Ludyga, Hannes, Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (= Juristische Zeitgeschichte 8, 3). BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2007. XV, 479 S. Besprochen von J. Friedrich Battenberg.

 

Die hier vorliegende, bei Hermann Nehlsen in München entstandene Dissertation geht von der überkommenen Ansicht des großen Rechtshistorikers Guido Kisch aus, der als erster auf der Basis der damaligen Forschung die Konzeption von einem vom (inner-)jüdischen Recht zu unterscheidenden „Judenrecht“ entwickelt hat. „An der strengen Unterscheidung zwischen Judenrecht und innerjüdischem Recht bleibt trotz gegenteiliger Stimmen festzuhalten“ (S. 3). Der Autor zitiert dabei zwar auch Gegenstimmen, geht aber auf die darüber entstandene Forschungsdiskussion nicht weiter ein (vgl. etwa den von Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst herausgegebenen Sammelband „Juden im Recht“, 2007, Rezension in ZRG GA 126 [2009]). Es trifft vor allem nicht zu, dass es sich um „Ausnahmegesetze gegen Juden“ handelte, die deshalb notwendig waren, weil Juden außerhalb der allgemeinen Rechtsordnung gestanden hätten. Noch weniger trifft zu, dass die Juden keinerlei Möglichkeit gehabt hätten, an der Gestaltung dieser „Ausnahmegesetze“ mitzuwirken. Hinter dieser Auffassung steht noch allzu sehr die von Jacob Katz prononciert vorgetragene Ansicht, dass die vormoderne Judenschaft abgeschlossen von der christlichen Bevölkerung gelebt habe, in einem geistigen Ghetto, und nur aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus mit dieser in Kontakt gekommen sei. Längst ist nachgewiesen, dass es vielfältige soziale und alltägliche Vernetzungen zwischen Juden und Christen gab, dass die Ersteren durchaus auf das ihnen geltende Recht (niedergelegt etwa in Policeyverordnungen) Einfluss nehmen konnten, ja sogar, dass innerjüdisches Recht im „Judenrecht“ Eingang gefunden hatte (zum Diskussionsstand siehe F. Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 2001, S. 79-82). Dies gilt natürlich noch mehr für das nachemanzipatorische Judentum, für das die allgemeine Gleichstellung intendiert und teilweise gesetzgeberisch ausgeformt wurde. Das Judentum changierte in dieser Zeit zu einer bloßen Konfession – die zwar in der Zeit der Restauration und unter dem Zeichen des „Christlichen Staates“ (Friedrich Julius Stahl) mit Misstrauen betrachtet wurde, die aber die Integration der Juden ins allgemeine Rechtsleben nicht mehr wirklich in Frage stellen konnte. Dass mit der Reaktion auf die Emanzipation im Frühantisemitismus und noch mehr in Reaktion auf die moderne industrielle Entwicklung im „Modernen“ Antisemitismus eine erneute Entflechtung intendiert wurde, steht auf einem anderen Blatt. Mit Recht bezieht diese Frage der Autor in seine Untersuchung mit ein.

 

Trotz dieses rechtsdogmatisch unzureichenden Einstiegs in die Thematik geht der Autor pragmatisch und quellennah an sein Thema heran. Nach Vorstellung der vorhandenen Quellen und einer Kurzanalyse der bestehenden Forschungssituation gibt er zunächst einen Überblick über die Juden in Bayern bis zum Jahre 1799. Es geht ihm dabei vor allem um demographische Aspekte; auf die Sonderstellung des Marktorts Fürth, die er abschließend streift, hätte er vor dem Hintergrund der vorhandenen Literatur näher eingehen können (vgl. F. Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch, 1992). Ebenso wenig geht er auf die Änderungen in der Situation der Juden seit dem Dreißigjährigen Krieg ein, die im Geist merkantilistischer Ideen die „Nützlichkeit“ der Juden in den Vordergrund stellten und deren Ansiedlung unter bestimmten Voraussetzungen beförderten. München etwa, in dem Juden offiziell nicht zugelassen waren, wies mit ihrem Wohnschwerpunkt im Tal (westlich des heutigen Rathauses) eine zahlenmäßig starke Hofjudenschaft auf, die durch Sonderprivilegien großen Einfluss erlangen konnte. Intensiver jedoch beschäftigt er sich im vierten Kapitel mit der Reformzeit seit 1799 bis 1819, die vor allem unter dem Zeichen des Reformprogramms des Freiherrn von Montgelas stand. Im Rahmen der intendierten Bürokratisierung, Rationalisierung und Zentralisierung der Verwaltung wurde nun, ganz im Geiste der Aufklärung, Reform ermöglicht. Der Autor beschäftigt sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Zeit, mit demographischen und sozialen Aspekten, vor allem aber mit dem Judenedikt von 1813, erwähnt dabei aber nur kurz das im Rahmen der Emanzipationsgesetze Mitteleuropas einzigartige und diskriminierende Matrikelgebot. Durch den weiterhin bestehenden Zwang der Matrikeleintragung entstand einerseits für den Staat eine Kontrollmöglichkeit, andererseits aber auch eine Benachteiligung, die weitreichende Folgen haben sollte. Die bayerische Verfassung von 1818 hielt diesen Zustand fest, indem sie das Matrikelgesetz von 1813 bestätigte. Immerhin hatte Bayern damit – im Gegensatz zu vielen anderen Territorien – an der Emanzipationsgesetzgebung trotz der einschränkenden Vorschriften der Wiener Bundesakte festgehalten; die Juden konnten damit in Bayern um so mehr Ziel von antijüdischen Angriffen werden, die sich mit dieser Situation nicht abfinden wollten.

 

Erst vom fünften Kapitel an wendet sich der Autor seinem eigentlichen Thema zu, nämlich der Rechtsstellung der Juden im Spiegel der Landtagsdebatten seit dem ersten Landtag vom 4. Februar 1819. Unter geschickter Übernahme zahlreicher Textbeispiele aus den Redebeiträgen gelingt es dem Autor, die bunte Vielfalt der Debatten um die unterschiedlichsten Fragen zum jüdischen Leben nach seinen rechtlichen und auch sozialen Aspekten darzulegen. Er folgt dabei der auch in der allgemeinen Geschichte beachteten Epocheneinschnitten: Während im fünften Kapitel die Zeit von 1819 bis 1830 thematisiert wird, geht es im sechsten Kapitel um die Zeit von der Julirevolution von 18130 bis zum Vormärz 1847. Es folgen die Zeit von 1848 bis zu den „Ansässigmachungsbestrebungen“ von 1861 (Kap. 7), die Zeit bis zur endgültigen Durchsetzung der Emanzipation in den achtziger Jahren – reichsweit zwar schon durch die Gesetzgebung Bismarcks 1871 erreicht, doch in der einzelgesetzlichen Durchführung noch längst nicht vollendet. Im neunten Kapitel geht es schließlich um die Reaktion unter dem Zeichen des Modernen Antisemitismus seit den neunziger Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

 

Trotz der auf Fragen der Rechtsstellung der Juden in Bayern konzentrierten Thematik des Buchtitels geht der Autor im Grunde – und mit Recht – weiter über das hinaus, indem er die gesamte Bandbreite des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens einbezieht, soweit es sich in den zeitgenössischen Landtagsdebatten widerspiegelt. Es geht dabei unter anderem um den jüdischen Hausierhandel und dessen behauptete Schädlichkeit für die Moral und die Volkswirtschaft. Es geht auch um die antisemitische Kampagne gegen das Warenhaus Tietz und die vorgebliche Übermacht der Juden im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben, die ihr demographisches Gewicht weit übersteige. Es geht schließlich um den auch von den bayerischen Parlamentariern schließlich übernommenen rassisch motivierten Antisemitismus. Interessanterweise kann der Autor damit die noch heute herrschende These in Frage stellen, wonach der Antisemitismus wesentlich eine Sache der Protestanten gewesen sei, während der Katholizismus zwar Distanz zum Judentum predigte, wohl aber Sicherheit vor antisemitischer Radikalität bot. Vielmehr habe gerade der bayerische Landtag, in dem die katholischen Abgeordneten dominierten, in großen Teilen zur Verbreitung antisemitischen Denkens beigetragen. Daran habe der Nationalsozialismus nur anknüpfen müssen.

 

Diese schulmäßig korrekt durchgezogene Monographie verdient hohe Anerkennung, auch wenn sie die Gesamtheit der zeitgenössischen Debatten um die Emanzipation der Juden sowie um den Antisemitismus – wesentlich aus arbeitsökonomischen Gründen – nicht einbeziehen kann. Die Auswertung allein der Landtagsdebatten – in ähnlicher Weise übrigens auch schon für das Großherzogtum Hessen erfolgt (Anton Maria Keim, Die Judenfrage im Landtag des Großherzogtums Hessen 1820-1849, 1983) – gibt schon einen Querschnitt durch den zeitgenössischen Diskurs über die „Judenfrage“, und hier hat der Autor eine sehr große Menge bisher unbekannter Details zutage befördert. Über das Personenregister lassen sich die notwendigen Zuordnungen zu den Debattenrednern zusammenfassen. Die angesprochenen Sachfragen sind über die sehr detaillierte Systematik im Inhaltsverzeichnis gut zu fassen, so dass ein Sachregister entbehrlich erschien. Das Buch hat damit unsere Kenntnis zur Geschichte der (rechtlichen) Emanzipation der Juden und auch zur antisemitischen Reaktion darauf um ein gutes Stück weitergebracht.

 

Darmstadt                                                                                          J. Friedrich Battenberg