhaltsverpflichteten sei es nicht mehr zuzumuten, eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren, was die Verfasserin nicht ganz zutreffend dahin interpretiert, das Reichsgericht wolle der Gläubigerin in diesem Alter keine Erwerbstätigkeit mehr zumuten. Zusätzlich verwies der Senat in dieser Sache darauf, es sei nach „der heutigen Anschauung (…) nicht unbedingt geboten, dass Töchter bemittelter Eltern einen Beruf ausüben und dadurch vielleicht bedürftigere Personen, wie etwa Familienväter, vom Arbeitsmarkt verdrängen“. Hier rekurrierte das Gericht in einer der wenigen Entscheidungen aus der Zeit des Dritten Reiches deutlich auf das nationalsozialistische Gesellschaftsbild, wonach der Ehemann durch Arbeit den Familienunterhalt verdiente, während der Ehefrau die Haushaltsführung und Kindererziehung oblag. Insofern trifft es allenfalls eingeschränkt zu, wenn Lutze in einer Würdigung rekapituliert, dass der Nationalsozialismus im Rahmen der Rechtsprechung zur Bedürftigkeit ohne erkennbaren Einfluss geblieben sei. Im Unterschied zur Behandlung von Kindern wohlhabender Eltern mutete das Reichsgericht den Kindern eines Kleinbauern zu, sich ihren Unterhalt als Dienstmädchen oder Knecht zu verdienen. In der vorerwähnten Entscheidung von 1937 wies das Reichsgericht am Rande auch auf das Arbeitsmarktrisiko als Argument gegen die Obliegenheit zur Aufnahme einer Berufstätigkeit hin. Bei der umgekehrten Konstellation der Erwerbsobliegenheit zur Herbeiführung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners berücksichtigte das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1931 gleichfalls die schlechte Lage am Arbeitsmarkt. Zu dem gemäß § 1610 Abs. 1 an der gesamten Lebensstellung zu bemessenden Unterhalt hatte das Reichsgericht im Jahre 1907 auf die Klage einer Tochter gegen ihren Vater zu befinden. Die Tochter war heimlich aus dem Elternhaus ausgezogen und lebte seit mehr als sieben Jahren in einem eigenen Haushalt. Der Senat entschied im Gegensatz zur Vorinstanz, dass für die Unterhaltsbemessung nicht mehr die Zugehörigkeit der elterlichen Familie „zu den ersten Gesellschaftskreisen“ maßgeblich sei, da die Klägerin mit ihrem heimlichen Auszug ihre bisherigen Gesellschaftskreise verlassen habe. Diese Entscheidung steht in einem gewissen, von der Verfasserin allerdings nicht herausgestellten Widerspruch zu späterer Rechtsprechung des Reichsgerichts, der zufolge bei der Bemessung des standesgemäßen Unterhalts einer seit Jahren verheirateten Tochter die gesellschaftliche Stellung und die Vermögensverhältnisse der Eltern zu berücksichtigen seien. Der Widerspruch lässt sich nur so auflösen, dass das Reichsgericht einen fortwirkenden Einfluss der Eltern und Großeltern auf die Stellung des Unterhalt begehrenden Kindes zugrunde legte, woran es im erstgenannten Fall möglicherweise fehlte. Zum Lebensbedarf minderjähriger Kinder (§ 1610 Abs. 2), die nach der Scheidung ihrer Eltern bei der sorgeberechtigten Mutter lebten, rechnete das Reichsgericht, wie Lutze deutlicher herausarbeitet, auch die erforderlichen Mittel zum Unterhalt der Mutter, damit diese die Kinder betreuen könne. Den Einwand des Vaters, dass die Mutter auf diesem Umweg selbst Unterhalt erlange, ließ das Reichsgericht nicht gelten. Beispielhaft ist ferner zu erwähnen, dass das Gericht 1944 zum Unterhalt von Kindern mit besonderer musischer Begabung auch die Kosten für Musikunterricht, Musikalien und selbst für Besuche von Lichtbildaufführungen zählte. Im Übrigen meinte es, das Maß des Unterhalts sei in den herrschenden Kriegszeiten grundsätzlich nach den Verhältnissen der Familie zu „normalen Zeiten“ zu bestimmen. Einen Grund für die Beschränkung auf den notdürftigen Unterhalt (§ 1611 Abs. 2) sah das Reichsgericht im Jahre 1910 darin, dass der gegen seinen Vater klagende Sohn ein Verhältnis mit einer schlecht beleumundeten Frau eingegangen war – vom  Senat als „unsittlich“ qualifiziert – und deshalb seine Offizierslaufbahn beenden musste. Hinsichtlich des Bestimmungsrechts des Unterhaltsverpflichteten gemäß § 1612 Abs. 1 Satz 2 hielt das Reichsgericht die Bestimmung des geschiedenen Vaters für unwirksam, seinen bei ihrer Mutter lebenden Kindern Unterhalt in Natur durch das Angebot zu gewähren, bei ihm wohnen. Eine solche Bestimmung der Art der Unterhaltsgewährung sei für die Kinder nicht ausführbar. Im Verhältnis zwischen dem Aufenthaltsbestimmungsrecht des einen und dem Unterhaltsbestimmungsrecht des anderen Elternteils sah das Reichsgericht einen Vorrang der Aufenthaltsbestimmung. Merkwürdig berührt im Hinblick auf den standesgemäßen Unterhalt eine Entscheidung des IV. Zivilsenat aus dem Jahre 1910: Ein auf eine Unterhaltsrente klagender Sohn konnte aus gesundheitlichen Gründen seinen Beruf als Apotheker nicht ausüben. Sein Vater bot als Art der Unterhaltsgewährung dem Sohn die Unterbringung im Armenhaus gegen Übernahme des Pflegegeldes an. Dies billigte das Reichsgericht.

 

Im dritten Kapitel ergänzt die Verfasserin ihren Untersuchungsgegenstand, indem sie auf wichtige Aspekte der Unterhaltsrechtsprechung des Bundesgerichtshofes eingeht. Auch hier war wiederholt über das Bestimmungsrecht der in Anspruch genommenen Eltern gegenüber der volljährigen Tochter zu entscheiden. Das Revisionsgericht stellte sich dabei auf die Seite der Eltern, weil es der Zweck des Bestimmungsrechts sei, den Eltern einen weitergehenden Einfluss auf die Lebensführung des Kindes zu verschaffen, als dies durch Barunterhalt möglich sei.

 

In einer abschließenden Zusammenfassung würdigt Lutze die Rechtsprechung des Reichsgerichts mit Recht als für den Unterhaltsberechtigten günstig. Das Gericht habe eine soziale Linie zugunsten schwächerer Menschen verfolgt und sich um einen Ausgleich zwischen Wohlhabenderen und Ärmeren bemüht. Es habe aber Kinder günstiger gestellt als die Eltern, was allerdings durch § 1603 Abs. 2 vorgegeben war. Für den Leser sehr hilfreich fügt die Autorin als Anhang eine Synopse der Gesetzesfassungen vom Planckschen Teilentwurf bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch und eine Zusammenstellung aller Reichsgerichtsentscheidungen nebst Fundstellen bei. Angesichts der ausführlichen und übersichtlichen Gliederung schadet das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses der insgesamt sehr soliden Arbeit nicht.

 

Bad Nauheim                                                                                                 Reinhard Schartl