Kristoferitsch, Hans, Vom Staatenbund zum Bundesstaat? Die Europäische Union im Vergleich mit den USA, Deutschland und der Schweiz (= Europainstitut Wirtschaftsuniversität Wien, Schriftenreihe Band 27). Springer, Wien 2007. XII, 366 S. Besprochen von Dieter Kugelmann.
Im Laufe der europäischen Integration und ihrer Intensivierung ist die Gestalt der Europäischen Gemeinschaften oder später der Europäischen Union vielfach behandelt worden. Abschließende Antworten konnte die Diskussion angesichts der Dynamik der Entwicklung bisher nicht erbringen. Abhängig von der Sicht des Betrachters wird die Europäische Union mehr oder weniger als staatenähnliches Gebilde oder internationale Organisation eigener Art gesehen. Die auf einer an der Wirtschaftsuniversität Wien entstandenen Dissertation beruhende, vorliegende Monographie leistet eine Beitrag zur Historisierung der Europäischen Union und ihrer Zuordnung zu Kategorien der allgemeinen Staatslehre.
Die Arbeit Kristoferitschs vergleicht drei bundesstaatliche Integrationsprozesse mit dem europäischen Integrationsprozess. Dazu werden zunächst einleitend die definitorischen und theoretischen Grundlagen offen gelegt (I.). Staatenbund und Bundesstaat sieht Kristoferitsch im Anschluss an Kelsen als lediglich graduell unterschiedliche Integrationsformen (S. 38). Damit ist der Ansatz vorgegeben, auf dem die Arbeit fußt. Die historische Entwicklung der USA (II.), der Schweiz (III.) und Deutschlands (IV.) hin zu einem Bundesstaat werden historisch eingehend aufgeblättert. Dabei wird immer das Ziel im Auge behalten, Vergleichskriterien zu identifizieren, die generalisierende Schlüsse zulassen. Als vierte Entwicklung zeichnet Kristoferitsch die europäische Integration nach (V.). Von den erarbeiteten Kriterien ausgehend erörtert er Integration und Bundesstaatswerdung im Vergleich (VI.).
Die Kriterien, die Kristoferitsch seinen Wertungen zu Grunde legt, werden zu knapp herausgearbeitet (S. 46-48, s. Fn. 144 zur Gefahr des Zirkelsschlusses). Sicherlich ist ein Rückgriff auf rechtsinhaltliche Kriterien methodisch gut begründbar, aber dann bedarf es der Erklärung, warum gerade die ausgewählten Kriterien für das spezifische Thema die wichtigen Erkenntnisse liefern. Der bloße Verweis auf Kelsen und Herzog genügt als Begründung nicht. So setzt Kristoferitsch den Staatszweck mit den Staatsaufgaben gleich, ohne zu erklären, was das bedeutet. Die grundlegende Problematik der Abgrenzung von Bund und Gliedern in Staatenbund und Bundesstaat löst Kristoferitsch in Einzelteile auf (z. B. auswärtige Gewalt, Steuerhoheit), vernachlässigt dadurch aber andere Kategorien wie insbesondere die Kompetenz-Kompetenz. Bei einer Arbeit, die sich auf Kelsen beruft und auf die Einordnung der EU zielt, überrascht dies besonders. Kristoferitsch arbeitet mit Tabellen, in denen er für jeden seiner Themenkomplexe die Ergebnisse anhand der Kriterien zusammenfasst. Tabellen bewirken immer eine Reduktion, dennoch ist ihre Auswahl von entscheidender Bedeutung für seine Beurteilungen der Staatengebilde und war daher begründungsbedürftig. Im Text der Arbeit kommen die Zusammenhänge und Querbezüge der Kriterien dann deutlicher zur Geltung. Es werden gezielt verfassungsgeschichtliche und politische Ereignisse und Vorgänge ausgewertet, die Ertrag für das Thema versprechen. Die eingenommene Perspektive der Staatslehre rechtfertigt die teils kurzen und überblicksartigen Darlegungen. Dennoch sind manche Verkürzungen bedauerlich. Für die EU wird in der Literatur eingehend diskutiert, ob die Grundrechte zentralistische Tendenzen stärken. Aus dieser Sorge heraus haben das Vereinigte Königreich und Polen Vorbehalte zur künftigen Grundrechtsgeltung nach dem Vertrag von Lissabon angemeldet. Diese Frage wird in der strukturell angelegten Arbeit ausgeblendet. Herausragende Wichtigkeit für die europäische Integration hatte die wirtschaftliche Integration durch die Errichtung des Binnenmarktes, die bei Kritoferitsch zwar punktuell aufscheint (S. 248, 285, 295, 300), aber doch als übergreifender, integrierender Politikansatz etwas stiefmütterlich behandelt wird.
Die Arbeit weist einen zupackenden Stil auf, der sich auch in eine bildhaften, an manchen Stellen feuilletonistischen Sprache ausdrückt. Sie verarbeitet umfangreiches historisches Material und belegt ihre Thesen in nachvollziehbarer Weise. Angesichts des weit gespannten Themas hat Kristoferitsch in angemessenem Umfang Literatur einbezogen. Er verfolgt eine klare Linie, die sich erkennbar durch alle Darlegungen zieht, und verliert sein Ergebnis nicht aus dem Blick. Die Erörterungen wirken nicht ergebnisoffen, da aufgrund der Vorarbeiten offenbar die Grundthese der Arbeit feststand.
Kristoferisch lehnt die These der Einzigartigkeit der EU und ihrer Einordnung als Staatengebilde sui generis nachdrücklich ab. Das Scheitern des Verfassungsvertrages konnte er nicht mehr berücksichtigen, es ändert an seinem Ergebnis wohl ohnehin nichts. Mit erstaunlicher Geradlinigkeit gelangt Kristoferitsch zu dem Ergebnis, dass die EU ein Staatenbund an der Schwelle zur Bundesstaatlichkeit sei. Die Gegenthese, dass gerade darin eine besondere Einzigartigkeit der EU liegen könnte, liefe dem Ansatz gradueller Abschichtbarkeit von Staatenbund und Bundesstaat nicht zuwider. Gesteigerten systematischen Ertrag verspricht jedoch die von Kristoferitsch vorgenommene Einordnung in die Kategorien der allgemeinen Staatslehre.
Durch den Vertrag von Lissabon, den Kristoferitsch nicht mehr berücksichtigen konnte, ist die Schwelle zur Bundesstaatlichkeit nicht überschritten. Aufschlussreich ist, dass im Vergleich zum Verfassungsvertrag gerade symbolische Elemente gestrichen wurden: Flagge, Hymne, Europatag, der Begriff „Gesetz“ und der Begriff „Verfassung“. Zumindest aus der politischen Sicht der Mitgliedstaaten sind also über die staatsorganisatorischen Elemente hinaus weitere Elemente für den Charakter der EU von Bedeutung, die gerade auch die Nähe des Unionsbürgers zur Union betreffen. Dies mindert nicht die Stimmigkeit der Bewertungen von Kristoferitsch, die sich im Ergebnis als rechtlich tragfähig erweisen.
Halberstadt Dieter Kugelmann