Jenseits von Bologna - Jurisprudentia literarisch - von Woyceck bis Weimar, von Hoffmann bis Luhmann, hg. v. Kilian, Michael. BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2006. X, 596 S. Ill. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Der inhaltsreiche und gehaltvolle Band reiht sich in die wachsende Zahl jener Veröffentlichungen ein, die das Verhältnis von Literatur und Recht, Schriftsteller und Juristen thematisieren. Mit seinem griffigen Titel knüpft er an internationale Bildungsprozesse an, die Herausgeber und Autoren gerne für das rechtswissenschaftliche Studium und das (Selbst-)Verständnis der Juristen fruchtbar machen möchten. Es ist ja eine kulturgeschichtlich ebenso alte wie simple Erfahrung, dass der Erweiterung des Horizonts durch die Wahrnehmung der Kunst gerade für angehende wie praktizierende Juristen besondere Bedeutung zukommt. Dies gilt jenseits der Gretchenfrage – die immer noch einer theoretisch tragfähigen und überzeugenden Antwort harrt -, welche Erkenntnisse literarische Zeugnisse dem Rechtsdenken und der Rechtspraxis zu vermitteln vermögen.

 

Das umfangreiche Werk wartet – vom Vorwort des Herausgebers abgesehen – mit nicht weniger als 17 Beiträgen aus der Feder von 15 Autoren auf, die fast durchweg schon mit einschlägigen Arbeiten hervorgetreten sind. Zwei Autoren – nämlich Herbert Rosendorfer und Bernhard Schlink – können mit Fug und Recht das Etikett und die Qualifizierung als „Dichterjuristen“ (Wohlhaupter) für sich in Anspruch nehmen.

 

Als eine erste Orientierung ist die Zweiteilung des Bandes in personen- und sachbezogene Themen gedacht. Sie ist freilich nicht in einem strikten, Überschneidungen ausschließenden Sinne zu verstehen. So setzen manche personenbezogene Beiträge – ungeachtet eines allerdings unterschiedlichen Bemühens, ein Gesamtbild von Persönlichkeit und Werk zu vermitteln – mehr oder minder sachbezogene Akzente, während sich unter den themenbezogenen Arbeiten welche finden, die an das literarische Werk bestimmter Schriftsteller anknüpfen.

 

Dem Ganzen ist ein Beitrag Rosendorfers „Über Gerechtigkeit und Literatur“ vorangestellt, der gleichsam der ebenso ernüchternden wie für Juristen heilsamen Sicht des Schriftstellers Ausdruck gibt. Er begreift – wie anders! – Literatur als Utopie, den Schriftsteller als Schöpfer eigener Welten, der sich selbst die Gesetze gibt. Einige Dichter-Biographien, die Rosendorfer Revue passieren lässt, dienen als Beleg für seine These, dass Kunst moralisch und daher allemal (auch und gerade gegenüber Recht und Justiz) kritisch ist: Die Gewährsleute sind E. T. A. Hoffmann, Eichendorff (über dessen Rechtsdenken Klaus Lüderssen kürzlich eine lesenswerte Darstellung vorgelegt hat) und (der in diesem Kontext unverzichtbare) Kafka. Rosendorfers Beitrag kann als eine kleine „Summe“ zum Verhältnis von Literatur und Recht gelesen und verstanden werden. Besonders stark ist im Band Michael Kilian vertreten, der außer dem Vorwort nicht weniger als drei Beiträge beigesteuert hat.

 

Die personenbezogenen Studien werden durch eine Darstellung der juristischen Tätigkeit E. T. A. Hoffmanns eingeleitet. Jürgen Goydke vertieft in seinem Beitrag bisherige einschlägige Untersuchungen, die ja namentlich dank der Edition der juristischen Arbeiten des Dichters durch Friedrich Schnapp weiteren Auftrieb erfahren haben. Wie eine langdauernde Freundschaft zwischen einem berühmten Künstler und einem Staatsmann entstanden ist und sich entwickelt hat, veranschaulicht Bernd-Rüdiger Kern am Beispiel von Rossini und Metternich.

 

Wenigstens vier weitere Beiträge sind Schriftstellern gewidmet, deren Werk in rechtswissenschaftlicher Perspektive bisher wenig Beachtung gefunden hat. Das gilt zunächst für Ludwig Uhland, den Dichter „zwischen Romantik und Moderne“, dessen literarische Arbeiten Volker Siegel unter rechtsgeschichtlichem Vorzeichen würdigt, also in einen Kontext rückt, der bis dato vor allem im Zusammenhang mit dem Wirken des Schriftstellers im Parlament der Paulskirche erörtert worden ist. Mit seinem Beitrag über Leben und Werk (vor allem die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“) Berthold Auerbachs bringt Klaus-Peter Schroeder dem Leser einen Schriftsteller nahe, der es wohl verdient hat, dem Vergessen entrissen zu werden. Auerbach zählt zu jenen Autoren, die in der Festung Hohenasperg inhaftiert waren und dem sog. „Demokratenbuckel“ zu seiner unrühmlichen Geschichte verhalfen.

 

Dem 2001 verstorbenen Öffentlichrechtler Peter Schneider verdanken wir eindrucksvolle Untersuchungen zum Verhältnis von Literatur und Recht (namentlich sein 1987 erschienenes einschlägiges Hauptwerk „…ein einzig Volk von Brüdern“). Schon darin hat er davor gewarnt, das Werk Ludwig Ganghofers simplifizierend, ja unkritisch als „Trivialliteratur“ (à la Marlitt und Courths-Mahler), wenn nicht gar als „präfaschistisch“ abzutun. An drei historischen Romanen des Schriftstellers weist er demgegenüber aufklärerische und rechtsstaatliche Elemente, freilich gepaart mit einer antilegalistischen Haltung, nach. Der Schriftsteller und der Rechtsanwalt Ludwig Thoma sind schon des öfteren Gegenstand sowohl literatur- als auch rechtswissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Michael Kilian hat sich freilich nicht darauf beschränkt, einmal mehr seine Persönlichkeit und sein Werk vorzustellen; vielmehr hat er Thoma mit Werk und Wirken Heinrich Spoerls konfrontiert. Deutlich werden an dem Beitrag Parallelen – etwa hinsichtlich der Aufgabe des Anwaltsberufs und des öffentlichen Erfolgs als Schriftsteller -, aber auch Unterschiede auf literarischem und politischem Gebiet. Dem deftigen Humor Thomas stehen die eher leisen Töne Spoerls gegenüber (die freilich wohl auch der Zensur der NS-Diktatur geschuldet waren). Dieser besaß im Gegensatz zu Thoma auch keinerlei politische Ambitionen – was ja auch für weniger regimetreue Autoren allemal riskant erschien. Petra Buck-Heeb geht abermals dem Verhältnis von juristischer und literarischer Tätigkeit in Werk und Wirken Kafkas nach. Sie arbeitet in diesem Kontext vor allem die zeitgenössischen Bezüge wie die überzeitlichen Elemente in dessen Texten, namentlich im Roman „Der Proceß“, auf. Eher aus dem Rahmen des Bandes fällt der Beitrag der Soziologin Maren Lehmann heraus, die Stil und Duktus des Werks des Systemtheoretikers Niklas Luhmann auf der Grundlage eines modernisierten Konzepts der Ironie auf literarische Anleihen und Anspielungen befragt.

 

Der zweite, eher sachbezogene Teil des Bandes versammelt Beiträge unterschiedlichster thematischer Provenienz. Den Anfang bildet eine Quellenstudie Heiner Lücks, die den rechtsgeschichtlichen Hintergrund für Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ ausleuchtet. Geschildert werden namentlich der Prozess, die Verurteilung und Hinrichtung jener Brandstifterin nach Maßgabe des zeitgenössischen Rechts. Freilich ließen sich „die wahren Umstände der Katastrophe vom 13. September 1617“ „trotz der reichhaltigen Quellen“ nicht klären (S. 300). Auf Quellenbasis fußt auch der überaus detaillierte und weit ausgreifende Beitrag Adrian Schmidt-Reclas zum Mordprozess, der Georg Büchner die Vorlage für sein Fragment „Woyzeck“ geliefert hat. Eine zentrale Rolle hat seinerzeit die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Täters – nicht zuletzt im Blickwinkel der zeitgenössischen Monomanielehre – gespielt. Der Verfasser kommt auf Grund seiner eingehenden Analyse der Dokumente und des damaligen psychiatrischen Wissensstandes zum Ergebnis, dass das Todesurteil dem geltenden Recht entsprochen hat.

 

Bernhard Schlink untersucht in seinem zugleich rechtshistorischen, -vergleichenden und literaturgeschichtlichen Beitrag die Funktion und Rolle des Duells als einer „Institution in der bürgerlichen Gesellschaft“. An einer Fülle von Autoren (wie z. B. Heine, Raimund, C. F. Meyer, Freytag, Fontane, Keller, Schnitzler, Sternheim) demonstriert er die soziale Umbruchsituation, die jene Form gesellschaftlicher „Konfliktlösung“ in literarischen Texten der verschiedensten Couleur einnimmt. Aus einer Kommersrede hervorgegangen ist der Beitrag Hermann Webers, der dem „Corpsstudententum in Leipzig im Spiegel der Literatur“ gewidmet ist. Er präsentiert eine ganze Galerie mehr oder minder erlauchter Namen, die vom Leipziger Studentenleben Zeugnis abgelegt haben. Das reicht etwa von Goethe über Theodor Körner, Richard Wagner, Walter Bloem, Arno Holz und Johannes Schlaf bis hin zu Otto Julius Bierbaum. Bernhard Wecks Thema ist das kritische Verhältnis der sich ungebunden und freizügig fühlenden wie gerierenden literarischen Bohème in München (1890-1914) zu Gesellschaft, Staat und Justiz. Da begegnen dem Leser nicht nur Protagonisten der deutschen Kleinkunst- und Brettl-Bewegung (so z.B. die „Elf Scharfrichter“, „Schall und Rauch“, „Überbrettl“), sondern einmal mehr „skandalträchtige“ Schriftsteller wie Frank Wedekind und Ludwig Thoma sowie eine Vielzahl weiterer Autoren, die ihre Distanz zu bürgerlichen Normen und Konventionen in unterschiedlicher Weise bis hin zu revolutionären oder anarchischen Tendenzen auslebten (z. B. Michel Georg Conrad, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Ernst Toller, Oskar Panizza). So sind denn auch ernsthafte Konflikte mit der Justiz nicht ausgeblieben.

 

In zeitlichem, weniger aber inhaltlichem Zusammenhang damit steht das Thema, das Gegenstand des Beitrags von Wolfgang Graf Vitzthum ist. Der Öffentlichrechtler, der in einer ganzen Reihe kenntnisreicher, subtiler Studien Persönlichkeit und Werk Stefan Georges näher analysiert hat, geht hier am Beispiel dreier mehr oder minder prominenter Juristen aus dem George-Kreis der Frage nach, ob und inwieweit Persönlichkeit und Werk des Dichters ihre Spuren in den Rechts- und Staatswissenschaften hinterlassen hat. Der Völkerrechtler Karl Josef Partsch (1914-1996) – der den Zweiten Weltkrieg mit Glück und Geschick überlebt hat – hat nach 1945 dank seiner herausragenden Begabung eine glänzende wissenschaftliche Karriere absolviert. Der gleichfalls talentierte Historiker, Jurist, Dichter und Attachè Johann Anton (1900-1931) hat durch Freitod seinem Leben ein frühes Ende gesetzt. Der dem Rechtsgedanken – namentlich dem Völkerrecht – eng verbundene Berthold von Stauffenberg (1905-1944) hat wie sein Bruder Claus „vor allem die NS-Vernichtungspolitik gegen Juden und Kriegsgefangene“ verurteilt und deshalb in den Beseitigung Hitlers den einzigen Ausweg aus dessen heil- und rechtloser Kriegsführung gesehen (S. 457). Er ist nach dem Attentat des 20. Juli „verhört und gefoltert“ und „ohne etwas preiszugeben“ „nach 21-tägiger Leidenszeit auf die vom Diktator befohlene bestialische Weise hingerichtet“ worden (S. 458). Graf Vitzthum kommt nach eingehender Analyse von Persönlichkeit und Werk der drei Mitglieder des George-Kreises zum Ergebnis, dass – ungeachtet so mancher Anregungen und Querverbindungen – von „Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges“ nicht die Rede sein könne (S. 484). Seine Untersuchung stellt aber einmal mehr einen gewichtigen Beitrag zum Verständnis jenes Dichters, seiner Anhänger und seines Einflusses auf die (rechts-)kulturelle Entwicklung (namentlich) der Weimarer Epoche dar.

 

Der Schriftsteller Wilhelm Speyer (1887-1952) zählt demgegenüber zu den weitgehend vergessenen Autoren – wiewohl er neben Erich Kästner und Michael Ende zur eher seltenen Spezies des Jugendschriftstellers gehört. An dessen Jugendromane – die insbesondere „das Landerziehungsheim liberaler Weimarischer Prägung“ (S. 498) als idealen Schultyp unter dem Vorzeichen von Jugendbewegung und Reformpädagogik zu veranschaulichen suchen – erinnert der Beitrag Michael Kilians. Der Verfasser zeichnet an Leben und Werk jenes Autors literarische Vergegenwärtigungen eines optimistisch erscheinenden – und stimmenden – Bildungsideals nach, das sich ungeachtet aller geschilderten Konflikte doch deutlich von den düster-kritischen Schulnovellen und –romanen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert abhebt.

 

Im letzten Beitrag des Bandes entwirft Kilian geradezu ein Panorama literarischer Richterbilder, das schon vom Umfang sowie der Vielzahl zitierter Schriftsteller und Texte her beeindruckt. Freilich kann Vollständigkeit angesichts der Fülle von Dichtungen, in denen sich Autoren mit dem (Straf-)Prozess und dessen zentraler Figur, dem Richter, auseinandergesetzt haben, nicht erwartet werden; das gilt natürlich nicht minder für die einschlägige, allmählich gleichfalls anschwellende Sekundärliteratur (vgl. jetzt nur Heike Jung, Richterbilder, 2006, S. 147ff.). Dass häufig die kritische Sicht überwiegt, kann auf Grund des eigenständigen, distanzierten und oft verfremdenden Blicks, den Schriftsteller auf Recht und Justiz werfen, schwerlich überraschen. Ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Realitäten dieser Welt ist – wie schon Rosendorfers Eingangsbeitrag erkennen lässt – ein anderes als dasjenige des professionellen Juristen (aber auch des Laien). Kilian hat seinen enormen Stoff – des Überblicks und des Verständnisses wegen – in verschiedene Sichtweisen des Richters, aus denen „der gerechte Richter als philosophisch-literarische Figur“ herausragt (S. 531), sowie in zeitlicher Hinsicht gegliedert. Deutlich wird an seiner Darstellung zugleich, dass die Literatur der Moderne den Richter nicht zuletzt in seiner Privatsphäre thematisiert (S. 560). Der informative Beitrag schließt mit einer Systematisierung vorfindlicher literarischer Richterbilder sowie kritisch fragenden Reflexionen zur idealen und realen Wahrnehmung des mit so hohen Anforderungen und Erwartungen befrachteten Richteramtes.

 

Der Band besticht durch Vielseitigkeit der Themen und Informationen sowie durch eine Fülle von Anregungen – namentlich für weitere Forschungen auf dem schier unendlichen und kaum auszuschöpfenden Gebiet der Beziehung zwischen Literatur und Recht. Wie in der Literatur schlechthin kann man in dem Werk mehr oder minder überraschende Entdeckungen machen. Zu den freilich eher peripheren mag der Umstand gehören, dass Autoren, die – wie etwa Karl Kraus – ihr Leben lang über Recht und Justiz zu Gericht gesessen sind, immer wieder zitiert werden – obgleich sie nicht zum Gegenstand eines eigenen Beitrags erhoben worden sind. Bei alledem bleibt auch das Wort Graf Vitzthums bedenkenswert, wonach jede Werkrezeption „ein offener Vorgang“ ist, „von den Intentionen des Autors nur bedingt steuerbar“ (S. 475 Fn. 58). In seiner Gesamtheit beschert der Band dem Leser ein Bildungserlebnis besonderer Art, das ein größeres, über juristische und literaturwissenschaftliche Fachkreise hinausgehendes Interesse verdient.

 

 

Saarbrücken                                                                           Heinz Müller-Dietz