Das
Siegel. Gebrauch und Bedeutung, hg. v. Signori, Gabriela unter Mitarbeit
v. Stoukalov-Pogodin, Gabriel. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2007. 219 S., Ill. Besprochen von Irmgard Fees.
Der
Titel könnte Erwartungen wecken, welche die Herausgeberin im Vorwort sogleich
zurechtrückt: Intendiert ist keine Siegelkunde, kein weiteres Handbuch der
Sphragistik, sondern ein „einführendes Lesebuch, ... das dem Leser auf
möglichst anschauliche Art und Weise die kulturellen Dimensionen der
vormodernen Siegelpraxis näherbringt“ (S. 5). Zahlreiche Autoren bemühen sich
in meist kürzeren, reich bebilderten Beiträgen, dieses Ziel zu erreichen: Gabriela
Signori fügt ihrer Einleitung (S. 9-14) Auszüge aus der Summa de arte prosandi des Konrad von
Mure in deutscher Übersetzung und eine Wiedergabe der von Stengel edierten
ältesten deutschen Übersetzung der Dekretale Innozenz’ III. bei (S. 15-20). - Rüdiger
Brandt, Schwachstellen und Imageprobleme: Siegel zwischen Ideal und
Wirklichkeit (S. 21-28), stellt Aussagen mittelhochdeutscher Quellen des späten
Mittelalters zu Siegeln vor. - Enno Bünz, Spätmittelalterliche Pfarrei-
und Pfarrersiegel (S. 31-43), weist auf die zahlreichen offenen Fragen in der
noch wenig erforschten Siegelführung durch Pfarrgeistlichkeit und Pfarrkirchen
hin; sein Beitrag, der die Zeit der Verbreitung (langsames Aufkommen im 13.,
allgemeine Durchsetzung seit dem 14. Jahrhundert), die Siegelpraxis der Pfarrer
und ihrer Vertreter, die Größe, Form und Gestaltung der Siegel ebenso behandelt
wie die Vorschriften für die Siegelführung in kirchenrechtlichen Quellen, kann
als grundlegend für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema gelten. - Isabelle
Guerreau, Otto I. von Wohldenberg. Form und Funktion der Selbstdarstellung
eines norddeutschen Weltgeistlichen im Spiegel seiner Siegel (S. 45-52),
untersucht die acht von unterschiedlichen Typaren stammenden Siegelbilder, die
der Bischof von Hildesheim (1319-1331) im Laufe seiner Karriere wählte und unter
denen das älteste, belegt 1286, noch ein Laiensiegel ist. - Achim Thomas
Hack, Die zwei Körper des Papstes ... und die beiden Seiten seines Siegels
(S. 53-63), befasst sich mit der Zerstörung des Namensstempels unter
Weiterbenutzung des Apostelstempels nach dem Tode des Papstes; die Ursache für
die Verwendung der Bulla dimidia bis
zur Weihe des neuen Papstes (und nicht nur bis zum Wahlakt) sieht er nicht in
technischen Notwendigkeiten (Dauer der Herstellung eines neuen Stempels) oder
in der Weiterführung eines sinnentleerten Brauches, sondern darin, dass die
Papsterhebung als Handlungskette verstanden werden muss, die nur durch die
Gesamtheit aller Akte die qualitative Veränderung bewirkt; erst nach Abschluss
dieser Übergangsphase habe der Papst auch das Vorrecht der Verwendung der
beidseitig geprägten Bulle erlangt, erst dann sei „die Identität von
natürlichem und politischem Körper des Papstes“ (S. 60) vollständig erreicht
worden. Schließlich weist er darauf hin, dass das Konstanzer Konzil bei der
Absetzung Johannes’ XXIII. ebenso verfuhr wie bei dem Tode eines Papstes,
nämlich den Namensstempel zerstörte, sodann ein eigenes Motiv mit gekreuzten
Schlüsseln und der Inschrift Sigillum
Sacre Sinodi Constanciensis für die eine Seite der Konzilsbulle wählte, für
die andere Seite aber den Apostelstempel übernahm: „Der politische Körper des
Papstes wird nun, wenn man so möchte, durch die konziliare Versammlung
repräsentiert“ (S. 62). - Beatrice Marnetté-Kühl, Vom Abt zum Konvent.
Eine Etappe in der Geschichte des Ordenssiegels (S. 65-74), bietet Einblicke in
die Siegelführung und die Gestaltung der Siegelbilder durch Bischöfe, Äbte,
Äbtissinnen und Konvente vom 10. bis zum 14. Jahrhundert; sie kann dabei aus
ihren Untersuchungen zu den mittelalterlichen Siegeln der Braunschweiger Region
schöpfen (Mittelalterliche Siegel der Urkundenfonds Marienberg und Mariental,
2006). - Frank Rexroth, Die universitären Schwurgenossenschaften und das
Recht, ein Siegel zu führen (S. 75-80), weist auf die Tatsache hin, dass sich die
Universitäten Paris und Oxford das Recht zur Siegelführung gegen Widerstände
erkämpfen mussten, und stellt dann die Besonderheiten der Siegelführung durch
Universitäten und ihre Organe („Schwureinungen im kleinen“) vor. - J.
Friedrich Battenberg, Sonne, Mond und Sternzeichen. Das jüdische Siegel in
Mittelalter und Früher Neuzeit (S. 83-95), stellt das Aufkommen, die
Weiterentwicklung und die Veränderungen in der Siegelverwendung durch Juden in
Mitteleuropa von den Anfängen der Siegelführung seit dem späten 13. Jahrhundert
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vor und geht dabei auch auf die Gestaltung
der Siegelbilder ein. - Wilfried Ehbrecht, Unde dat inghesegel lete wy ok enttwey slan ... Siegelmissbrauch im
Stadtkonflikt am Beispiel Bremens (S. 97-105), demonstriert die große
Bedeutung, die der Siegelverwendung in städtischen Konflikten zukam, und führt
außer dem Bremer Beispiel von 1365/66 auch Fälle aus Köln, Frankfurt amMain,
Wetzlar und Bozen an. - Wilfried Ehbrecht, Ältere Stadtsiegel als Abbild
Jerusalems (S. 107-120), konstatiert in den meisten älteren Stadtsiegeln einen
Bezug der Stadt auf den Heiligen, unter dessen Schutz sie sich bei ihrer
Emanzipation von der Ortsherrschaft stellt; immer werden zudem die Gemeinschaft
oder die Stadt selbst, nie ihre Institutionen im Siegelbild dargestellt (S.
119); auffallend sei schließlich die Bezugnahme der städtischen Gemeinschaft
auf „eine Heilige Stadt wie Köln oder Rom, die alle Abbild der heiligen Stadt,
Jerusalem, waren“ (S. 120). - Knut Görich, Missachtung und Zerstörung
von Brief und Siegel (S. 121-126), zeigt an mehreren Beispielen aus dem 12.
Jahrhundert, dass die demonstrative Missachtung von Briefen und Siegeln als
fehlende Ehrerbietung gegenüber der Person verstanden wurde, die den Brief
gesandt hatte und deren Autorität und symbolische Präsenz das Siegel
verkörperte. - Wilfried Schöntag, Siegelrecht, Siegelbild und
Herrschaftsanspruch. Die Siegel der Städte und Dörfer im deutschen Südwesten (S.
127-138), weist in Widerlegung entsprechender Theorien Erich Kittels die Einflussnahme
der Stadt- oder Ortsherrschaft auf die Siegel- und Wappenbilder von Städten und
Dörfern seit dem 13. Jahrhundert nach und zeigt, dass die Gestaltung in
Auseinandersetzung zwischen Stadtherr und Bürgerschaft oder dörflicher Genossenschaft
erfolgte; aus einer systematischen Untersuchung von Siegelbildern könne man
daher Rückschlüsse auf Herrschaftsverhältnisse ziehen. - Karl-Heinz
Steinbruch, Bauernsiegel in Mecklenburg (1763-1836) (S. 139-147), schildert
einen Fall aus dem heutigen Landkreis Lüneburg, anhand dessen sich die
Ausweitung von Siegelverwendung und Siegelführung ebenso wie die Gestaltung des
Siegelbildes durch Bauern beobachten lässt. - Andrea Stieldorf, Adelige
Frauen und Bürgerinnen im Siegelbild (S. 149-160), geht nach einem Blick auf
die zeitlich und sozial gestaffelte Ausbreitung der Siegelführung durch
weltliche Frauen in England, Frankreich, den heutigen Beneluxländern und dem
deutschsprachigen Raum (Italien, Polen und die iberische Halbinsel schließt sie
aufgrund der Forschungslage von der Betrachtung aus) auf die Besonderheiten der
Siegelbilder bei durch Frauen geführten Siegeln ein. - Wolfhard Vahl,
Alters- und geschlechtsspezifische Siegelführung (S. 161-164), stellt an einem
Beispiel des 14. Jahrhunderts die Siegelpraxis dieser Zeit im deutschsprachigen
Raum vor. - Lukas Clemens, Tuchsiegel (S. 167-174), geht knapp, aber
umfassend auf alle Aspekte der vor allem der Qualitätssicherung dienenden, seit
dem 13. Jahrhundert auftretenden Tuchbesiegelung ein, so insbesondere auf Material
und Gestaltung der Siegel, den Ablauf von Tuchbeschau und Besiegelung, auf Siegelfälschung
und ihre Ahndung, schildert am Beispiel von Ypern die Diskrepanz zwischen
erhaltenen und einst vorhandenen Quantitäten und weist auf die hohe Bedeutung
der Plomben für die Wirtschaftsgeschichte hin. - Karin Czaja,
Hausmarken: Praxis und Genese (S. 175-179), bietet einen ebenfalls von
äußerster Knappheit gekennzeichneten, willkommenen Überblick über den
Forschungsstand zu Hausmarken. - Hermann Maué, Siegel zum Verschließen
von Briefen (S. 181-188), widmet sich Siegeln, die ausschließlich dem Verschluss
von Briefen dienten, und untersucht vor allem die Siegelstempel auf Material,
Gestaltung und Aussage der Inschriften. - Ein Literaturverzeichnis (S. 189-212),
ein Orts- und Personenregister (S. 213-219) und der Bildnachweis (S. 221)
beschließen den Band, der ein wenig lieblos betreut scheint, denn er ist außer von
zahlreichen Druckfehlern auch von vielen kleineren Versehen durchzogen: Manche in
den Anmerkungen zitierten Titel sind im Literaturverzeichnis anders oder gar
nicht verzeichnet; Martin Luther findet sich unter M, Ordericus Vitalis unter T
(The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis); die Untersuchung von Piero
Castignoli zum Notar (notaio, nicht notation) Codagnello wird man unter dem
angegebenen Namen Castiglioni vergebens suchen; im Bildnachweis stimmen die
angegebenen Seitenzahlen nicht, und zahlreiche Abbildungen sind leider gar
nicht nachgewiesen. - Die Beiträge sind in Zuschnitt und Qualität recht
unterschiedlich. Mehreren unter ihnen ist zweifellos Handbuchqualität zu
attestieren, da sie ihr Thema umfassend abhandeln, zugleich einen Überblick
über Forschungsstand und Forschungsdesiderate bieten und dadurch auf die
weitere Beschäftigung mit dem Thema befruchtend wirken werden; andere
konzentrieren sich auf einzelne Aspekte ihres Themas und können ihm dadurch
neue Erkenntnisse abgewinnen. Insgesamt ist der Band vielseitig und anregend
und sei dankbar begrüßt!
München Irmgard
Fees