Brednich, Rolf Wilhelm, Tie und Anger. Historische Dorfplätze in Niedersachsen, Thüringen, Hessen und Franken. Atelier Niedernjesa/Bremer, Friedland/Kreis Göttingen 2008. 215 S. zahlr. Abb.. Besprochen von Wilhelm A. Eckhardt.

 

Wer eine Bestandsaufnahme historischer Dorfplätze in Niedersachsen, Thüringen, Hessen und Franken erwartet, wird enttäuscht. Es geht vor allem um Niedersachsen: „Hier wurde wenn nicht Vollständigkeit, so doch ein repräsentativer Überblick zur Verbreitung und Erscheinungsform der Tieplätze angestrebt. Das Gleiche gilt nicht für Hessen und Thüringen, wo angesichts fehlender Bestandsaufnahmen lediglich eine charakteristische Auswahl von Plätzen einbezogen wurde. Die Dokumentation ist demnach in Bezug auf Hessen und Thüringen keinesfalls vollständig. . . . Franken wurde in unsere Untersuchungen nur am Rande mit einbezogen, da für diese Region ausgezeichnete Vorarbeiten vorliegen, auf die hier zu verweisen ist“ (S. 37). Die Forderung Karl Kroeschells „Was not tut, sind zunächst zuverlässige Inventare“ (Dorfgerichtsplätze, in: Nit anders denn liebs und guets, Petershauser Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Karl S. Bader, 1986, S. 101-108, hier S. 104) bleibt also nach wie vor aktuell. Brednich liefert aber einen weiteren Baustein zu einer solchen Inventarisierung, und zwar einen sehr gut ausgestatteten Baustein mit schönen Bildern.

 

Der Autor hat sich mit dem Thema beschäftigt, seit er 1981 auf den Lehrstuhl für Volkskunde an der Universität Göttingen berufen wurde. Eine erste Frucht dieser Beschäftigung war sein Beitrag zum Marburger Symposion zu Ehren Ingeborg Weber-Kellermanns „Tie und Anger als Räume dörflicher Kommunikation und lokaler Öffentlichkeit. Historische Funktion und gegenwärtige Nutzungsmöglichkeiten“ in: Siegfried Becker/Andreas C. Bimmer (Hrsg.), Ländliche Kultur, Göttingen 1989, S. 131-149. Alle schon damals angesprochenen Themen kehren auch in dem neuen Buch wieder: der sprachliche Befund, Verbreitung und Alter, Charakteristika der Plätze, Historische Funktion, Funktionswandel und Politisierung, aktuelle Probleme. Brednich geht es heute wie damals vor allem um Erhaltung und Wiederbelebung der historischen Dorfplätze. Und dafür gibt sein Buch Anregungen.

 

In der Einleitung wird nicht immer deutlich, ob sich bestimmte Aussagen nur auf Niedersachsen beziehen oder auch auf die anderen Länder. Die Ties sollen z. B. „als das Kennzeichen der in frühmittelalterlicher Zeit gegründeten niedersächsischen Dörfer gelten. Dazu stimmt die Beobachtung, dass jüngere Dorfgründungen mit den Grundwörtern –hagen oder –hain keine Tieplätze aufweisen“ (S. 19). Das geht auf Kroeschell (a. a. O., S. 103) zurück, der das für Niedersachsen und Hessen behauptet hat, wogegen ich für Hessen auf die (Brednich vielleicht nicht bekannten) Beispiele Elmshagen im Kreis Kassel sowie Frankenhain und Fürstenhagen im Werra-Meißner-Kreis hingewiesen habe (Zur Inventarisierung von Dorfgerichtsstätten in Hessen, in: Gerhard Köbler/Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, 1997, S. 203-214, hier S. 211 und 207). Die Beobachtung würde auch nur dann etwas aussagen, wenn wirklich nur „bestimmte Dörfer einen Tie haben und andere, oft eng benachbarte, nicht“ (Brednich S. 19). Für Hessen gilt auch diese Voraussetzung nicht. Für Oberhessen sagt das Frankenberger Stadtrechtsbuch von 1493, dass jede Stadt oder Dorf eine eigene Gerichtsstätte habe, damit der Fremde wie der Einheimische wisse, wo er Recht geben und nehmen solle, und für Niederhessen konnte ich nachweisen, dass im Altkreis Eschwege 66 von 67 alten Dörfern eine „Gemeine Linde oder Anger“ hatten; nur die wenigen Einwohner von Frauenborn gingen nach Willershausen zur Kirche und wohl auch zum Gericht (Vorarbeiten zu einem Rechtshistorischen Atlas. 2. Dorfgerichtsplätze im Altkreis Eschwege, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 51 [2001], S.68-81).

 

Zur Form der „geleiteten Linden“ hat Brednich (S. 12f.) zwar den wichtigen Beitrag „Geleitete Linden“ Rainer Graefes (Daidalos 23 [1987], S. 16-29) benutzt, nicht aber den Aufsatz „Geleitete und gestufte Linden auf hessischen Dorfplätzen“ Karl Frölichs (Hessenland 51 [1940/41], S. 218-226), der auch wegen seiner 20 Abbildungen von Nutzen ist; sie lassen erkennen, inwieweit sich die Dorfplätze seither verändert haben. Frölich zitiert für Thüringen E. Schaubach, „Zu Wolframs Parzival“ (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 14 [1889], S. 162f.), wonach es in den 113 Dörfern der thüringischen Kreise Meiningen und Hildburghausen damals 83 Dorflinden gab; „von diesen sind 21 mit einer mauer umgeben; 14 zeigen das gerüst; 7 von ihnen sind ummauert und gestützt“ (Schaubach S. 162). Der Anteil geleiteter Linden in diesem Teil Thüringens war also durchaus beachtenswert.

 

Dem Verleger Hartmut Bremer ist für die schöne Ausstattung des Buches Dank zu sagen. Leider hat er dafür das Lektorat vernachlässigt, das manches noch hätte korrigieren können. So ist z. B. der perner ein Pfarrer und kein „Berner“ (S. 17), Netra (S. 175, 191) und Weißenborn (S. 196) liegen im Werra-Meißner-Kreis, nicht im Kreis Hersfeld-Rotenburg, Lindewerra (S. 37) in Thüringen, nicht in Hessen. Trotz solcher „Schönheitsfehler“ bleibt Brednichs Dokumentation von 77 Dorfplätzen in Niedersachsen, 23 in Thüringen, 18 in Hessen und 2 in Franken ein wichtiger Baustein zur Inventarisierung der Dorfgerichtsstätten.

 

Marburg                                                                                                          Wilhelm A. Eckhardt