Gönczi, Katalin, Die europäischen Fundamente der ungarischen Rechtskultur.
Juristischer Wissenstransfer und nationale Rechtswissenschaft in Ungarn zur
Zeit der Aufklärung und im Vormärz (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte
227 = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers 4).
Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XII, 319 S. Besprochen von András Jakab.
Die Arbeit wurde am Max-Planck-Institut für europäische
Rechtsgeschichte erstellt und ist zugleich die sog. Doktorschrift der Autorin
zur Erlangung der Doktorwürde der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
(D.Sc. – es entspricht der deutschen Habilitation).
Die Fundamente der modernen ungarischen Rechtskultur
wurden im Vormärz gelegt und sehr stark durch Wissenstransfer geprägt. Die
Autorin untersucht in der Periode von der Regierungszeit Maria Theresias bis
zur 1848er Revolution Akteure (Kodifikationsausschüsse,
Zeitschriftenredaktionen, Ungarische Akademie der Wissenschaften; ferner sog. liaisonmen,
wie Rechtswissenschaftler, Jurastudenten oder eben Buchhändler), Wege und
Formen dieses Wissenstransfers und gibt somit wertvolle mikrohistorische
Informationen zum Thema. Statt der Terminologie „Rezeption“ weist der von ihr
benutzte Ausdruck „Wissenstransfer“ auf eine umfassendere Methode: auch das
Wie, nicht nur das Ob und das Was der Übernahme wird analysiert. Nicht nur die
Primär- und Sekundärliteratur der damaligen ungarischen Rechtswissenschaft wird
aufgearbeitet, sondern auch die Gelehrtenkommunikation (Korrespondenzen
zwischen Karl J. A. Mittermaier und László Szalay, Ferenc Pulszky, Ferenc
Deák), die Matrikelbücher der Universität Göttingen, die Studienpläne in Ungarn
und der allgemeine sozialhistorische Kontext. Sowohl die ungarische
Rechtspraxis als auch die Anfänge der ungarischen Rechtswissenschaft werden dargestellt.
Die bisherige Literatur über die rechtlichen und
rechtswissenschaftlichen Traditionen hat (nach der Meinung der Autorin) eher
eine „isoliert-nationalen Sichtweise“ und versperrt somit die eigentliche Natur
der gegenseitigen Befruchtung. Die Autorin kämpft somit gegen zwei gängige
Paradigmen: (1) Einerseits gegen die Zentrum–Peripherie-Theorie, da der
Transfer nicht einspurig gewesen sei; (2) andererseits gegen die (in der
ungarischen Literatur) verbreitete Aufteilung der Rechtsgeschichte in
„allgemeine“ und „nationale“ Rechtsgeschichte. Letztere blende nämlich den
europäischen Kontext aus (p. 6).
An diesen Punkten sind allerdings die Folgerungen
der Autorin nicht ganz überzeugend. Ad 1. Sie konnte klar und mit vielen
Details zeigen, wie die deutsche Rechtswissenschaft Einfluss auf die ungarische
ausgeübt hat. Die andere „Spur“ scheint allerdings sehr schmal zu sein:
Schlözers ungarische Studenten haben für ihren Professor Daten zu Ungarn
geliefert (p. 274). Dies ist nach der Meinung des hiesigen Rezensenten von ganz
anderer (also nicht rechtswissenschaftlicher) Natur, sondern meistens nur eine Materialbeschaffung
zu Schlözers juristischer und rechtsgeschichtlicher Arbeit. Man kann sicherlich
gute Argumente gegen die Zentrum–Peripherie-Theorie bringen, aber das
Verhältnis zwischen deutscher Rechtswissenschaft und ungarischer
Rechtswissenschaft ist kein treffendes Beispiel dafür.
Ad 2. Auch die andere Folgerung der Autorin ist
eher fraglich. Die reine Tatsache, dass man Lehrbücher in Ungarn mit dem Titel
„ungarische Rechtsgeschichte“ versieht, bedeutet nicht unbedingt, dass die
Sichtweise isoliert-national wäre – man könnte ja auch „ungarische
Rechtsgeschichte“ im europäischen Kontext schreiben. In Ungarn spielte bisher ansonsten
der gemeineuropäische Kontext tatsächlich eine zu kleine Rolle in der
rechtsgeschichtlichen Literatur. Die Lehrbücher enthalten meistens eine
allgemeine (also keine Rechts-)Geschichte mit einer Beschreibung der Inhalte
der rechtlichen Regelungen. Historische Rechtssoziologie wird viel zu wenig
getrieben, über das sich wechselnde Paradigma der Juristen kaum etwas. Eine (der
deutschen ähnlichen) tiefgehende methodische Reflexion über die Aufgabe der
Rechtsgeschichte fehlt völlig. Es gibt also viele mögliche Kritikpunkte; die
Existenz der Lehrbuchgattung „Ungarische Rechtsgeschichte“ ist aber keiner. Das
Genre und sein Stil haben hier keinen notwendigen Zusammenhang.
In der detailreichen Gedankenführung erfährt man sehr
interessante (und bisher unerforschte) Details des ungarischen Rechtsdenkens,
wie z. B dass der so genannte Blutvertrag, die legendäre Gründung des
ungarischen Stammesverbandes vor der Ankunft im Karpatenbecken, als
Gründungsvertrag im Sinne der Vertragstheorien der Aufklärung des ungarischen
Staates verstanden wurde. (p. 44-45, 120, 133, 181, 272), oder dass Schlözers
Wirkung nicht nur in der Einführung des Disziplin „Staatenkunde“ im ungarischen
Rechtsunterricht lag, sondern auch in der kritischen Sichtweise des eigenen (p.
273).
Die Arbeit zeigt, dass trotz der Nationalisierung
der Rechtsordnungen (im 19. Jahrhundert) die wissenschaftlichen Netzwerke auch
weiterhin international blieben. Statt ius
commune man kann also über eine (teilweise) weiterlebende scientia iuris communis sprechen. Auch die
ungarische Rechtskultur wurde durch die peregrinatio
academica immer mit Konzepten der deutschen Rechtswissenschaft versorgt. Der
interessanteste Teil des deutschen Wissenstransfers beginnt gerade im
Zeitpunkt, wo das Buch endet -- und dauerte bis heute (mit einer schwächeren,
aber immer existierenden Einflussperiode unter dem Sozialismus). Der Leser kann
nur hoffen, dass in den nächsten Jahren auch ein zweiter Band folgt mit ebenso
vielen (und ansonsten schwer zu erreichenden) Details, der den deutschen
Wissenstransfer nach 1848 aufarbeitet. Das Buch ist gewissenhaft recherchiert
und sehr detailreich, ein grundlegender Beitrag zur ungarischen
Rechtswissenschaftsgeschichte, mit interessanten Details zur deutschen (insbesondere
bezüglich Schlözer und Mittermaier).
Madrid András
Jakab