Ehrlich, Eugen,
Politische Schriften, hg. und eingeleitet v. Rehbinder, Manfred (=
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung 88). Berlin,
Duncker & Humblot 2007. 206 S. Besprochen von Stephan Meder.
Kurz vor seinem Tod arbeitete Eugen Ehrlich
(1862-1922) an drei Beiträgen, von denen „Das Ende eines großen Reiches“ (1921)
und „Die Memoirenmanie der Generäle“ (1921) noch zu Lebzeiten und „Karl Marx
und die soziale Frage“ (1922) erst nach seinem Tod erscheinen konnten. Diese
letzten drei, in Bukarest aufgefundenen Arbeiten gibt der vorliegende
Sammelband in Rückübersetzung aus dem Rumänischen wieder. Darüber hinaus
enthält der Band eine Reihe weiterer neu aufgefundener und übersetzter Arbeiten
aus der Spätzeit von Ehrlichs Schaffen. Der Titel „Politische Schriften“
ist gut gewählt, zumal Ehrlich selbst bemerkt, er habe vor 1914, da „mit
anderen Arbeiten vollauf beschäftigt, keine politischen Artikel geschrieben“
(S. 105). Die „Politischen Schriften“ sind in drei Hauptgruppen gegliedert: „Zur
Zeitgeschichte des Ersten Weltkriegs“ (I), „Zur Sozialpolitik“ (II) und „Zur
Friedensbewegung“ (III). Ein Vortrag Ehrlichs „Über das ,lebende Recht’“
aus dem Jahre 1920 ist in einem Anhang untergebracht worden (IV).
I. Die erste Gruppe „Zur Zeitgeschichte des Ersten
Weltkriegs“ besteht aus fünf Aufsätzen, die den Zusammenbruch der
österreichisch-ungarischen Monarchie im Ersten Weltkrieg, den Verlust also von Ehrlichs
bisheriger politischer Heimat, analysieren.
In „Das Ende einer großen Revolution“ (S. 19-80) setzt sich Ehrlich
mit der These auseinander, dass nur die Idee eines Nationalstaates lebensfähig
und die Monarchie daran gescheitert sei, dass es keine österreichische Nation
gegeben habe. „Warum eine österreichische Nation nicht geboren wurde“, erklärt Ehrlich
wie folgt: Was „anderswo von selbst geschehen ist“, hat man „in
Österreich im Interesse des Staates gemacht“ (S. 21 - Hervorhebung im
Original). „Denn auch in anderen Ländern hatte der Staat keinen Erfolg, da er
selbst dieses Verschmelzen versuchte“. Ehrlich begreift die Bildung der
Nationen als einen „rein sozialen Prozeß“; wo sich „der Staat mit seiner
schwerfälligen Hand einmischt, gelingt es ihm nur zu verderben und zu
vernichten“ (S. 21). Eine Nation könne nur dort entstehen, wo der Staat „nicht
bewußt nationalisiert oder entnationalisiert“, sondern „die Gesellschaft in
ihrem Ganzen“ sich dieser Aufgabe annehme (S. 25).
Ähnliches gelte für die Sprache: Kein Volk lasse sich
eine bestimmte Sprache von oben aufzwingen, „benützt aber jede, wenn es merkt,
daß sie ihm hilft, sich mit den anderen zu verständigen“. Die Römer „haben
niemals den Nationalismus propagiert, und trotzdem haben sie mehr als die
Hälfte ihres Reiches latinisiert, in solchem Maße, daß Latein bis heute
weitergesprochen wird in der Fom der italienischen, französischen, spanischen,
portugiesischen und rumänischen Sprache“ (S. 52). In abgeschwächtem Maß gelte
dies auch für die deutsche Sprache als Instrument zur Verständigung innerhalb
der österreichisch-ungarischen Monarchie: Außer ihrer faktischen Anerkennung „war
alles, was man bewußt für die offizielle Einführung der deutschen Sprache
unternahm, unnötig und nutzlos“ (S. 52). Sprache wird auch gegenwärtig wieder
als Politikum betrachtet. Erinnert sei nur an die Bestrebungen verschiedener
Regierungen, einer Verdrängung von Teilen des einheimischen Wortschatzes durch
Anglizismen und Jargons entgegenzuwirken. Die Ausführungen Ehrlichs
machen verständlich, warum der Kampf gegen Backshop und Boarding
Ticket bislang weitgehend erfolglos bleiben musste.
Alles in allem ist Ehrlich der Meinung, es sei der
Monarchie nicht gelungen, das Land für seine Völker, also für Tschechen,
Ungarn, Slowenen, Kroaten, Slowaken, Deutsche, Polen, Ukrainer, Rumänen, Serben
oder Italiener, bewohnbar zu machen. Österreich-Ungarn habe den Wünschen,
Nöten, Bestrebungen seiner Völker nicht genügend Rechnung getragen (S. 74, 67).
Hier liege der Grund, warum die Monarchie, obwohl nicht besiegt, nach dem Krieg
wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen sei: „Weil in diesem Staat die
Nation nicht geboren wurde“ (S. 77) - weil im besten Fall „die Völker den Staat
akzeptierten, sich aber nicht mit diesem identifizierten“ (S. 80). In Zeiten,
in denen überall die Frage nach Europas Werten aufgeworfen wird und sich die
Klagen über den Mangel eines „Wir-Gefühls“ innerhalb der Europäischen Union
häufen, dürften die Überlegungen Ehrlichs auf besonderes Interesse
stoßen.
Der anschließende, mit „Memoirenmanie der Generäle“
überschriebene Beitrag (S. 81-104) ist eine Rezension von Erinnerungsschriften
der Generäle Erich Ludendorff (1865-1937) und Paul von Hindenburg (1847-1934).
In den Memoiren der Generäle sieht Ehrlich keine historischen Dokumente,
sondern lediglich Rechtfertigungen und Plädoyers „gegen alles, was ihnen
angelastet wurde“ (S. 83). Gleichwohl seien die Texte sehr wichtig, weil sie
beitragen zum „Verstehen der Ursachen eines bedeutsamen historischen Untergangs“
(S. 90). Im Verhältnis zu Hindenburg sieht Ehrlich in Ludendorff die
dominierende Persönlichkeit. Dessen Hauptfehler sei es gewesen, dass er nach
der Gründung eines „universellen Reiches“, nach einem „Eroberungsfrieden“
gestrebt und es versäumt habe, einen Versöhnungsfrieden zu unterzeichnen (S.
88, 94). Ludendorffs Pläne seien letztlich auf „die Erorberung der Welt“
gerichtet gewesen: „War dies Geistesstörung oder Verbrechen“? „Beides“, meint Ehrlich
(S. 97). Hätten Ludendorff und Hindenburg die Bemühungen Wilsons um einen
Versöhnungsfrieden akzeptiert, hätte sich Deutschland in den alten Grenzen als
ein starker Staat erhalten können, „ohne daß es irgendeine Niederlage hätte
hinnehmen müssen“ (S. 97).
Im Beitrag „Bismarck und der Weltkrieg“ (S. 105-119)
behandelt Ehrlich die Vorgeschichte dieser Niederlage. Otto von Bismarck
(1815-1898) habe die „Weltkoalition, der Deutschland im Weltkriege erlegen ist“,
selbst vorbereitet (S. 110). In Bismarck erblickt Ehrlich nicht den
Schöpfer bedeutsamer politischer Gedanken, sondern vor allem den Machtpolitiker
- einen „großen diplomatischen Techniker“, dem „die Völker“, die „Stimmungen in
der Gesellschaft“ oder „sonstige 'Imponderabilien“ wenig galten (S. 109, 110).
Bereits vor Beginn des Weltkrieges habe sich die verhängnisvolle Lage
Deutschlands, seine allgemeine Isolierung angekündigt. Zwar gab es auch
Freundschaften oder Allianzen. Doch waren sie nicht echt, weil sie „nur mit den
Regierungen, nicht mit der Gesellschaft geknüpft“ waren (S. 110): „Das System
der papiernen Bündnisse über die Köpfe der Völker hinweg, auf das Bismarck
unbegreiflicherweise soviel Wert legte, konnte sich unmöglich bewähren, in
einer Zeit, wo die Regierungen doch schließlich von den Völkern abhängen“ (S.
114f.). So sei es gekommen, dass Bismarcks Schöpfung nach kaum einem halben
Jahrhundert zugrunde gehen musste (S. 118 f.).
Den Abschluss der ersten Gruppe bilden zwei kurze
Beiträge über „Die Schuldfrage“ (S. 121-123) und „Die Amnestie“ (S. 125-128).
Im ersten Beitrag erörtert Ehrlich die bis heute diskutierte Frage nach
einer Kollektivschuld, und zwar, ob das „deutsche Volk“ die Schuld „für den
Ausbruch des Krieges und für eine Reihe von Vorkommnissen während des Krieges
treffe“ (S. 121). Er verneint dies, da der moderne Schuldbegriff auf dem
Gedanken beruhe, „dass jeder nur das verantwortet, was er selbst getan hat“ (S.
122). Der Krieg sei „Atavismus“, sei ebenso „Rückfall in der Urväter Barbarei“
wie die Idee einer Kollektivschuld, also der Vorstellung, daß jemand auch für
etwas einstehen müsse, was er nicht selbst verursacht hat. Im anschließenden
Beitrag (S. 125-128) begrüßt Ehrlich die Amnestie als den Versuch, „sich
mit den österreichischen Völkern friedlich auseinanderzusetzen“ (S. 125). Er
nimmt das Thema darüber hinaus zum Anlass für grundsätzliche Überlegungen zum
politischen Prozess und zur Gnade.
II. Im ersten der beiden Aufsätze über die Sozialpolitik
(S. 131-151) formuliert Ehrlich die These, dass Sozialpolitik in der
bitterarmen Bukowina nicht mit Hilfe von Normen betrieben werden kann, welche
ein über der Gesellschaft stehender Gesetzgeber von oben her ausbreitet. Ehrlich
warnt daher vor einer sozialistischen Staatswirtschaft und vor programmatischen
Äußerungen, wie sie etwa von den sog. Kathedersozialisten oder dem „Verein für
Socialpolitik“ formuliert werden (s. a. S. 12). Vielmehr glaubt Ehrlich
mit der klassischen Nationalökonomie des Liberalismus, „daß die Verteilung des
Volkseinkommens im Interesse der unteren Klasse vor allem durch Erhöhung des
gesamten Volkseinkommens bewirkt wird“ (S. 134). Dies setzt voraus, dass es
überhaupt Menschen gibt, die Güter produzieren: „Das Volk wird groß durch die,
die Güter erzeugen, aber nicht durch diejenigen, welche sich von den von
anderen erzeugten Gütern ernähren“ (S. 142). Ehrlich interessiert sich
daher zunächst mehr für Bauern als für Hofräte, Advokaten, Beamte und Professoren,
insbesondere aber erhofft er sich von einer Ansiedlung der Großindustrie eine
Erhöhung des Einkommens in der Bukowina: „Das ist allerdings ungeheuer schwierig,
denn eine Großindustrie läßt sich nicht plötzlich aus dem Boden stampfen“ (S.
149). Die zentrale sozialpolitische Aufgabe sieht Ehrlich also in einer
Lösung der wirtschaftlichen Frage, die er zugleich für die „wichtigste
nationale Frage“ hält (S. 142). Als zweite brennende Frage der Bukowina
bezeichnet Ehrlich die Judenfrage: „Ich selbst gehöre noch einem
Geschlechte an, für das es keine andere Lösung der Judenfrage gibt, als ein
vollständiges Aufgehen der Juden im Deutschtum“ (S. 142). Wenn eine solche
Position inzwischen überholt erscheine, so liege es „an dem Antisemitismus, der
das deutsche Volk ergriffen hat“ (S. 142, 143). In dieser Lage muss nach neuen
Lösungen gesucht werden. Dazu gehört u. a. der Zionismus, allerdings nicht im
Sinne einer jüdisch-nationalen, sondern einer „rein kolonisatorischen Bewegung“
(S. 148f.).
Dem anschließenden Beitrag über „Karl Marx und die
soziale Frage“ (S. 153-162) ist ein ansprechendes Portrait Ehrlichs
vorangestellt, welches aus der Feder des rumänischen Agrarsoziologen Dimitrie Gusti
(1880-1955) stammt (S. 153f., 9). Ehrlich zeigt sich dabei als profunder
Kenner nicht nur allgemeiner ökonomischer Zusammenhänge, sondern insbesondere
auch der marxschen Lehre. Im Mittelpunkt steht auch hier die These, dass eine
Steigerung des Einkommens und der Güterproduktion nicht nur den Reichen,
sondern auch den Armen zugute komme (S. 156f.). Dies habe der Marxismus
übersehen, der davon ausgeht, „daß der ganze Mehrwert vom Kapitalisten
geschluckt wird“ (S. 157).
III. Die dritte Gruppe des Sammelbandes enthält zwei neu
aufgefundene Beiträge zur Friedensbewegung und einen Aufsatz über die „Zukunft
des Völkerbundes“ - des Vorläufers der Vereinten Nationen. In „Die historischen
Grundlagen der Friedensbewegung“ (S. 165-171) analysiert Ehrlich
zunächst den Wandel, den der Begriff „Krieg“ im Laufe der Zeit erfahren hat.
Die Veränderungen seien vor allem darauf zurückzuführen, dass der Staat aus
einem „militärischen Machtzentrum“ allmählich „überwiegend zu einem Körper für
wirtschaftliche, kulturelle und nationale Verwaltung geworden“ sei und sich
Machtfragen dabei immer mehr in Rechtsfragen aufgelöst hätten (S. 169f.).
Im Beitrag über „Die sittlichen Voraussetzungen der
Friedensbewegung“ (S. 173-181) stellt Ehrlich „wirtschaftlichen“ und „unwirtschaftlichen
Erwerb“ (bzw. „wirtschaftliche“ und „heroische Sittlichkeit“) gegenüber.[1] Der
unwirtschaftliche Erwerb weise zurück in eine Zeit, in der einseitige Formen
des Besitzwechsels wie Raub oder Geschenk dominierend wirkten und die Gewalt
das grundlegende Mittel zur Durchsetzung von ,Recht’ gewesen sei. Ein
anschauliches Beispiel hierfür enthält die eigentümliche Zeremonie der in den
römischen Zwölftafeln erwähnten mancipatio, die vermuten lässt, dass der
Erwerber ursprünglich den Gegenstand nicht nur der juristischen Form halber,
sondern zur Ausübung der tatsächlichen Sachherrschaft mit der Hand ergriffen
hat (dazu näher Meder, Rechtsgeschichte, 3. Auflage 2008, S. 17, 20, 33).
Ähnlich weist das Ritual der vindicatio zurück in eine Zeit, wo ein
Erwerb aus eigener Kraft stattfand und die Gewalttat den eigentlichen
Geltungsgrund für einen Besitzwechsel darstellte (a. a. O., S. 34). So sah es
bereits Gaius, auf den Ehrlich ausdrücklich Bezug nimmt (S. 175). Ehrlich
schildert, wie im Laufe der Zeit der unwirtschaftliche (oder heroische) den
wirtschaftlichen Erwerb mehr und mehr verdrängte und wie im Zuge staatlichen
Wandels Machtfragen immer häufiger in Rechtsfragen aufgelöst wurden. „Nur im
Verhältnis der Staaten untereinander hat die unwirtschaftliche Sittlichkeit
bisher die Oberhand behalten“ (S. 178). Vor allem aber sei es nicht richtig, „daß
die wirtschaftliche Sittlichkeit vom Staate festgesetzt ist“, sie wurde
vielmehr „von der Gesellschaft erzeugt“ und „von der Gesellschaft mit rein
gesellschaftlichen Mitteln aufrechterhalten“, die viel weiter als die „staatlichen
Zwangsmittel“ reichen (S. 178). Die wirtschaftliche Sittlichkeit (oder der
wirtschaftliche Erwerb) entstehe, sobald die Menschen einsehen, dass es ihnen
besser geht, „vor allem aus dem Grunde, weil beim wirtschaftlichen Erwerb beide
Teile nützliche Güter erzeugen müssen, um sie für den Austausch bereit zu
halten, während beim Überwiegen des unwirtschaftlichen Erwerbes nur ein Teil
Güter schafft und der andere den Ertrag fremder Arbeit verprasst“ (S. 178). Ehrlich
hält die Hoffnung für berechtigt, „daß die Entwicklung in diese Richtung nach
dem Weltkriege weiter fortschreiten wird, bis der Krieg bei den gesitteten
Völkern zwar nicht abgeschafft, wohl aber ebenso erloschen sein wird, wie es
heute schon die Blutrache und die Fehde ist“ (S. 181).
Den Abschluss der dritten Gruppe bildet ein Beitrag über
den Völkerbund (S. 183-190), in dem Ehrlich abermals einige
Vorstellungen über die künftige Entwicklung der Menschheit zum Ausdruck bringt.
Den Ausgangspunkt bildet auch hier die Überlegung, daß der „Gang der Geschichte“
nicht „von den Absichten der Menschen, die Geschichte machen“ abhängt, sondern
von den „elementaren Kräften der Gesellschaft“. Diese müsse ins Auge fassen, „wer
über die künftige Entwicklung des Völkerbundes Auskunft erhalten will“ (S.
183). Zudem sei zu bedenken, dass der Weltkrieg die militärischen Machtmittel Deutschlands,
Österreichs und Russlands fast vollständig vernichtet habe. Die Folge sei, dass
die Stellung des bereits vor dem Kriege herrschenden britischen Weltreiches und
der Vereinigten Staaten weiter gefestigt und die „alte Weltstellung Europas“
unwiederbringlich verloren“ sei (S. 184f.). Die beiden Weltmächte werden jedoch
auch trotz ihres Übergewichts am Völkerbundgedanken Interesse zeigen, weil
ihnen dadurch die Möglichkeit eröffnet sei, bestimmte Entscheidungen auf eine
von ihnen unabhängige Veranstaltung abzuschieben. Ehrlich sieht freilich
auch, dass der Völkerbund nach dem Weltkrieg nicht mehr das werden kann, was er
nach seiner Grundidee eigentlich hätte werden sollen: „ein Verbund
gleichberechtigter und gleichwertiger Staaten“ (S. 185). Vielmehr wird er
hauptsächlich ein Organ der beiden Weltmächte sein. Daraus folge aber nicht
zwangsläufig, dass das „gemarterte Europa“, das sich „lange genug und schon vor
dem Kriege willenlos unter der Herrschaft toll gewordener Generäle wand“, von
England und Amerika nun Erbarmen erflehen müsse (S. 186). Anlass zur Hoffnung
gibt Ehrlich der Umstand, dass die beiden Mächte in allen ihren Erklärungen
während des Krieges ihre Demokratie der Autokratie der Mittelmächte entgegengesetzt
haben. Im Hintergrund steht Ehrlichs Demokratieverständnis, welches
einer kurzen Erläuterung bedarf.
Ehrlich meint,
die Demokratie habe sich stets mächtiger erwiesen als die Autokratie: „Denn
während die Autokratie ihre Kräfte größtenteils im Kampfe gegen die Gesellschaft
vergeudet, werden in der Demokratie die Kräfte der Gesellschaft vom Staate
verwertet“. Zwar mag die gewaltige Stoßkraft eines starken Staates „zeitweilig
große augenblickliche Erfolge erringen, aber im beharrlichen Kampfe sind ihr
die gesellschaftlichen Kräfte überlegen, denn sie sind elementare, stetig
wirkende Kräfte“ (S. 186f.). Unter den Prämissen fortschreitender
Globalisierung und transnationaler Normbildung muss heute die Feststellung von Ehrlich
interessieren, dass die moderne Gesellschaft „nicht auf einen Staat beschränkt“,
dass sie in „immer steigendem Maße“ die „gesittete Menschheit“ sei. Und wenn
nun England und Amerika „die Leitung der Geschicke der ganzen gesitteten
Menschheit zufällt, so werden sie der ganzen menschlichen Gesellschaft nicht
anders gegenüberstehen wie sonst die Regierung eines einzelnen Staates der
Gesellschaft ihres Volkes“ (S. 187). Wie ein demokratischer Staat die Kräfte
der Gesellschaft „verwertet“, so wird eine „Weltdemokratie“ (S. 188) - der
Völkerbund als „das große Staatenparlament“ (S. 189) - die sittlichen Kräfte
der Weltgesellschaft zu mobilisieren wissen. Darauf, dass sich die beiden
Weltmächte dieser Verantwortung auch nach dem Kriege bewusst bleiben und sie im
Weltbunde die Grundsätze der Demokratie weiterhin befolgen, „beruht jedoch auch
unsre ganze Hoffnung: denn ich wüßte nicht, worauf wir, nach dem Zusammenbruch
Europas, noch zu hoffen hätten, als auf England und Amerika“ (S. 188).
IV. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein Vortrag
über lebendes Recht (S. 191-200), in dem Ehrlich seine Vorstellungen
über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf die Rechtswissenschaft
anwendet. In Anknüpfung an seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ betont
er, dass ,Recht’ weniger durch staatliche Gesetze als durch Kräfte der
Gesellschaft entstehe. Nur diejene Sichtweise, die sich „auf die Gesellschaft
stützt“, befinde sich „in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und
sozialen Lage und dadurch dem nationalen Leben“ (S. 192). Ehrlich
richtet sein Augenmerk folglich auf Gebiete, die wir heute unter Stichworten
wie private Regel- oder Rechtsetzung erörtern würden, und zwar vor allem auf
Verträge, etwa Tarifverträge oder Kreditverträge (S. 195). In Gesetzbüchern sei
von den Verträgen nur sehr wenig die Rede, weil das „,lebende Recht’, unter dem
die Juristen als Verfasser der Gesetzbücher leben, nicht bekannt ist.“ Diese
begnügen sich „nur mit all dem Geschriebenen“, ohne sich „um das zu kümmern,
was im Leben geschieht“ (S. 196). Im Weiteren betont Ehrlich den
Unterschied, der zwischen „geschriebenem“ und „lebendem Recht“ besteht. Er
warnt vor einer Überschätzung der „Schrift“ und erhebt gegenüber der
Jurisprudenz die Forderung, geschriebenes und lebendes Recht besser in Einklang
zu bringen (S. 197). Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um den
Funktionswandel des Staates und der zunehmenden Bedeutung des ius non
scriptum müssen diese Überlegungen heute wieder auf besonderes Interesse
stoßen.[2]
In seinem Vortrag kommt Ehrlich auch auf die „seit
einem Jahrhundert vorherrschende“ historische Schule zu sprechen (S. 191), von
deren Lehren er sich schärfer als nötig glaubt, abgrenzen zu müssen.
Insbesondere ist zu bezweifeln, ob die historische Schule im Jahre 1920
überhaupt noch als „vorherrschend“ bezeichnet werden darf. Denn bereits nach
der Gründung des Kaiserreichs hatte sich der Etatismus der positivistischen
Staatsrechtswissenschaft gegenüber einer Lehre, die wie Ehrlich davon
ausgeht, dass das Recht eher von unten wächst als sich von oben ausbreitet und „die
allermeisten Rechtsfälle nicht aus dem Gesetzbuch entschieden werden können“
(Savigny), mehr und mehr durchgesetzt (vgl. Meder, Ius non scriptum, a. a.
O., S. 64ff.).
V. Die „Politischen Schriften“ handeln von der Frage nach
der Entstehung sozialer Prozesse, etwa von Nationen, Sprachregelungen in
Vielvölkerstaaten, Bündnissen, wirtschaftlichem Erwerb, transnationaler
Normbildung oder der Rechtsbildung im Allgemeinen. Gemeinsamer Nenner ist die
Feststellung, dass der Staat, wenn er sich „mit seiner schwerfälligen Hand
einmischt“, Gefahr läuft, „zu verderben und zu vernichten“. In Zeiten
fortschreitender Globalisierung und unzureichender Finanzierung müssen Ehrlichs
Gedanken zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft wieder auf Interesse stoßen.
Denn nach der Wende zum 21. Jahrhundert wird an den Staat zunehmend die
Forderung herangetragen, die von ihm „traditionell“ wahrgenommenen Aufgaben zu
überdenken. Er soll in bestimmten Bereichen nicht mehr Eigenleistungen
erbringen, sondern Leistungen an Dritte abgeben und sich darauf beschränken,
einen Rahmen zu gewährleisten. Diesem Wandel trägt etwa das Leitbild vom „Gewährleistungsstaat“
Rechnung. Von hier aus ergeben sich Verbindungen mit der Sichtweise Ehrlichs,
der den modernen Staat als „Verwaltungskörper“ - als „Körper für
wirtschaftliche, kulturelle und nationale Verwaltung“ begreifen will (S. 169).
Zwar würde auch Ehrlich nicht bezweifeln, dass der Staat nur als machtbewehrtes
Gebilde bestehen kann. Doch braucht er dazu die Kräfte der Gesellschaft. Wie
die moderne Politik- und Verwaltungswissenschaft ist daher auch Ehrlich
der Auffassung, dass die Kompetenz zur Rechtsetzung nicht allein auf den
staatlichen Gesetzgeber beschränkt bleiben darf. Zu den Vorteilen privater
Rechtsetzung gehören auch nach seiner Meinung größere Flexibilität in komplexen
Situationen und erhöhte Akzeptanz bei den Betroffenen (S. 196f.).
In seinen Beiträgen hat sich Ehrlich mehrfach zur
Zukunft der Menschheit nach der großen Katastrophe des Weltkrieges geäußert.
Wiederholt hat er die Vermutung geäußert, dass die Entwicklung von der „heroischen
zur wirtschaftlichen Sittlichkeit“ (z. B. S. 181) oder von der Autokratie zur
Demokratie (z. B. S. 187ff.) verläuft und dass „kein einziger europäischer
Staat“ imstande sein wird, sich der zusammengeschlossenen Macht des britischen
Weltreiches und der Vereinigten Staaten „entgegenzusetzen, selbst nicht im
Vereine mit Japan“ (S. 185). Ehrlich hat die auf den Ersten Weltkrieg
folgende Entwicklung in Richtung einer noch größeren Staatstätigkeit bishin zu
Diktatur und Zweitem Weltkrieg so zwar nicht vorhergesehen. Die nach 1945 und
1989 einmal mehr gefestigte Hegemonie der angelsächsischen Welt, die Rückkehr
zu „wirtschaftlichem Erwerb“ und Prosperität, die zunehmende Auflösung von
Machtfragen in Rechtsfragen oder der zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich
abzeichnende Funktionswandel des Staates lassen aber vermuten, dass die Hoffnungen nicht unberechtigt waren, die der Begründer der
Rechtssoziologie in die künftige Entwicklung der Menschheit gesetzt hat.
Hannover Stephan
Meder
[1] Diese
Gegenüberstellung ist nicht im Sinne einer Schablone oder eines Schemas,
sondern einer Forschungsheuristik zu verstehen (s.a. S. 175).
[2] Ehrlich nennt mehrere
Beispiele für ein Auseinanderfallen von geschriebenem und „lebendem“ Recht,
etwa einen Artikel des Code Civil von 1804, welcher die verheiratete
Frau in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkte. Danach war es der französischen
Frau ohne Einverständnis ihres Ehemannes nicht gestattet, etwas zu kaufen, zu
verkaufen oder zu verschenken, obwohl dies täglich vorkam: „Diese ärgerlichen
Widersprüche werden manchmal auch von den Richtern beseitigt. So dulden z.B.
die französischen Gerichte das Verhalten der verheirateten Ehefrau, indem sie
eine stillschweigende Zustimmung des Ehemannes unterstellen“ (S. 196). Von
dieser Bemerkung aus könnte ein neues Licht auf Ehrlichs Interesse an
stillschweigenden Willensakten fallen (vgl. Eugen Ehrlich, Die
stillschweigende Willenserklärung, Berlin 1893, ND Aalen 1970). Denn einiges
spricht dafür, dass Konstruktionen wie (stillschweigende) „Zustimmung“, „Anerkennung“,
„Duldung“ oder „Delegation“ Aufgaben von rechtsquellentheoretischer Relevanz erfüllen,
etwa um die Kluft zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Recht zu
überbrücken oder das Bild einer Alleinigkeit des ius scriptum zu retten
(dazu näher Meder, Ius non scriptum. Traditionen privater Rechtsetzung,
2008, S. 58 ff.).