Grossi, Paolo, Mitologie giuridiche della modernità, 3. Auflage. Giuffrè, Mailand 2007. XIII, 234 S. Besprochen von Stephan Meder.

 

„Juristische Mythologien der Moderne“ - unter diesem Titel hat Paolo Grossi fünf Essays nebst Einführung versammelt, die von der Aufgabe des Rechtshistorikers handeln. Dieser habe die modernen Mythen mit „kritischem Bewusstsein“ zu durchleuchten und den Knoten zu durchhauen, der seit mehr als 200 Jahren den Blick auf die Wirklichkeit des Rechts versperre (S. 3f.). Kritisch sieht Grossi vor allem die zu enge Verflechtung des Rechts mit der Politik, seine weitgehende Identifizierung mit dem Staat, die Erosion der wissenschaftlichen Dimension des Rechts und seine Abstinenz gegenüber der ,Gesellschaft’. Was den Einfluss der ,Gesellschaft’ anbelangt, so will Grossi den Hinweis auf das Demokratieprinzip nicht gelten lassen, das als ,Dogma’ oder bloße Behauptung zwar allgemein hingenommen werde, mit dem „wahren Gesicht des souveränen Volkes“ (S. 7) aber wenig zu tun habe. Auch die übliche Gleichsetzung von ,Legislative’ und ,Volkswille’ oder ,staatlichem Gesetz’ und ,volonté générale’ hält Grossi nur für eine geschickte Strategie der Rechtspolitik (S. 6) - eine Mythologie eben, die er als „substantiell unkritische Akzeptanz“ oder, „was das gleiche ist“, als „ideologisch motiviert“ ablehnt (S. 34).

 

Um das kritische Bewusstsein zu schärfen, wagt Grossi einen Vergleich zwischen der Moderne und jener mittelalterlichen Rechtsordnung, die er wiederholt zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht hat.[1] Das Hauptmerkmal der mittelalterlichen Ordnung sieht Grossi darin, dass „zuerst das Recht da war“ und „die politische Macht danach kam“ (S. 21): Das Mittelalter war, so Grossi, über weite Strecken durch ein Vakuum der Staatsgewalt und einen Pluralismus der Rechtsquellen geprägt, wobei die Meister des gelehrten Rechts, Richter und Notare sowie Kaufleute größeren Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung des Rechts als ein staatlicher Gesetzgeber genommen haben. Eines der wichtigsten Instrumente sei dabei die Interpretation gewesen, auf deren Grundlage nicht nur vorhandenes Recht ,angewendet’, sondern auch neues Recht geschaffen wurde (S. 24, 222ff.). Dieser Befund harmoniert mit der besonderen Faktizität, die nach Grossi das mittelalterliche Recht auszeichnet. Eine herausragende Rolle spielt dabei das Gewohnheitsrecht - eine „normative Tatsache“ (S. 220), deren rechtliche Relevanz daher rührt, dass eine soziale Gruppe ein bestimmtes Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg übt. Im Mittelalter herrscht also die Vorstellung, dass das Recht ,von unten’, auf der Ebene des Partikularen entstehe, und hier liegt auch der Grund, warum es für eine politische Zentralmacht so schwer zu kontrollieren ist.

 

Mit dem Auftreten einer neuen Figur, und zwar des Fürsten, sollte sich das Verhältnis von Recht und Staat aber schon bald ändern. Der moderne Staat entstand mit dem Aufkommen des Individuums, das sich nicht nur aus der ständischen Gebundenheit, sondern zunehmend auch aus der religiösen Perspektive herauslöste. Der auf sich gestellte Mensch musste sein Weltbild nunmehr aus sich selbst, aus seiner Vernunft heraus entwickeln. Während die Ordnung des Mittelalters von der Vorstellung beherrscht war, dass alle Macht von Gott stamme, ist das neuzeitliche Denken durch die Idee des souveränen Staates geprägt. Danach geht alle Staatsgewalt vom Willen eines absoluten Herrschers aus, den Grossi als das moderne Individuum par excellence begreift. Mit der Wende zur Neuzeit wurde also ein völlig neuer Weg beschritten, der „vom Recht zum Gesetz“ (S. 35ff.) oder genauer: zum „Mythos des Gesetzes“ führte (z. B. S. 134ff., 208ff.).

 

Warum aber bedarf die Moderne überhaupt eines Mythos? Den Grund sieht Grossi darin, dass die Menschheit mit der Abkehr vom mittelalterlichen Weltbild den Glauben an das Absolute einerseits zwar preisgegeben, ihn andererseits aber weiterhin benötigt habe, um sich an etwas festhalten zu können. Als Ersatz für den Verlust des Absoluten (S. 46) erfüllt der Mythos also kompensatorische Funktionen. Unter „juristischem Absolutismus“ versteht Grossi das Bestreben, die gesamte juristische Wirklichkeit der politischen Macht zu unterwerfen. Die Folgen können hier nur stichwortartig aufgelistet werden: Allmähliche Beseitigung der mittelalterlichen Rechtsvielfalt durch einen erstarkenden, auf Zentralisierung und Monopolisierung des Rechts bedachten Staat; Entkoppelung von Recht und Gesellschaft, von Norm und Interpretation und von Produktion und Applikation, wobei letztlich das Strafrecht zum eigentlichen Modell der Jurisprudenz erhoben wird (S. 51, 177).[2]

 

Für Grossi ist es kein Zufall, dass gerade in Frankreich, dem „authentischen, politisch-juristischen Laboratorium“ der Moderne (S. 174), die erste „wahre Kodifikation“ (S. 89) entstanden ist. Im Code Civil erblickt er das greifbare Resultat einer langen Entwicklung, die mit Jean Bodins Six livres de la République begonnen hat und auf „immer mehr Gesetz“ und „immer weniger Recht“ (S. 96) hinauslief. Hier verkörpere sich eine Idee vom Staat, der das Volk nach seinem Bilde zu modellieren und die ,Autonomie’ intermediärer Gewalten schon auf Grund seiner Abstinenz gegenüber dem Sozialen soweit wie möglich auszuschalten sucht (S. 158). Als zentrale Merkmale der Kodifikation nennt Grossi: Geometrie abstrakter Regeln; Beschränkung der Rechtsetzung auf den Moment des Inkrafttretens von Normen; Zurückdrängung von Wissenschaft und Praxis. Grossi hat also vor allem jene Kodifikationen im Auge, die in der Natur- bzw. Vernunftrechtszeit entstanden sind. Für die jüngere deutsche oder schweizerische Zivilgesetzgebung, die unter dem Einfluss der Historischen Schule Wissenschaft und Rechtsprechung wieder breiteren Raum einräumt, gelten diese Merkmale freilich nur mit Einschränkungen.

 

Das Jahr 1789 markiert also ein wichtiges Datum jener Entwicklung, die über das Kodifikationsprinzip und die weitgehende Identifikation von Recht und Staat bis in die Gegenwart reicht. Als letztes Glied der Kette, die mit der Französischen Revolution ihren Anfang nahm, betrachtet Grossi den „Vertrag von Nizza“ (S. 141ff.) - zentrales Element des umstrittenen Projekts einer europäischen Verfassung, das in der Tradition der Charta von Grundrechten („le carte dei diritti“) steht (S. 186ff.). Allerdings sei uns diese Kette nicht nur zeitlich, sondern auch geistig mittlerweile fremd geworden (S. 163). In der Tat geben fortschreitende Globalisierung und Internationalisierung des Rechts heute Anlass, das formale System der Rechtsquellen neu zu überdenken: Wenn private, verfassungsrechtliche oder internationale Normsetzungen die Kodifikationen zunehmend überlagern, wird nicht nur die Konkurrenz verschiedener Normen, sondern auch deren Verhältnis zum Staat wieder zum Problem. Je mehr neue Fakten, gewandelte Praxis und nichtstaatliche Formen der Rechtsetzung das geschriebene Recht zurückdrängen, desto brüchiger wird ein Modell, das Recht und Staat auf die gleiche Stufe stellt, und desto stärker wächst das Interesse an früheren Epochen, die für die Herausforderungen der Gegenwart reiches Anschauungsmaterial bereithalten.

 

Grossi zieht eine dreifache Differenzlinie, und zwar zwischen Mittelalter, ,Moderne’ und Rechtsvielfalt als Herausforderung der Gegenwart. Der ,Mythos’ ist auf der mittleren Ebene angesiedelt, also der Epoche zwischen 1789 und 1989. Das Wort ,Mythos’ verwendet Grossi im pejorativen Sinne, worüber sich durchaus streiten ließe.[3] In sachlicher Hinsicht vermag die Kritik freilich zu überzeugen: Die Zeit vor 1789 (oder 1806) steht uns in mancher Hinsicht heute wieder näher als jene Epoche, die Grossi unter dem Begriff der ,Moderne’ erörtert. Zu ergänzen wäre lediglich, dass im 19. Jahrhundert die Historische Schule Savignys die Identifikation von Staat und Recht (oder von ,Legislative’ und ,Volkswille’) schon einmal einer grundlegenden Kritik unterzogen hat. Alles in allem hat Grossi ein Werk vorgelegt, das um so schwierige Themen wie Faktizität, Partikularität oder Vielfalt des Rechts kreist und dabei großes Lesevergnügen bereitet. Sein Ansatz ließe sich als eine Art ,juristischer Neorealismus’ charakterisieren, der jenseits der üblichen Dichotomien von ,Naturrecht’ und Positivismus einen neuen Zugang zur Wirklichkeit des Rechts eröffnet.

 

Hannover                                                                     Stephan Meder



[1]Vgl. nur das erfolgreiche Werk „L'ordine giuridica medievale“, 12. (unveränderte) Auflage, 2006 (Rezension der 11. Auflage, 2004 in: ZRG (GA) 124 (2007), S. 448-452). Den Begriff „ordine“ hat Grossi bewusst gewählt, um hervorzuheben, dass Gebot oder Befehl im mittelalterlichen Recht lediglich eine zweitrangige Rolle spielen (S. 6,  58ff.).

[2] In die Liste aufzunehmen wäre auch die von Grossi erwähnte „jakobinische Reduktion“ auf den Gegensatz von Staat und Individuum (S. 60, 137). Von hier aus zieht sich eine Linie zur ,Privatautonomie’ und zur Beschränkung der Regelbildung auf Gesetz und Vertrag. Allerdings ist diese „Reduktion“ schon einmal kritisiert worden, und zwar durch die Historische Schule, die auf Grundlage der ,Autonomie’ versucht hat, die Rechte intermediärer Gewalten  zu stärken (vgl. Stephan Meder, Ius non scriptum. Traditionen privater Rechtsetzung, 2008, S. 60ff.).

[3] Zu denken wäre etwa an die Klagen von Cesare Pavese, dass der ,Mythos’ heute zunehmend in Misskredit geraten sei (z. B. in den „Schriften zur Literatur“, 1997, unter dem Titel „Der Mythos“, S. 329-393).