Gerstenberger, Heide, Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt (= Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 1), 2. Auflage. Westfälisches Dampfboot, Münster 2006. 665 S. Besprochen von Arno Buschmann.
Bei dem hier vorliegenden Werk handelt es sich um die Neuauflage des von Heide Gerstenberger 1990 vorgelegten Werkes, das von ihr in Teilen überarbeitet wurde, ohne dass sie allerdings die Kernthese des Werkes verändert hat. Frau Gerstenberger geht es in ihrem Werk um die theoretische Erklärung der Entstehung des bürgerlichen Staates der Neuzeit. Ihre Kernthese ist die Behauptung, dass der bürgerliche Staat der Neuzeit eine spezifische Form des europäischen Nationalstaates darstellt, die sich nach ihrer Überzeugung nur aus dessen Vorgeschichte in Europa erklären lässt und von Europa in die kolonialen Siedlungen der europäischen Mächte transportiert wurde. Ihre Methode ist historisch-soziologisch, eine Methode, die in der angelsächsischen Forschung durchaus verbreitet ist, in der deutschen oder deutschsprachigen Forschungsliteratur jedoch kaum praktiziert wird, und auch dort, wo man sich ihrer bedient, nicht selten in dem Ruf steht, historische Tatsachen als bloßes Anschauungsmaterial für zuvor formulierte Theorien zu verwenden. Frau Gerstenberger will dieser Gefahr dadurch entgehen, dass sie an Hand von konkreten Beispielen, nämlich am Beispiel der geschichtlichen Entwicklung in England und in Frankreich, die Herausbildung der typischen Formen des bürgerlichen Staatswesens demonstriert und zu zeigen versucht, wie es in diesen Ländern zur Entstehung des bürgerlichen Staates gekommen ist. Sie meint, dass maßgebend für diese Entstehung in England die allmähliche Auflösung des Systems personaler Herrschaft und in Frankreich die Emanzipation der politischen Öffentlichkeit von der königlichen Herrschaft war. Als wichtigste Voraussetzung für die Ablösung des „Ancien Régime“ durch den bürgerlichen Staat müsse in England die Verteidigung der ökonomischen Führungsposition durch die politisch führenden Schichten des Adels im sozialen Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft, in Frankreich hingegen die Erringung und Verteidigung sozialer Führungspositionen durch den Adel auch während der politischen Umwälzungen gewesen sei. Alle diese Vorgänge hätten die Entstehung des bürgerlichen Staates als Staatstypus ermöglicht, wie er sich in der Folge in den europäischen Nationalstaaten entwickelt habe. Frau Gerstenberger setzt sich mit dieser Theorie, die hier nur in Umrissen skizziert werden kann, einerseits deutlich von den bekannten sozial- und wirtschaftsphilosophischen Theorien und den daraus destillierten ideologischen Glaubensbekenntnissen über die Entstehung des modernen Staates ab, anderseits versucht sie aus der historischen Analyse der konkreten Beispielsfälle strukturelle Elemente zu gewinnen, die ihr geeignet erscheinen, den Wandel vom „Ancien Régime“ zum bürgerlichen Staat in einer schlüssigen Theorie zu erklären.
Für den Rechtshistoriker liegt der Wert des voluminösen Werkes vor allem in der Einzelanalyse der historischen, auch der rechtshistorischen Vorgänge, in denen sich die Ablösung vom feudalistischen Herrschaftssystem und die sozialen Wandlungen und des Fortbestehens feudalistischen Formen trotz des Endes der Feudalherrschaft wie die Hinwendung zum bürgerlichen Staat manifestieren. Skeptisch müssen freilich vom rechtshistorischen Standpunkt die Versuche der historisch-soziologischen Typisierung betrachtet werden, mit denen die einzelnen historischen wie rechtshistorischen Phänomene in Frau Gerstenbergers Arbeit erfasst und zum Gegenstand einer historisch-soziologischen Typisierung gemacht, statt als historische Individualitäten begriffen zu werden. Selbst bei Max Webers idealtypischer Methode, an die Frau Gerstenberger anknüpft, gehen die Individualitäten der einzelnen Formen nicht selten unter oder werden von der Abstraktion vollständig absorbiert. Der Rechtshistoriker, der sich mit der konkreten Faktizität auseinanderzusetzen hat, steht solchen Bemühungen nicht nur skeptisch, sondern nicht selten sogar ablehnend gegenüber, weil hier die Vielfalt des historischen Geschehens um einer Theorie willen geopfert wird, auch wenn er zugeben muss, dass die Bildung von historischen Typisierungen als Kategorien einer Ordnung der historischen Erkenntnis in mancher Hinsicht unumgänglich ist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Typisierungen des historischen Geschehens in erster Linie das Substrat einer historischen Theorie bilden, nicht hingegen das Resultat einer Erkenntnis der historischen Faktizität.
Salzburg Arno Buschmann