Handbuch Ius Publicum Europaeum, hg. v. Bogdandy, Armin von/Cruz Villalón, Pedro/Huber, Peter M. Band 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, hg. v. Bogdandy, Armin von/Cruz Villalón, Pedro/Huber, Peter M. unter Mitwirkung v. Zacharias, Diana. C. F. Müller, Heidelberg 2007. VIII, 856 S. Band 2 Offene Staatlichkeit - Wissenschaft vom Verfassungsrecht. C. F. Müller, Heidelberg 2008. X, 970 S. Besprochen von Michael Stolleis.
Das hier vorliegende
voluminöse internationale Gemeinschaftswerk beruht auf der Absicht der
Herausgeber, dem in Praxis und Theorie allenthalben spürbaren Prozess der
Herausbildung eines „ius publicum
europaeum" zunächst einmal eine solide Grundlage durch Darstellungen
der nationalen Verfassungsrechte zu geben. Über Rechtsvergleichung kann man
nicht reden, wenn man nicht die Gegenstände kennt, die verglichen werden
sollen. So besteht der erste Band des Werks aus kompakten nationalen Kapiteln.
Behandelt werden Deutschland (Horst Dreier), Frankreich (Olivier
Jouanjan), Griechenland (Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis),
Großbritannien (Martin Loughlin), Italien (Mario Dogliani/Cesare
Pinelli), Niederlande (Leonard Besselink), Österreich (Ewald
Wiederin), Polen (Pjotr Tuleja), Schweden (Hans-Heinrich Vogel),
Schweiz (Giovanni Biaggini), Spanien (Manuel Medina Guerrero),
Ungarn (Gábor Halmai), gefolgt von einem strukturellen Vergleich (Pedro
Cruz Villalón). Es fehlen also etwa Belgien, Dänemark, Finnland, die baltischen
Staaten, die Balkanstaaten, Luxemburg, Portugal, Tschechien, Slowakei, Rumänien
und Bulgarien. Eine Begründung, warum die genannten Staaten ausgewählt und
andere ausgeschieden wurden, geben die Herausgeber nicht, obwohl das von hohem
politischem und historischem Interesse gewesen wäre.
Um den Vergleich zu
ermöglichen, folgt der Aufbau der einzelnen Kapitel einem einheitlichen Muster.
Der dazu dienende Fragebogen ist auf S. 777 abgedruckt. Geschildert werden die
Entstehung der Verfassung in ihrem historischen Umfeld, weiter die wichtigsten
Inhalte und die Struktur des damit intendierten Staatsaufbaus, gefolgt von den
Faktoren und Ergebnissen der „Entwicklung" der jeweiligen Verfassung
(Verfassungsänderungen, Rechtsprechung, Deutungswandel), einschließlich der
Strukturprinzipien der Verfassung und ihrer Bedeutung für die Nation. Diesen
Gedankenschritten folgt auch der abschließende Vergleich von Cruz Villalón.
Es liegt auf der Hand, dass
diese Länderkapitel eine Fülle historischer Informationen zu Landesgeschichte
und Verfassungsgebung sowie zum stillen oder expliziten Verfassungswandel
liefern. Insgesamt ist dies die Geschichte des europäischen Konstitutionalismus
seit der Französischen Revolution. Besonders fesselnd ist das Kapitel über die
noch weiter zurückreichende englische „Verfassung". Es kann auch für
Rechtshistoriker als Einführung empfohlen werden, um eine Verfassung zu
verstehen, die in juristischer Perspektive „letztlich ein Rätsel" bleibt,
weil sie eine ehrwürdige Fassade mit Flexibilität und Effektivität verbindet.
Aber auch sie wird vermutlich dem Prozess der Veränderung durch Europäisierung
nicht entgehen können.
Der zweite Band ist
zweigeteilt. Zunächst werden unter dem Titel „Offene Staatlichkeit" die
Beziehungen der einzelnen Verfassungen zur europäischen Gemeinschaft
dargestellt. Es geht also nach dem schon genannten Muster darum, was Europa in
der Zeit nach 1945 bedeutete, wie sich die Verfassungen hierfür „öffneten“ und
welche Souveränitätsverzichte sie bereit waren, in die Verfassungen
aufzunehmen. Es folgt jeweils ein Abschnitt zur Rezeption und Wirkung der
Europäischen Menschenrechtskonvention, was auch Aussagen zum Verhältnis von
nationaler Verfassung und Völkerrecht impliziert. Hier dominiert im
Wesentlichen die dogmatische Perspektive.
Der zweite Teil des zweiten
Bandes beginnt wieder mit einem Durchgang durch die hier behandelten zwölf
Verfassungsordnungen und zwar in Form von relativ kurzen Darstellungen der
Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts. Im Mittelpunkt steht also
nicht die Entstehungsgeschichte der Verfassungen wie im ersten Band, sondern um
das „ius publicum“ als intellektuelle
und universitäre Denk- und Lehrform der öffentlichen Ordnung. Die Ansatzpunkte
sind dabei ganz unterschiedlich. In Deutschland geht man dabei auf die frühe
Neuzeit zurück (Walter Pauly), in Frankreich auf die große Zäsur von
1789 (Luc Heuschling), in Griechenland auf 1848 (Christos Pilafas),
in Großbritannien wohl überwiegend auf Blackstones Commentaries on the Laws of
England, 1765-1769 (Adam Tomkins), in Italien auf die Zeit des
Risorgimento (Maurizio Fioravanti), in den Niederlanden auf die
Batavische Republik 1795-1806 (Remco Nehmelman), in Österreich auf die
Verfassung von 1920 (Alexander Somek). In Polen zeigt die Wissenschaftsgeschichte
in immer wieder erneuten Anläufen ein exaktes Spiegelbild der politischen
Verwerfungen bis zur Gegenwart (Irena Lipowicz), während umgekehrt in
Schweden große Kontinuität seit 1809 herrscht (Kjell Å. Modéer). Die
Schweiz kennt seit Josias Simlers „De
republica Helvetiorum libri II von 1576 gelehrte Darstellungen des
jeweiligen Verfassungszustands, doch wird man erst ab 1848 von einer
übergreifenden Staatsrechtslehre
sprechen können (Rainer J. Schweizer). Spanien beginnt nach Ansätzen im 19. Jahrhundert im Grunde
erst wieder um 1977, sein Derecho Politico in ein Derecho Constitutional zu verwandeln (Mariano García-Pechuán). Ungarn schließlich kennt im Kontext der
habsburgischen Doppelmonarchie ein ähnliches Auf und Ab der
Wissenschaftsgeschichte wie Polen, kann also erst wieder seit 1990 auf seine älteren Bestände seit dem 16.
Jahrhundert zurückgreifen (András Jakab). Alle diese knappen und instruktiven Überblicke werden am
Ende von Armin von Bogdandy noch einmal aus unterschiedlichen Perspektiven erläutert. Nicht nur die
Anfänge sind verschieden, auch die Grade der „Eigenständigkeit“ im Verhältnis
zu Politik und Praxis sowie die Dichte des wissenschaftlichen Netzwerks und
seiner Institutionen. Wenn diese Dinge sich aber so unterschiedlich entwickelt
haben, wie kann dann ein homogenes ius publicum europaeum entstehen? Hier werden Skeptiker und Europa-Enthusiasten
zu sehr unterschiedlichen
Einschätzungen kommen. Bogdandy schließt, auch berufsbedingt, vorsichtig-optimistisch. Dazu muss man
stillschweigend unterstellen, dass es künftig ohne europäische
Vereinheitlichung der Studiengänge und ohne mühelosen Wechsel des
Studienplatzes sowie ohne Beherrschung mehrerer europäischer Sprachen nicht
gehen wird. Die beiden Bände des Handbuchs werden ihren Platz in der
Wissenschaftsgeschichte des europäischen öffentlichen Rechts erhalten; denn sie
bieten eine gründliche Bilanz und sie markieren einen Anfang.
Frankfurt am Main Michael
Stolleis