Doehring,
Karl,
Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union - Erinnerungen. wjs Verlag,
Berlin 20008. 210 S., Ill. Besprochen von Bernd Rüthers.
I. Karl Doehring, einer der bedeutenden
Universitätslehrer des öffentlichen Rechts der Bundesrepublik, hat, neunundachtzigjährig,
seine Erinnerungen veröffentlicht.
Doehring, Schüler Ernst Forsthoffs, ist einer
der bedeutendsten, international anerkannten Gelehrten des öffentlichen und des
Völkerrechts der Nachkriegsgeneration. Er hat
umfassend auf den Gebieten des Staatsrechts und des Völkerrechts publiziert. Schwerpunkte
sind u. a. die Rechtslage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, das
Selbstbestimmungsrecht, die Menschenrechte, das Fremden- und Asylrecht, das Gewaltverbot, das Völkergewohnheitsrecht
und die Funktion der Vereinten Nationen. Seine Lehrbücher zur Allgemeinen
Staatslehre, zum Völkerrecht, und seine Grundzüge des Völkerrechts sind in
mehreren, z. T. fremdsprachigen Auflagen erschienen.
Der schmale, gut lesbare Band der Erinnerungen
ist nicht nur für Juristen fesselnd. Der Autor, 1919 in Berlin geboren, ist
Zeitzeuge eines Jahrhunderts radikaler Umwälzungen in vielen Bereichen. Der
Autor hat mehrere politische Systeme er- und überlebt: Weimar, das
Hitlerregime, in dem sein Vater 1934 aus politischen Gründen verhaftet wurde
und danach ständig von Verfolgung bedroht war, den Krieg als überzeugter
Panzeroffizier unter Rommel in Nordafrika, fünf Jahre Kriegsgefangenschaft, die
Besatzungszeit, die Bundesrepublik und parallel dazu die Deutsche Demokratische
Republik, schließlich die Wiedervereinigung und die Integration Deutschlands in
die Europäische Union. Sein Buch ist ein Kaleidoskop wechselvoller Vorgänge der
politischen Geschichte von Weimar, des aufkommenden NS-Regimes, der
Kriegsgeschichte aus der Sicht eines Mannes, der nach dem vorgezogenem Abitur
1937 „Reichsarbeitsdienstmann“, anschließend sofort Soldat wurde, nach elf
Jahren aus der Kriegsgefangenschaft nachhause kommt. Mit 29 beginnt er nach
mühsamer Zulassung – die Zulassungskommission schätzte ehemalige Offiziere
nicht – im Wintersemester 1948/49 in Heidelberg sein Jurastudium. Seine
Studienkollegen waren überwiegend Kriegsteilnehmer, die aus der Gefangenschaft
oder aus Lazaretten kamen, auch Arm- oder Beinamputierte und Rollstuhlfahrer.
Geld hatten die wenigsten. Die gängigen „Währungen“, mit denen der karge
Unterhalt bestritten wurde, waren Zigaretten, Kaffee, Nähgarn, Feuersteine und
andere „Hamsterware“.
II. Der Autor hat also aus einer ebenso
stürmischen wie wechselvollen Lebenszeit zu berichten. Der Leser bekommt einen
sehr einprägsamen und individuellen Einblick in die politische, militärische
und universitäre Zeitgeschichte der vielfach dramatischen Jahre zwischen 1930
und 2005. Angeregt wurde Doehring zur Niederschrift seiner „Erinnerungen“ durch
die Teilnahme an der Staatsrechtslehrertagung 2000. Horst Dreier und Walter
Pauly, zwei „jüngere Kollegen, die die NS-Zeit nicht erlebt hatten“,
referierten über „Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des
Nationalsozialismus“.[1]
Doehring hatte den Eindruck, die rechtspolitischen Positionen der damaligen
Juristen seien zutreffend, ja hervorragend wiedergegeben; aber es sei nicht
gelungen, die Gründe aufzudecken, die zu den damaligen Lehrmeinungen geführt
hätten. Das könne wohl nur ein Zeitgenosse, der die damalige Zeit erlebt habe.
Diese Sichtweise bezieht er dann auf die Gesamtheit der Geschehnisse in der
NS-Zeit und später.
Es geht also, für ihn wie für seine Leser, um
die Grundfragen des Geschichtsverständnisses: Wer ist ‚überhaupt‘ in der Lage,
komplexe historische Vorgänge zutreffend zu erfassen und wiederzugeben. Spätere
Betrachter neigten, so Doehring, dazu, die „Beweger der Geschichte“ in den
Mittelpunkt ihrer Betrachtungen zu stellen, nicht aber die „Bewegten“. Die
Memoirenliteratur zeige regelmäßig die Sichtweisen der Beweger; so etwa
Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ oder C. Schmitts „Ex captivitate salus“.
Von den Gedanken der durchschnittlichen Zeitgenossen, der „Bewegten“, seinen
Verhaltensweisen, seinem Mut oder seiner Feigheit, seiner Akzeptanz oder seiner
Ablehnung, sei wenig oder gar nicht die Rede. Doch erst in ihnen offenbare sich
der „Geist der Zeiten“.
Er schreibe seine Erinnerungen nieder, gerade
weil er kein Beweger des Zeitgeistes gewesen sei, bestenfalls später als
Hochschullehrer versucht habe, darauf Einfluss zu nehmen. Dasselbe gelte für
seine Erlebnisse und Wahrnehmungen als Wehrmachtoffizier im Kriege. Gerade in
den schwierigen und katastrophalen Lagen. Die Wiederbelebung dieser Zeiten in
den heutigen Medien aller Art wirken aus seiner Sicht meistens ungemein
theatralisch. Der einfache Soldat und Offizier habe nicht auf einer Bühne
gestanden, sondern mitten im harten Geschehen des Augenblicks und habe dort
handeln müssen. Das Kind erlebe die Schule als Realität, nicht die Schulpolitik.
Der Jurist erlebe den Fall, nicht die Rechtsphilosophie, so bedeutsam sie auch
sei. Diese Betrachtung des Autors zur Rolle der Zeitzeugen für die
Geschichtsschreibung wird nicht den ungeteilten Beifall der Historiker finden.
Ihnen gelten die Zeitgenossen eher von zweifelhafter Realitätsnähe. Aber sicher
sind sie für ein vollständiges Geschichtsbild wertvoll, wenn nicht
unverzichtbar. Ihre Zahl nimmt, was das 20. Jahrhundert angeht, ständig ab.
Seine unvoreingenommenen Leser werden dem Autor für seine klaren Schilderungen
und Wertungen dankbar sein – auch und gerade dort wo Widerspruch heraus- und den
Zeitgeist oder die political correctness in die Schranken fordert.
Doehring will also vermitteln, wie er als ein
einfacher („bewegter“) Zeitgenosse die Kindheit und Jugend in der Weimarer
Zeit, die Machtübernahme Hitlers, die bald beginnende politische Verfolgung,
zeitweilige KZ-Haft und Berufsverbot seines Vaters als Anwalt (er hatte für die
Sozialdemokratische Partei und die ‚Bekennende Kirche‘ gearbeitet), die
Ermordung eines Vetters und die Kontakte der Familie mit namhaften
Regimegegnern erlebt hat. Der Vater, der nach dem 20. Juli 1944 von der Gestapo
erneut vernommen wurde und anschließend untertaucht, wurde nach 1945 durch die
sowjetische Geheimpolizei zeitweilig erneut verhaftet und kam schließlich durch
einen ungeklärten Verkehrsunfall auf der Autobahn bei Berlin ums Leben.
Der Autor berichtet über einzelne Fälle der
Judenverfolgung in seiner Umgebung, aber auch über zahlreiche Versuche von ‚arischen‘
Mitbürgern, bedrohten Juden oder ‚Mischlingen‘ in ihrem Umfeld zu helfen. Dabei
erwähnt er die Tatsache, dass sein Lehrer Ernst Forsthoff 1942 in Wien – F. war
selbst in das Visier der Gestapo geraten und trotz einer offiziellen Berufung
mit einem Vorlesungsverbot belegt worden – seine Lebensmittelkarte mit einer
untergetauchten jüdischen Schauspielerin geteilt hat. (Hinzuzufügen, weil für
das gespaltene Bewusstsein vieler damals kennzeichnend, bleibt der Umstand, dass
F. 1933 in seiner Schrift „Der totale Staat“ (S. 37f.) klar antisemitische
Thesen vertreten hatte, die auch in späteren Publikationen noch vorhanden sind.[2])
III. Der Lebensabschnitt „Reichsarbeitsdienst“
und „Wehrdienst“ begann unmittelbar nach dem Abitur 1937 mit 18 Jahren. Er war
aus der Sicht des Autors eine wichtige, prägende, im Kern positive Erfahrung,
besonders durch die soziale Mischung der Dienstleistenden und die Qualität des
Führungspersonals. Die sozialen Unterschiede seien durch die gemeinsame harte
Arbeit beim RAD eingeebnet worden. Es habe sich, wie später bei der
Rekrutenausbildung eine ausgezeichnete Kameradschaft eingestellt. Er habe
gerade in dieser Zeit gelernt, in schwierigen, angespannten Situationen über
alle Unterschiede hinweg den richtigen Ton zu treffen, was im ganzen späteren
Leben, nicht zuletzt in den Unruhen um 1968, ein Vorteil gewesen sei.
Auch die harte militärische Ausbildung bei der
Panzerwaffe hat er in guter Erinnerung. Sein Kompaniechef sein ein
Truppenoffizier wie aus dem Bilderbuch gewesen. Vom ersten Tage an habe den
Offizierskorps seines Regiments seine Hochachtung gegolten, „großartige
Fachleute“, nicht zu streng, aber hart, wenn es um die Sache ging, bei recht
gutem allgemeinem Bildungsstand. Auch die ausbildenden Unteroffiziere seien –
mit wenigen Ausnahmen – fair und zuverlässig gewesen; Schikanen habe er nicht
erlebt. Nach der Grundausbildung 1938 wollte Doehring sich zu den
Wehrmachtteilen melden, die damals auf der Seite Francos im spanischen
Bürgerkrieg eingesetzt waren. Der Kompaniechef habe ihm gesagt, man werde den
Krieg noch früh genug erleben.
Er behielt Recht. Mit dem Kriegsausbruch am 1.
September 1939 wurde die Truppe im Polenfeldzug eingesetzt. Im März 1939 nahm
der Autor mit seiner Panzerdivision am Einmarsch in das Sudetenland, also in
die Tschechoslowakei teil. Gerade 20 Jahre alt, erlebte er erste Erschießungen
von Partisanen. Nach der Eroberung von Graudenz wurde er aus nächster Nähe Zeuge
eines Frontbesuches Adolf Hitlers. Dieser sei in einfachem Feldgrau erschienen,
habe das Gespräch mit den Kommandeuren ganz sachlich geführt und nicht den
Eindruck erweckt, er wolle sich als „Gröfaz“ (größter Feldherr aller Zeiten)
präsentieren.
Im Herbst 1940 (21 Jahre) zum Leutnant
befördert, nahm Doehring ab März 1941 unter Generalfeldmarschall Rommel am
Afrika-Feldzug teil. Der Wüstenkampf sei beiderseits relativ fair und nach den
Regeln des Kriegsrechts, gelegentlich sogar mit Generosität geführt worden. Um die
Jahreswende 1941/42 wurde Doehring verwundet, von englischen Soldaten, die in
fanden, sorgfältig verbunden, bald darauf bei einem Gegenstoß von den eigenen
Truppen wieder befreit. Zur Genesung nach Deutschland geschickt, macht er in
und um Berlin neue Erfahrungen. Die Stimmung sei zwiespältig zwischen
Vaterlandsliebe und Misstrauen gegenüber der ‚braunen Führung‘ gewesen, vor
allem nach Stalingrad. Vermittelt durch den Vater begegnet er mit Henning von Tresckow,
Fabian von Schlabrendorff und Ewald von Kleist-Schmenzin, maßgeblichen Männern
des 20. Juli 1944. Er staunt über die Offenheit und Härte der Kritik am
Hitlerregime, ist nachhaltig beeindruckt vom Gegensatz der Überzeugungen:
Anständige Leute wie auch er bisher, glauben an einen gerechten Kampf für ihr
Vaterland und ebenso anständige Leute sehen Verbrechen des Regimes gegen die
Menschlichkeit und ihr Vaterland in den Abgrund geführt. Im Offizierskasino von
Neuruppin erlebt er, dass angetrunkene Offiziere auf ein Hitlerbild am Kamin
schießen. „Gott sei Dank hat uns niemand wegen dieses betrunkenen Exzesses
verpfiffen.“
Kurz vor seiner Rückreise zu seiner Truppe in
Nordafrika Anfang 1943 äußert sein Bruder die Erwartung, dass er bald zu den
Engländern überlaufen werde. Er könne doch nicht für ein Regime kämpfen, das
seinen Vater ständig mit Verhaftung bedrohe. Für ihn kommt das aber nicht in
Frage: Er „hätte es nicht fertiggebracht, meine Soldaten und Kameraden im Stich
zu lassen oder durch irreführende Befehle zu gefährden.“ Auch politisch sah er
das anders: Er war der Ansicht, es gebe noch die Chance, einen erträglichen Frieden
zu erreichen.
Von 1943 bis 1948 war der Autor am Ende des
Suez-Kanals unweit des Roten Meeres als Kriegsgefangener interniert. In dem
Offizierslager entstand unter Hans Ulrich Scupin, dem späteren Fachkollegen in
Münster, eine Art ‚Wüstenuniversität‘, deren Kurse und Examina für Juristen
später in der Bundesrepublik sogar bei der Berechnung der Studienzeiten
berücksichtigt wurden. Doehring schildert Exzesse des Lagerlebens sowohl der
Bewacher wie der Insassen, etwa das Lynchen eines ‚Überläufers‘ zum Feind durch
die eigenen Kameraden. Die Kapitulation wird von den vielen, die bis dahin fest
an den Endsieg glaubten, als Zusammenbruch ihres Weltbildes erlebt. Erst im
Frühjahr 1948 wurde der Autor unter den letzten Soldaten des Afrikakorps in die
Heimat entlassen.
IV. Im Wintersemester 1948/49, fast 30 Jahre
alt, beginnt er in Heidelberg sein Jurastudium. Er begegnet Walter Jellinek,
der seine Frage, wie das Grundgesetz funktionieren werde, wenn einmal im
Bundestag und Bundesrat politisch entgegengesetzte Mehrheiten bestünden, als
„völlig abwegig“ einstuft. Gustav Radbruch fällt ihm durch „apodiktische
Äußerungen“ auf, ein Eindruck, den der Studienkollege Kurt Rebmann, später
Generalbundesanwalt, in seinen Erinnerungen bestätigt. Positivisten waren für
den früheren Positivisten Radbruch böse Menschen. Karl Engisch erwähnt er
nicht. Von der Unnahbarkeit der meisten Professoren gegenüber den Studenten
fühlt er sich enttäuscht. Fragen in den Lehrveranstaltungen waren unerwünscht.
Monologe der Professoren bildeten den Kern der Lehre. Als Fahnenjunker habe er
sich mit seinem Regimentskommandeur ungezwungener unterhalten können als mit
den meisten Professoren.
Eine Ausnahme bildete Ernst Forsthoff, dessen
Schüler er wurde. Er erwähnt dessen frühe Sympathie für das NS-Regime im
Gefolge seines Lehrers C. Schmitt, seine literarische Legitimation des
Führerstaates, aber auch seine zunehmende Distanz zum Nationalsozialismus nach
1936 und seine Spannungen mit NS-Institutionen in Königsberg und Wien, die
allerdings nie die Grenze zum Widerstand erreichten. Vielleicht spielte seine
Prägung durch den Vater, einem Spitzenfunktionär der „Deutschen Christen“ im
Rheinland, eine hintergründige Rolle?
Nach fünf
Semestern (eines wird im aus der ‚Wüstenuniversität angerechnet) legt er
ein besonders gutes Referendarexamen ab. Seine anschließenden Erfahrungen in
der praktischen Ausbildung stimmen ihn oft kritisch und skeptisch. Als
Referendar wird er von Forsthoff an das wieder errichtete Max-Planck-Institut
für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht empfohlen und wird dort
Assistent bei Bilfinger. Erstaunt erlebt er, dass die Institutsleitung bei
Gutachten mehrfach Rücksichten auf die politischen Ansichten und das „Gefallen
der Auftraggeber“ nimmt. Er selbst ist später als Direktor des Instituts zu
solchen Konzessionen nicht bereit. Ebenso lehnt er es ab, Mitarbeiter zu
politischen Rücksichten anzuhalten.
V. Wegen der intensiven Mitarbeit im MPI wird er
erst 1956 – mit 37 Jahren, nach seinem Assessorexamen – promoviert. Die Habilitation
bei Forsthoff folgt 1962; er ist 43 Jahre alt. Anschließende Berufungen nach
Göttingen und Heidelberg lehnt er, obwohl nur Privatdozent, zum Erstaunen
vieler ab. Er will zunächst nur in der Forschung arbeiten und bleibt am MPI.
Als dann sein Lehrer Forsthoff 1967 unter dem Einfluss der Studentenunruhen in
Heidelberg seinen Lehrstuhl vorzeitig aufgibt, erhält er die Nachfolge
angeboten und nimmt an. Er bleibt dem MPI verbunden und wird einer der
Direktoren.
Sein Bericht über die Arbeit als Hochschullehrer
beginnt mit dem Hinweis, dass er sich in den fast vierzig Jahren seiner
Lehrtätigkeit ein einziges Mal wegen Krankheit in einer Vorlesung durch einen
Assistenten hat vertreten lassen. Er hat etwa hundert Dissertationen und sechs
Habilitationen betreut (G. Ress, K. Hailbronner, T. Stein, R. Dolzer, M.
Herdegen, Juliane Kokott).
VI. Aufmerksam hat er die Begegnungen mit
Kollegen wahrgenommen, die schon vor 1945 öffentliches Recht gelehrt hatten und
nun dasselbe unter dem Grundgesetz taten. Auf die Frage des amerikanischen
Kollegen Detlef Vagts (Harvard), wie das denn möglich sei, meinte er, man müsse
diese Gelehrten in Kategorien einteilen.
Die erste Gruppe seien die juristischen
Handwerker. Sie fragten nicht nach den rechtsphilosophischen und moralischen
Grundlagen des Rechts, nicht nach dessen Geltungsgrund. Diktatur oder
Demokratie seine gleichermaßen gültig. Es gehe nur darum, Konsequenzen aus der
jeweils etablierten Staatsform abzuleiten. Nach dem warum der Geltung habe der
Jurist nicht zu fragen. Zu dieser Gruppe rechnet er C. Schmitt, E. R. Huber,
aber auch H. Kelsen und Erich Kaufmann in seinen jüngeren Jahren. Bei diesen
Handwerkern spiele auch die geistige Eitelkeit eine bedeutsame Rolle, denn sie
wollten unter jedem Regime als dessen beste Interpreten anerkannt sein.
Die zweite Gruppe identifiziert sich mit dem
jeweiligen Staatsideal, weil diese Haltung Karriere verspricht. Ein Wandel der
Staatsauffassung koste sie nichts, weil die Karrieresucht immer die gleiche
bleibe. Das erkläre auch den vorauseilenden Gehorsam, wie man ihn von manchen
Konvertiten kenne. Der Leser vermisst hier eine Abgrenzung von der ersten
Gruppe. Treues Handwerkertum und Karrieresucht können in wechselnder Intensität
gemeinsame Motive sein.
Die dritte Kategorie sieht Doehring in den
„Schweigsamen“. Sie hätten das NS-Regime abgelehnt, äußerten sich aber nicht
dazu, weder in Anerkennung noch in Ablehnung, wohl in dem Bewusstsein, dass es
zwecklos sei, gegen Unabänderlichkeiten zu kämpfen. Als Beispiel nennt er
Wilhelm Grewe.
Eine vierte Gruppe sieht Doehring in denen, die
sich 1933 von der Aufbruchsstimmung mitreißen ließen, jedoch bald – manche eher
später – enttäuscht abwendeten, als sie die Entwicklung des Regimes sahen.
Diese Gruppe war übrigens bei denen, die nach der Machtergreifung dem neuen
Staat dienten, vielleicht die stärkste, gleichsam eine Generationskohorte,
welche durch ihre Sozialisation geprägt, sowohl das Ende der Republik als auch
den aufkommenden autoritären Führerstaat begeistert begrüßte und legitimierte.[3]
Er nennt seinen Lehrer Forsthoff als Beispiel und dessen persönliche und
politische Trennung von dessen Lehrer Schmitt. Die spätere, lebenslang währende
freundschaftliche Verbindung der beiden[4]
wird nicht kommentiert.
Die fünfte Gruppe nennt Doehring die „Helden
unter den Professoren“, die sich unter persönlicher Gefahr zum aktiven
Widerstand entschlossen. Sie sei verschwindend klein gewesen. Das sei nicht
überraschend, denn ihr habe, anders als bei militärischen und politischen
Widerstand, jede Gruppenbildung (Kreisauer Kreis, Rote Kapelle etc.) ebenso
gefehlt wie die erforderlichen „Gallionsfiguren“. Beispiele nennt er hier
nicht, obwohl auch dieser Widerstand Namen hatte, etwa den Freiburger Kreis um
Walter Eucken, zu dem auch Juristen gehörten, etwa Franz Böhm,
Friedrich Justus Perels, Erik Wolf
und Ernst Wolf. Werner Flume wäre
ebenfalls zu nennen.
VII. Zu Recht erwähnt der Autor,
dass von führenden Autoren der NS-Zeit nach 1949 exzellente wissenschaftliche
Werken verfasst worden seien. Für das öffentliche Recht erwähnt er E. R. Huber
(Verfassungsgeschichte), Ernst Forsthoff (Verwaltungsrecht), Georg Dahm und
Friedrich Berber (Völkerrecht), Theodor Maunz (GG-Kommentar und Staatsrecht)
und Ulrich Scheuner. Das habe der jüngeren Generation die Möglichkeit gegeben,
daran anzuknüpfen. Das geschah allerdings, ohne die Vorgeschichte zur Kenntnis
zu nehmen, wie auch das alternative Beispiel der „Bielefelder Schule“ der
Geschichtswissenschaft (Kocka, Wehler, Mommsen u. a.) zeigt.
Erst der späteren Generation blieb
es dann vorbehalten, die lange verdrängte Geschichte der Rechtswissenschaft in
den beiden deutschen Diktaturen wahrzunehmen, anzunehmen und ernst zu nehmen,
nämlich Folgen daraus zu ziehen. Gerade die deutsche Staatsrechtslehre hat sich
damit besonders schwer getan, nämlich bis in das Jahr 2000.
1. Nicht ohne engen inneren
Zusammenhang folgt in den „Erinnerungen“ der Abschnitt über die
Studentenunruhen von 1968. Doehring beginnt mit der These, diese Turbulenzen
hätten eine bis heute fortwirkende Destruktion nicht nur der Hochschulen,
sondern „der gesamten politischen und gesellschaftlichen Ordnung unseres
Staates bewirkt. Denn die Nachkommen dieser utopistischen Schwarmgeister
besetzten anschließend Teile der für die Öffentlichkeit wesentlichen Positionen
wie Lehrerschaft, Gerichtsbarkeit, Beamtenschaft, allgemein und Politik.
Kanzler und Minister gehörten zeitweilig zu diesen Nachkommen…“
Die Einschätzung stimmt
nachdenklich. Es ist im Ergebnis sicher zutreffend, dass die Ereignisse, die um
und nach 1968 die Bundesrepublik bewegten, bleibende Veränderungen in vielen
Bereichen ausgelöst haben. Auch die personelle Durchsetzung der
Führungsstrukturen in Gesellschaft und Staat ist unbestreitbar. Es hat etwas
stattgefunden, was nicht zu Unrecht als eine Art „Kulturrevolution“ bezeichnet
werden kann. Ganz neu war und ist dieser Vorgang allerdings in Deutschland
nicht. Die Systemwechsel von 1918/19, 1933, 1945/49 und 1989 haben, aus anderen
Ursachen hervorgegangen, ähnliches bewirkt. Bei nüchterner Betrachtung konnte
eigentlich nicht erwartet werden, dass die Perversionen des Rechts und der
Moral, die das NS-Regime ausgelöst hat, mit einer schlichten Rückkehr zu einer
parlamentarischen Demokratie nach Art der frühen Bundesrepublik bereits
verarbeitet seien. Denn auch dieses Regime hatte ja erhebliche Teile seiner
Eliten und deren ‚Nachkommenschaft‘ in die Führungsstäbe der neuen Gesellschaft
und des demokratischen Staates hinübergerettet, wie nicht anders zu erwarten.
Die Anführer der Studentenunruhen waren ihren Eltern, gegen die sie
revoltierten, oft ähnlicher als ihnen das bewusst und lieb war. Das gilt für
ihre totalitären Idole (Lenin, Mao und Ho Tschi Minh) wie für ihre Ziele
(Beseitigung des liberalen Verfassungsstaates) und Methoden (etwa den Terror
der von Minderheiten gemanagten Vollversammlungen).
2. Die Bezeichnung
„Studentenunruhen“ trifft, wie Doehring zutreffend feststellt, die komplexen
Vorgänge ebenso wenig wie die pauschale Datierung „1968“. Es waren verschiedene
Gruppen, welche die „Bewegung“ inspirierten. Die studentischen Anführer waren
eine kleine Gruppe, ganz überwiegend großbürgerlicher Herkunft, nicht selten
mit Eltern, die in der NS-Zeit zum „Establishment“ gehört hatten. Die große
Menge der Studenten waren amüsierte Zuschauer, genossen die ungewohnten
Massenveranstaltungen, freuten sich an den rhetorisch gekonnt und oft ulkig
vorgetragenen Angriffen auf die tradierten und steifen Formen der Universität
sowie auf nicht selten autoritäre Professoren. Doehring selbst beschreibt das
schlechte Gesprächsverhältnis am Beginn seines Studiums. Die Mehrheit wähnte
als Folge der Spektakel vielleicht einen Aufbruch in eine freiere Welt und
wartete ab. Aber die Studenten waren nicht die eigentlichen Urheber. Hinter
ihnen standen Professoren, die mit der politischen Entwicklung der
Bunde3srepublik schon in den frühen sechziger Jahren zutiefst unzufrieden waren
und eine andere Republik wollten. Die frühen Propheten waren Predigten gegen
die repressiven Autoritäten, den „Adenauerstaat“ und den „Spätkapitalismus“. Neben
diese Ideengeber traten dann andere Interessengruppen, etwa die
„Bundesassistentenkonferenz“, die den eigenen erleichterten Aufstieg in der
akademischen Hierarchie anstrebte, im Ergebnis äußerst erfolgreich, mit
sichtbaren Beispielen von Assistenten als Präsidenten an der Spitze großer und
ehedem namhafter oder (Bremen) neu gegründeter Universitäten.
Doehring schildert die Ziele und
Praktiken der „studentischen Revolutionäre“ anschaulich, auch ihre „Erfolge“
bei langzeitigen und gewaltsamen Behinderungen des Lehrbetriebs in Heidelberg.
Zu Einzelheiten dieser Heidelberger Unruhen im Sommer 1970 gibt es zwei ebenso
pointierte wie unterschiedliche Darstellungen, nämlich die in Doehrings
„Erinnerungen“ (S. 142-151) und eine von Bernhard Schlink, der sich damals (26
Jahre) in Heidelberg auf seine Promotion vorbereitete. Beide schildern die
studentische Blockade eines Hörsaals gegen die Professoren Hans Schneider und
Karl Doehring: (Bernhard Schlink, Vergangenheitsschuld, Zürich 2007, S.
145-153; 157-163). Der Anführer der Blockade, Wortführer der revolutionären
„Rote Zelle Jura“, wird später für öffentliches Recht habilitiert und nach
heftigen Kontroversen schließlich in die Vereinigung der deutschen
Staatsrechtslehrer aufgenommen. Heute ist er Kollege Schlinks an der
Humboldt-Universität in Berlin. Die Divergenz dieser beiden Geschichtsbilder sollte
sich der Leser nicht entgehen lassen. Sie führt heran an eine bewegte und
folgenreiche Epoche der deutschen Universitätsgeschichte. Der Autor schildert
den Abwehrkampf einer kleinen Minderheit gegen den Verfall der
Entscheidungsstrukturen und der Leistungsfähigkeit der Hochschulen. Die
Ignoranz der Landesgesetzgeber ist daran ebenso beteiligt wie das ängstliche
Zurückweichen vieler Professoren gegenüber den Zumutungen der
Universitätsleitungen und der Landesbehörden, welche die Sicherheit in den
Hochschulen nicht mehr garantierten. Sein Rektor in Heidelberg, ein Theologe,
wurde von einer kleinen Professorengruppe gestützt, welche verkündete,
„begrenzte Regelverletzungen seien hinzunehmen“. Parallel dazu wurde im Februar
1970 unter der Leitung des Assistenzarztes Dr. Wolfgang Huber in Heidelberg das
„Sozialistische Patientenkollektiv“ gegründet. Die Universität
finanziert der Gruppe ein eigenes Quartier und bezahlte dem inzwischen von der
Universitätsklinik entlassenen Huber das Gehalt weiter. Von den 52 Mitgliedern schlossen sich bald mehr als 15 der
„Rote-Armee-Fraktion“ (Baader-Meinhof-Bande) an.
3. Der Autor lässt die Entwicklung
des Verfalls der Universitätsstrukturen im Geiste der vermeintlichen
Demokratisierung und Liberalisierung unter dem Banner der
„Selbstverwirklichung“ bildhaft Revue passieren. Hinter dem von ihm gemeinsam
mit einem Kollegen bewohnten Haus wird eines Nachts eine Rohrbombe gezündet,
kein Einzelfall sondern in den Zentren der „Bewegung“ (Berlin, Heidelberg,
Göttingen u. a.) ein „normales“ Ereignis der Zeit. Der Heidelberger Rektor
hatte vom Sprengstoffbesitz der „Revolutionäre“ gewusst. Gegen das neue
Hochschulgesetz Baden-Württembergs legte er – gegen den Rat vieler Kollegen
(‚das sei aussichtslos und gegen den Zeitgeist‘) – zunächst als einziger
Professor des Landes Verfassungsbeschwerde ein, - im Ergebnis erfolgreich. Die
„Drittelparität“ und mehrere Landesgesetze wurden für verfassungswidrig
erklärt.
In der Rückschau zieht er eine nach
allen Seiten kritische Bilanz der Folgen der „68er“. Die Ursprünge der
„schleichenden Destruktion der Gesellschaft“ liegen aus seiner Sicht lange vor
der Revolte. Eine dominante Triebkraft war aus seiner Sicht die bereits vorher
verbreitete und generell akzeptierte Parole von der Selbstverwirklichung, übrigens ein Leitmotiv der von Enzensberger
herausgegebenen „Kursbücher“, der Pflichtlektüre der „Revolutionäre“. Das
übersteigerte Kollektivdenken des Totalitarismus sei in einen extremen
Individualismus umgeschlagen: „Das Vaterland bedeutete nichts mehr, die
Familien zerbrachen, die Kirchen hatte sich zum Teil … selbst desavouiert oder
liefen der ‚Moderne‘ nach, wertfreier Materialismus wurde entdeckt, Kunst und
Ästhetik wurden konturlos und Verantwortung jeglicher Art für das Gemeinwesen
verkümmerte…“
VIII. Es folgt ein interessanter
Einblick in die Arbeitsweise der Max-Planck-Gesellschaft , ihre hierarchische
Struktur und ihre dem Wandel der Zeit nicht verschlossene, vom Autor kritisch
betrachtete Berufungspolitik sowie die beiden Neugründungen, nämlich des
„Instituts für Bildungsforschung“ (1963 unter dem Juristen Helmut Becker) und
des „Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der
wissenschaftlich-technischen Welt“ (1970 unter Carl Friedrich von Weizsäcker
und Jürgen Habermas; das Institut wurde vom Senat der Max-Planck-Gesellschaft
1981 geschlossen). Das Institut für ausländisches öffentliches Recht und
Völkerrecht, dem er als Direktor noch heute angehört, hat sich nach seinem Resümee
unter den Direktoren Mosler, Bernhard, Frowein und Steinberger zusammen mit
einem exzellenten Mitarbeiterstab Weltgeltung erworben. Aus dem Mitarbeiterstab
sind international renommierte Spitzenjuristen hervorgegangen.
IX. Besonders lesenswert sind
Doehrings Gedanken zur Wiedervereinigung Deutschlands, dessen Rechtslage nach
1945 er eingehend untersucht hatte. Er beschreibt die Erosion des Gedankens der
Wiedervereinigung in Gesellschaft, Staat und Wissenschaft nach 1948 bis zum
‚ritualen Lippenbekenntnis‘, Das Bundesverfassungsgericht habe zwar an dieser
Forderung des Grundgesetzes festgehalten, aber auch nur „mit der geistigen
Krücke der ‚Teilidentität‘ der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich“. Der
Schwund des Willens zur Wiedervereinigung in der Politik (vielleicht besser in
der ‚politischen Klasse‘?) sei offenbar geworden durch Willy Brandts Äußerung
von der „Lebenslüge des deutschen Volkes“ oder Jürgen Schmudes Anregung, das
Wiedervereinigungsgebot aus der Verfassung zu streichen. Auch seine eigene
Wissenschaft sei gespalten gewesen. Wer die Ostverträge kritisch betrachtet
habe, weil sie die ungeklärte juristische Situation ohne Notwendigkeit
salvierten, habe als unverbesserlicher Nationalist gegolten. Er dagegen sei der
Überzeugung gewesen, die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht sei der
einzige Hebel gewesen, um die Wiedervereinigung zu erreichen. Dazu sei eine freie
Abstimmung der Deutschen in der DDR zu fordern gewesen. Deren Ergebnis, wie
auch immer, hätte entscheiden müssen.
Der „Zauberer“, der den Weg aus der
Aussichtslosigkeit dieser Lage gefunden habe, sei der Präsident Ronald Reagan
gewesen, der der UdSSR zu verstehen gegeben habe, dass er sie „totrüsten“
werde. Das sei verstanden worden, vor allem von Michail Gorbatschow. Leider sei
es auch im Zeitpunkt der Wiedervereinigung nicht gelungen, ein ebenso
berechtigtes wie notwendiges nationales Selbstbewusstsein zu entwickeln, wie es
in allen Staaten der Europäischen Union eine selbstverständliche Grundlage
nationaler Identität sei.
X. Es folgen drei Abschnitte über
die Erfahrungen des Autors in der internationalen Arbeit, über seine
„Erfahrungen mit der Hohen Gerichtsbarkeit“ sowie über „Die Europäische Union
und schließlich eine knappe Bilanz. Alle sind – wie immer der Leser sie
beurteilen mag – eine höchst anregende Lektüre. Das gilt besonders für seine
kritischen Betrachtungen zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
zum Schwangerschaftsabbruch (1993), zu den Mutlangen-Blockaden (1995)[5]
und zu „Soldaten sind Mörder“ (1995). Der Redakteur der Süddeutschen Zeitung Heribert
Prantl, gelernter Staatsanwalt und Moderator der Diskussion, hat zu diesen Entscheidungen
einmal festgestellt, mit ihnen sei der Geist der ‚Achtundsechziger‘ wohl in das
Bundesverfassungsgericht eingezogen.[6]
Der Bemerkung ist nichts hinzuzufügen. Sie war als Kompliment gemeint. Kritik
übt Doehring auch an der Rechtsprechung der deutschen Gerichte und des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg zu den Rückgabeansprüchen der in und
von der DDR Enteigneten. In diesem Zusammenhang stellt er die alte Frage
(„Schmitt./.Kelsen-Kontroverse“) nach der Gerichtsqualität der Verfassungsgerichtsbarkeit:
Ist sie die ‚Krönung des Rechtsstaates‘ (so Kelsen) oder bedeutet sie die
‚Judifizierung der Politik‘ und die ‚Politisierung der Justiz (so C. Schmitt,
Ernst Forsthoff und andere). Zutreffend weist der Autor darauf hin, dass in der
geltenden Rechtslage das Verfahren der Richterwahl zu den obersten
Bundesgerichten über die Qualität der Justiz und des Rechtsstaates entscheidet.
Die wenigen Seiten zur Europäischen
Union verdienen besondere Beachtung und lassen die Probleme und Mängel der
gegenwärtigen Struktur der Europäischen Union grell sichtbar werden. Die
Unentschiedenheit der Frage, ob die Europäische Union ein Staatenbund oder ein
Bundesstaat werden soll, führt die Bürger der Mitgliedstaaten in ein hoheitlich
erzeugtes Bewusstseinsloch. Solange ihm eine Reise ins Ungewisse bevorsteht,
wird ein europäisches Gemeinschaftsbewusstsein der Bevölkerungen schwerlich zu
erzielen sein… Die Regelungswut der gesetzgebenden Bürokratien der Europäischen
Union einschließlich der normsetzenden Entscheidungen des Europäischen
Gerichtshofs jenseits von dessen Kompetenzen verstärken die Skepsis der Bürger.
In seiner Bilanz lässt der Autor die
gegensätzlichen Systemideologien an sich vorbeiziehen, welche die jeweiligen
Verfassungswechsel den Bürgern verpflichtend, für die Beamten mit Eidespflicht,
vorgelegt haben: Nach dem Gottesgnadentum des Kaiserreichs die absolute
Mehrheitsdemokratie von Weimar, die Führer- und Rassenideologie des
Nationalsozialismus, die Grundrechtsdemokratie des Grundgesetzes mit einer
Ewigkeitsklausel, den stalinistisch praktizierten Marxismus-Leninismus der DDR und
schließlich, mit der Wiedervereinigung verstärkt, die Integration in eine
unbestimmt ausgeprägten Europäische Union.
Die Demokratisierung Europas sei an
ihre Grenze geraten, als eine konzipierte europäische Verfassung gescheitert
sei am Grundsatz der Volkssouveränität, nämlich an der Ablehnung dieser
Verfassung in drei Volksabstimmungen. Es sei dringend geboten, die
Volksherrschaft mit der Möglichkeit einer Elitebildung zu paaren. Eliten aber
würden nur von Personen gebildet, die bereit sind, sich für Prinzipien, deren
Wert sie für unabdingbar halten, mutig und auch gegen Zeitströmungen
einzusetzen. Die gegenwärtige Bildungslandschaft gibt ihm für dieses Ziel wenig
Hoffnung. Wenn die Ausbildung der Besten im Vordergrund stehe, bleiben
allerdings nach seiner Einschätzung diejenigen zurück, die nicht wenigstens das
Mittelmaß erreichen. Man könne nicht für beide Gruppen zugleich die optimale
Lehre bieten. Ein deutliches Votum gegen die maximale, administrativ betriebene
Steigerung der Abiturientenquote. Ein Volk, das keine natürlichen Rohstoffe
habe, müsse alle Kräfte auf die Förderung der Bildung richten. Sie sei sein
Rohstoff und die einzige Chance einer stabilen Demokratie.
Die Summe seiner Erfahrungen und die
einzige Endgültigkeit findet er in dem Satz:
Nous
sommes les voyageurs qui cherchent l’autre rive – et nous sommes le voyageurs
qui jamais arrivent.
Der Leser bleibt zurück, beeindruckt
und verwirrt von einer Fülle gegensätzlicher Wahrnehmungen und Gefühle. Er
schwankt bisweilen zwischen Zustimmung, Skepsis und innerem Widerspruch. Aber
die Lektüre möchte er nicht missen.
Konstanz Bernd
Rüthers
[1] Dreier/Pauly,
gedruckt in: Veröffentlichung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer
60, Berlin 2001, S. 9-147; vgl. dazu Rüthers, in: ZRG Germ. Abt. 2003, S.
860-873.
[2] Forsthoff, Ernst, Deutsche Geschichte Von 1918 Bis 1938 in Dokumenten, Dritte neubearbeite, erweiterte Auflage
Stuttgart 1943.
[3] Vgl. dazu Rüthers, B., Geschönte
Geschichten Geschonte Biographien – Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen,
Tübingen 2005.
[4] Vgl. Ernst Forsthoff - Carl Schmitt.
Briefwechsel 1926-1974, hg. v. Mußgnug, D./Mußgnug, R./A. Reinthal, A.,
Berlin 2007.
[5] Vgl. dazu auch Offenloch, W., Erinnerung
an das Recht, Tübingen 2005: Böckenförde, E. W., FAZ v. 24. 10. 2005 („Pflichtlektüre
für junge Juristen“); Rüthers, B., Gesetzesbindung und Widerstand, ZRG
123 (2006), S. 363-371.
[6] Vgl. Werte im Wandel, Bericht über das
Symposium am 30. November und 1. Dezember 1995 in Triberg, hg. v. Justizministerium
Baden-Württemberg, S. 145 f.