Konzepte von Produktivität im Wandel vom
Mittelalter in die frühe Neuzeit, hg. v. Laude, Corinna/Heß, Gilbert.
Akademie Verlag, Berlin 2008. 401 S., Ill. graph. Darst. Besprochen von Christof
Paulus.
In der als Aporie wie als gängiges
kritisches Argument bekannten unzeitgemäßen historiographischen Begrifflichkeit
sprach sich Peter von Moos in einem berühmten Aufsatz des Jahres 1998 für einen
„kontrollierten Anachronismus“ aus. Dem folgend wurde in einer
interdisziplinären Berliner Tagung 2006 gleichsam der „vorbegrifflichen“ Ideen-
und Sozialgeschichte von „Produktivität“, erstbelegt in Kants Kritik der
Urteilskraft, nachgespürt. Gemeinsam ist den 14 historischen, kunstgeschichtlichen,
musik-, sprach-, literaturwissenschaftlichen und philosophischen Beiträgen des
Sammelbands, dass sie methodisch vielfach auf der Diskurstheorie Foucaults aufbauen
und Korrekturen an mentalitätsgeschichtlich oft noch allzu statisch empfundenen
Epochen anbringen können.
Sechs Aufsätze beschäftigen sich mit
germanistischen oder romanistischen Themen. Aus der Dichterschau in Gottfrieds
Tristan leitet Beatrice Trinca die Selbstlegitimation der Dichtung, aus einer
produktiven Intertextualität Annett Volmer das Selbstverständnis der Spätrenaissanceautorinnen
Isabella Andreini und Moderata Fonte ab. Die schöpferischen Aspekte der
Verfremdung, den Diskursdurchbruch von Rhetorik zur Narrensprache „Redtorich“
in Fischarts Geschichtsklitterung untersucht Tobias Bulang.
Vereinheitlichende Rationalisierungsprozesse in der Schreibung des 16.
Jahrhunderts führt Anja Voeste auf veränderte ökonomische
Voraussetzungen, u. a. auf Beschleunigungsanforderungen an die Setzer, zurück.
Noch Erasmus von Rotterdam hatte sich für unterschiedliche Schreibweisen
ausgesprochen, da ein Autor ja kein Kuckuck sei, der stets dasselbe rufe.
Ob der Temperamentenwandel in der
Autobiographie des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow vom
Sanguiniker zum Melancholiker letztlich eine humanistische Stilisierung in der
Tradition Ficinos ist, der den Weg ad
excelsum novem Musarum templum der schöpferischen Macht der schwarzen Galle
zuschrieb, muss Antje Wittstock offen lassen. Am ehesten
rechtsgeschichtliche Fragestellungen behandelt der Beitrag Claudius Sittigs
über den Wolfenbütteler Stallmeister und Berghauptmann Georg Engelhard von
Loehneysen, in dessen selbst verlegte, aufwändig gestaltete Büchern zur
Reitkunst und zum Bergbau zahlreiche Plagiate eingeflossen sind, was vor allem
nach Loehneysens Tod Rechtfertigungsversuche zeitigte.
Die kunsthistorischen Aufsätze
beschäftigen sich mit dem von der Antike beeinflussten Produktivitätsschub
zwischen 1066 und 1096, der sich an den Kirchenskulpturen entlang des
spanischen Jakobsweges ablesen lässt (Stefan Trinks), den
Text-Bild-Komplementärstrukturen und Imaginationen (Seelenbildern)
illuminierter Andachtsbücher um 1300 (Gia Toussaint), der Werkstatt
Lucas Cranachs, in dessen mira celeritas Zeitgenossen
die Begabung des Meisters sahen und der damit zugleich schnell auf die
Erfordernisse des Reformationszeitalters reagieren konnte (Susanne Wegmann).
Heike Schlie destilliert aus der Turmdarstellung in Jan van Eycks
Bildnis der heiligen Barbara (1437) eine aus der theologischen architector-Wertschätzung abgeleitete
kunsttheoretische Aussage.
Anhand der klassischen Utopien von Morus,
Campanella, Andreae und Bacon formuliert Andreas Urs Sommer die These,
die skeptische Fiktionalisierung schaffe einen Produktivitätsschub. Der
Musikwissenschaftler Karsten Mackensen sieht, wie Helmut Zedelmeier,
in den Enzyklopädien der Frühen Neuzeit „Wissensmaschinen“, aus denen gerade
eine selektierende Lektüre neue Impulse gewinnen konnte. Die beiden
historischen Aufsätze Robert Brandts und Thomas Buchners liefern
einen Forschungsüberblick über das vorindustrielle Handwerk und eine
Profilierung des niederländischen Merkantilismus, der im Gegensatz zu den meist
hofnahen deutschen Autoren kein umfassendes Gesellschaftsmodell bietet bzw.
bieten will.
Die Beiträge sind jeweils mit einem
Quellen- und Literaturverzeichnis versehen. Eingerahmt wird der gedankenreiche
Band durch eine zusammenfassende Einleitung der beiden Herausgeber und ein
Personenregister. Gut getan hätte zweifellos auch der ein oder andere
rechtshistorische Beitrag, etwa zur Kommentatorentätigkeit des 14. und 15.
Jahrhunderts, zum Textverständnis eines Thomas Murner oder Ulrich Zasius oder
zum Wandel des vermeintlich gängigen Selbstmörderbildes, wie es sich auch in
einem Brief König Maximilians I. an den Bayernherzog Albrecht IV. von 1505
widerspiegelt (heute Bayerisches Hauptsaatsarchiv, Kurbayern Äußeres
Archiv 977, 214r.): Wir sein bericht, wie sich Liennhart
Köllerer von Höch zu Ebersperg selbst ertrenckht hab, daz aber der grossen
kranckhait halben, darinn er gelegen, beschehen sein, auch sich in der vasten
gepeicht und das sakrament emphanngen, auch yetzo in seiner kranckhait gepeicht
haben sölle, dieweil derselb sein tod nit aus vernunfft, sonnder aus der
grossen swern kranckhait, damit er beladen, dardurch er seiner vernunfft
berawbt gewest, beschehen ist.
Seehausen am Staffelsee Christof
Paulus