Deferme, Jo, Uit de ketens van de vrijheid. Het debat over de sociale
politik in België, 1886-1914. Universitaire Pers Leuven, Leuven 2007. 512 S.
Besprochen von Bruno Debaenst.
Das Jahr 1886 wird in der belgischen
Geschichtsschreibung noch immer als wichtiger Meilenstein betrachtet: Blutige
Arbeiteraufstände zogen damals nicht nur eine Spur der Verwüstung durch die
Industriegebiete im Süden des Landes, sondern bildeten auch den direkten Anlass
für die ersten tiefgreifenden Debatten im Parlament über das Problem der miserablen
Arbeitsbedingungen der Mehrheit der Arbeiter. In seinem Buch, in dem seine
Promotionsforschung ihren Niederschlag findet, analysiert Jo Deferme auf
haarscharfe Weise die Art, auf welche die Debatte über die ,question sociale’
innerhalb der politischen Elite in Belgien innerhalb und außerhalb des
Parlaments in der Zeit von 1886 bis zum Ersten Weltkrieg geführt wurde. Im
Zentrum der Diskussion stand stets das Konzept der Freiheit der Arbeit; ein Begriff,
der im Laufe der Jahre anscheinend mit immer mehr unterschiedlichen Bedeutungen
gefüllt wurde. So stand die Debatte zu Beginn noch voll unter dem Eindruck der
vorherrschenden atomistischen freien Ideologie, die davon ausging, dass die
Gesellschaft nur aus Individuen besteht, die in aller Freiheit ohne Einmischung
der Regierung miteinander umgehen können müssen. Dieses klassische Weltbild des
19. Jahrhunderts wurde dann in zunehmendem Maße von einer mehr holistischen Sichtweise
abgelöst, die unter dem Einfluss der aufkommenden Wissenschaft der Soziologie
davon ausging, dass die Gesellschaft aus viel mehr besteht als aus der Summe
ihrer Teile und die Intervention der Regierung nicht nur als nützlich, sondern
letztendlich gar als notwendig betrachtete. Dieses andauernde Kräftemessen
zwischen zwei in ihrem Wesen diametral entgegengesetzten Sichtweisen erklärt
den mühsamen Weg der frühe belgischen Sozialgesetzgebung. Anfänglich
beschränkte man sich noch auf das schlichte Abarbeiten der größten Aussschreitungen
wie dem Trucksystem oder auf den Schutz schwächerer Minderheitsgruppen durch
die Regulation von Frauenarbeit und Kinderarbeit, aber gleichzeitig wurde der
Einfluss der Regierung auf die Industrie stärker. So wurden Gesetze zur
Arbeitsreglementierung und Arbeitshygiene verabschiedet, die durch eine
speziell dazu ins Leben gerufene Arbeitsinspektion kontrolliert werden mussten.
1895 wurde sogar eine neues Ministerium für Industrie und Arbeit gegründet. Mit
der Jahrhundertwende entstand noch eine weitere Generation neuer Gesetze, die
auf allgemeine Art bestimmte Aspekte von Arbeitsbeziehungen regelten, wie z. B.
das Gesetz über den Arbeitsvertrag von 1900 und das Gesetz über Arbeitsunfälle
von 1903, dessen Äquivalent in Frankreich von 1898 durch François Ewald nicht
zufällig als die eigentliche Zäsur zwischen dem Liberalismus des 19.
Jahrhunderts und dem Solidarismus des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird. Die
Zeiten veränderten sich, was sich z. B. auch in der Anwesenheit neuer politischer
Richtungen im Parlament, wie den Sozialisten und Christdemokraten, zeigt. Die
neue Gesetzgebung wurde dann von den Zeitgenossen als fundamental anders
wahrgenommen und als die Geburt eines neuen, eines „sozialen“ Rechts neben dem
bestehenden „individuellen“ bürgerlichen Recht beschrieben.
In der Begrenztheit dieser Rezension kann nur
unzureichend auf all die Einzelheiten des Transformationsprozesses eingegangen
werden, aber der Rezensent verweist hierzu schlicht auf das Buch von Deferme,
dem es auf 512 Seiten erstaunlicherweise gelingt, dies zu erreichen. Auch wenn
dieses Buch an erster Stelle eine politisch-historische Studie der politischen
Kultur in Belgien während der „Belle Epoque“ darstellt, in deren Zentrum vor
allem die politischen Debatten, Ideologien und Persönlichkeiten stehen, ist
diese Studie aus mehr als einem Grund von besonderer Bedeutung für die
Rechtshistoriker, die sich für die Geschichte des Sozialrechts in Belgien
interessieren. Zuallererst wegen der ausführlichen Einblicke in den
spezifischen Kontext, in dem die frühe soziale Gesetzgebung in Belgien zustande
gekommen ist. Das offengelegte fundamentale Spannungsfeld zwischen Atomismus
und Holismus erklärt die Scheu vieler Parlamentsmitglieder in Hinblick auf eine
allzu große Regierungsintervention und die Mühe, mit der die soziale
Gesetzgebung nur Schritt für Schritt verwirklicht werden konnte. Die Studie ist
auch wegen der eher praktischen Analyse der unterschiedlichen Sozialgesetze und
ihrer Stellung innerhalb der allgemeinen legislativen Entwicklung sehr
interessant. Aber die wesentliche Bedeutung der Studie liegt vielleicht in der
Notwendigkeit an Demut, die sie in den Rechtshistorikern hervorruft. Denn die
Studie zeigt, dass nicht das Endprodukt, das Gesetz, allein seligmachend ist,
sondern dass auch ein gutes Verständnis der Produzenten (der Politiker), des
Herstellungsprozesses (des Gesetzgebungsprozesses und seines Kontextes) und der
Zutaten (der Ideologien) unentbehrlich ist, um zu vollständigem Verständnis in
der Genese des modernen Sozialrechts in Belgien zu gelangen.
Gent Bruno
Debaenst