„Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der
linken Solidarität. Sowjetunion, Komintern und kommunistische Parteien im
Zweiten Weltkrieg 1939-1941, hg. v. Bayerlein, Bernhard H., unter
Mitarbeit v. Lebedewa, Natalja S./Narinski, Michail/Gleb, Albert, mit
einem Zeitzeugenbericht v. Leonhard, Wolfgang, mit einem Vorwort v. Weber,
Hermann (= Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts 4).
Aufbau-Verlag, Berlin 2008. 540 S., 200 Abbildungen. Besprochen von Martin Moll.
In den späten 1980er Jahren begann die damalige kommunistische
Führung der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow, die lange geleugnete
Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939
zuzugeben; diese anfangs zaghaften Schritte wurden nach dem Zerfall der UdSSR
durch das Russland Boris Jelzins konsequent fortgesetzt. Seit den frühen 1990er
Jahren wird dieses Protokoll, das seinerzeit ganz Ostmitteleuropa in eine
deutsche und eine sowjetische Interessensphäre aufgeteilt hatte, von niemand
mehr in Abrede gestellt. Mit einer gewissen Konsequenz erlahmte deshalb das
Interesse der Forschung an diesem sensationellen Pakt zwischen den beiden
ideologischen Todfeinden Hitler und Stalin. Es gilt mittlerweile als communis
opinio, dass Stalins Vorgehen gegen Polen den Weg für Hitlers Entfesselung
des Zweiten Weltkriegs freimachte.
Weniger bekannt war und ist, wie diese
überraschende Kehrtwendung der sowjetischen Außenpolitik auf die in der
Komintern zusammengeschlossenen, straff von Moskau geführten kommunistischen
Parteien außerhalb der UdSSR wirkte. Klar war im Wesentlichen nur, dass dort
allenthalben Konfusion und Verwirrung herrschten, die den zuvor ständig
beschworenen antifaschistischen Kampf praktisch zum Erliegen brachten und eine
Lähmung bewirkten, die erst im Juni 1941 mit Hitlers Überfall auf die
Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa“) ein Ende fand. Was zwischen August 1939
und Juni 1941 in den KP-Führungen Europas geschah, welche Lagebeurteilungen dort
angestellt und welche Strategien entwickelt wurden, will die hier
vorzustellende, kommentierte Quellenedition auf breiter Basis darstellen.
Auf seinen ersten rund 100 Seiten bietet der Band
gleich drei Einleitungen. Er setzt ein mit einem Zeitzeugenbericht des 1921
geborenen Publizisten Wolfgang Leonhard, der nicht allein seine eigenen
Reaktionen als damals streng kommunistisch gesinnter Teenager auf die Nachricht
vom Paktabschluss schildert, sondern in einer Art tour d’horizont die Aufnahme
der Neuigkeit durch diverse, meist im Moskauer Exil versammelte, kommunistische
Parteiführer bilanziert. Die Beiträge des Doyens der westdeutschen
Kommunismusforschung, Hermann Weber, sowie des Herausgebers Bernhard H.
Bayerlein ordnen die nachfolgenden Dokumente in den historischen Zusammenhang
ein und veranschaulichen die Vielfalt der herangezogenen Quellen.
Was Weber für die exilierte deutsche Sektion der
Komintern unter Pieck und Ulbricht dargelegt, gilt auch für deren europäische
Genossen: Völlig von der Sowjetunion Stalins abhängig, hatten sie bis zum
Spätsommer 1939 für den Sturz der Hitler-Diktatur gekämpft und zugleich
wortreich die Diktatur Stalins verteidigt. Nach dem Paktabschluss mussten die
kommunistischen Parteien in Europa, ja weltweit durch die Komintern neu
ausgerichtet werden. Diese nur teilweise geglückte, zugegeben mehr als
schwierige Wende wird durch eine Fülle von geheimen Korrespondenzen zwischen
der Moskauer Zentrale und den Kommunistischen Parteien in West- und
Mitteleuropa sowie durch weitere, streng geheime Quellen aus der Umgebung
Stalins illustriert.
Die Dokumente lassen keinen Zweifel an der engen
Abstimmung der seit Ende August 1939 Hitler-freundlichen Außenpolitik der UdSSR
mit der Haltung der Komintern und bestätigen so den bisherigen Forschungsstand.
Dieser wird jedoch erheblich bereichert durch zahllose Details zu den
politischen Mechanismen, Propagandastrategien und oft krampfhaften rhetorischen
Bemäntelungen, mit denen – weiterhin im Namen des Weltkommunismus – jeglicher
Antifaschismus und jegliche linke Solidarität zerschlagen wurden. Den Nutzen
daraus zog Hitler, der bis zum Sommer 1941 mit Duldung, wenn nicht mit Zustimmung
des internationalen Kommunismus große Teile Europas unterwerfen konnte.
Geradezu bizarr muten die Belege für die trügerischen Hoffnungen diverser
kommunistischer Parteien, allen voran der KPD, an, im Windschatten des Paktes
eine halblegale Tätigkeit innerhalb des deutschen Herrschaftsbereichs entfalten
zu können. Stalin und die Komintern ermunterten ihre Satrapen zu solchen
Illusionen – ob aus ehrlicher Überzeugung oder wider besseres Wissen, wird sich wohl nie restlos klären lassen, wenngleich die
hier abgedruckten Quellen eher die erstgenannte Deutung stützen.
Die neuerliche, nun de facto durch NS-Deutschland erzwungene
Wende nach Beginn von „Barbarossa“ beendete diese dunklen Jahre des
internationalen Kommunismus und wirkte deshalb auf die involvierten Parteien
wie eine Befreiung. War der Weltkrieg bislang als Verbrechen der
„imperialistischen“ Mächte Frankreich und Großbritannien gebrandmarkt und
NS-Deutschland als in der Defensive gezeichnet worden, so mutierte das nun
globale Ringen gleichsam über Nacht zum Befreiungskrieg der Sowjetunion und
ihrer neuen Alliierten. Anders als der Untertitel nahe legt, beinhaltet der
Band auch Zeugnisse, die weit über das Ende des Hitler-Stalin-Paktes
hinausgreifen und praktisch den Zeitraum bis zum Kriegsende einschließen.
Der rund 350 Seiten starke Quellenteil ist im Stil
einer historischen Collage zusammengestellt und in sechs chronologisch
aufeinander folgende Phasen, vom unmittelbaren Vorfeld des Paktabschlusses bis
ins erste Halbjahr 1943 hinein, eingeteilt. Jedem Abschnitt ist eine kurze
historische Einleitung beigefügt. Die Dokumente werden regestartig vorgestellt
und, soweit erforderlich, durch Erläuterungen und Kommentare verständlich
gemacht. Weitere Informationen sind dem Personenregister (faktisch eine Sammlung
von Kurzbiographien) sowie den Verzeichnissen der Pseudonyme, Kryptonyme, Akronyme,
Abkürzungen und Siglen zu entnehmen. Kaum brauchbar sind allerdings die nur
briefmarkengroßen und teilweise nichtssagenden Abbildungen.
Nach wie vor sind unmittelbare Belege über Stalins
außen- und kriegspolitische Ziele, allen voran über seine Einschätzung der
Gefahr eines deutschen Angriffs, kaum greifbar bzw. unter Verschluss. Die hier
vor allem edierten Komintern-Dokumente können diese bedauerliche Lücke nicht
restlos schließen, wohl aber verringern. Sie zeigen, dass es auch
kommunistische Führungskader gab, die bei allen ideologischen Kapriolen angesichts
des Hitler-Stalin-Paktes ein – gelinde gesagt – großes Unbehagen verspürten, ja
vereinzelt sogar den Bankrott aller kommunistischen Ideale konstatierten, wie
dies Willi Münzenberg tat, von dem das dem Band als Titel vorangestellte, an
Stalin adressierte Verräter-Verdikt stammt. Münzenberg starb 1940 unter
ungeklärten Umständen, nahezu zeitgleich mit der Ermordung von Stalins altem
Widersacher Leo Trotzki.
Der Band birgt, wohl unbeabsichtigt, ein wenig die
Gefahr, ausgerechnet die glühendsten Anhänger des Weltkommunismus als dessen
bzw. Stalins Hauptopfer zu präsentieren. Gleichwohl vermittelt der sorgfältig
edierte Band ein ungemein differenziertes Bild vom politischen Kollaps der
sowjetischen Politik sowie von einer durch Menschenverachtung und Opportunismus
gekennzeichneten Denkweise des stalinistischen Herrschaftssystems.
Graz Martin Moll