Bommer, Julia, Ein Gesetz - zwei Rechtsprechungen? Die Zerrüttungsscheidung bei Reichsgericht und BGH zwischen 1938 und 1961 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 2 Rechtswissenschft 4668). Lang, Frankfurt am Main 2008. 269 S. Besprochen von Werner Schubert.
Das Werk befasst sich mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs mit der Ehescheidung nach § 55 EheG 1938 / § 48 EheG 1946. Nach § 55 Abs. 2 (§ 48 Abs. 2 EheG) konnte der beklagte Ehegatte einer Scheidung widersprechen, wenn der Kläger die Zerrüttung ganz oder überwiegend verschuldet hatte. Der Widerspruch war zu beachten, „wenn die Aufrechterhaltung der Ehe bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe und des gesamten Verhaltens beider Ehegatten sittlich nicht gerechtfertigt ist“. Gegenstand des Werkes Julia Bommers ist die Frage, wie bei dieser unveränderten Gesetzeslage vergleichbare Fälle vom Reichsgericht und später vom Bundesgerichtshof behandelt wurden. Um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, hat Bommer die entschiedenen Fälle in vergleichbare Gruppen eingeteilt. Dabei handelt es sich überwiegend um Fallgruppen, die sowohl unter dem Nationalsozialismus als auch in der frühen Bundesrepublik vorkamen, so dass der überwiegende Teil der Fälle miteinander vergleichbar sein dürfte. Ausgewertet werden hierfür die jeweils veröffentlichten Urteile, denen für die meisten Jahre jedoch weit mehr unveröffentlichte Urteile gegenüberstehen (vgl. Nahmmacher, K., Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und der Hamburger Gerichte zum Ehescheidungsgrund des § 55 Ehegesetz 1938 in den Jahren 1938 bis 1945, Frankfurt am Main 1999, S. 243ff.; Meike Haetzke, Die höchstrichterliche Rechtsprechung von 1948-1961 zum Scheidungsgrund des § 48 Ehegesetz 1946 wegen unheilbarer Zerrüttung, Frankfurt am Main 2000, S. 231ff.). Auch ist zu berücksichtigen, dass die Praxis der Revisionszulassung durch die Oberlandesgerichte nach dem Krieg wohl restriktiver war als bis Kriegsende.
Wie Bommer mit Recht feststellt, hat nach überwiegender Meinung der Autoren, die das Widerspruchsrecht behandeln, das Reichsgericht scheidungsfreundlicher als der Bundesgerichtshof entschieden bzw. den Widerspruch des beklagten Ehegatten in weiterem Umfang als das Reichsgericht außer Betracht gelassen. Bommer behandelt zunächst das Zerrüttungsprinzip und die Gesetzentwürfe zum Ehegesetz von 1938 und 1946 (S. 39ff.) und kommt anschließend zur Analyse der Fallgruppen nach der RG- und der BGH-Judikatur zum Widerspruchsrecht (S. 53ff., S. 117ff.). Es folgt eine vergleichende Analyse beider Rechtsprechungen (S. 171ff.), wobei Bommer vor allem auf die Autonomiefrage eingeht, d. h. auf die Frage, wie weit sich die Gerichte eigenständig (autonom) gegenüber dem Gesetz und gegenüber der „gewöhnlichen zeitgemäßen Auslegung“ des Gesetzes verhalten haben oder nicht (S. 31). Nach Meinung Bommers zeigt sich eine überwiegend unterschiedliche Handhabung der gleich lautenden §§ 55/48 Abs. 2 EheG, so dass eine „jeweils in sich relativ unabhängige Behandlung zu beobachten“ sei (S. 186). Insgesamt lehnt der Bundesgerichtshof in weitaus mehr Fällen die Beachtung des Widerspruchs als das Reichsgericht ab. Während der Bundesgerichtshof den „Schutz der Frauen, die Würde der Ehe und vor allem die Anerkennung der Frauen mit ihrer ,Rechtsstellung der Ehefrau’ hervorgehoben“ habe (S. 187), standen für das Reichsgericht bevölkerungspolitische Interessen im Vordergrund. Im Anschluss an die Rechtsprechungsanalysen fasst Bommer die Stellungnahmen der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik zum Zerrüttungsprinzip und zum Widerspruchsrecht zusammen (S. 189ff.).
Der Abschnitt über die NS-Zeit hätte insgesamt etwas differenzierter ausfallen müssen; so ist nicht voll berücksichtigt, dass die Auslegungspraxis des § 55 Abs. 2 EheG nicht unumstritten war und hierzu Anfang 1939 intern Richtlinien des Reichsjustizministeriums ergangen waren, nachdem die NS-Presse die restriktive Scheidungspraxis vornehmlich der Untergerichte scharf kritisiert hatte (vgl. Nahmmacher, S. 50ff.). Im Ergebnis ist Bommer jedoch zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass sich sowohl die RG- als auch die BGH-Judikatur als wenig autonom gegenüber dem Willen des Gesetzgebers bzw. der damaligen Literatur gezeigt habe (S. 253). Auch die Feststellung, dass „keine pauschale Aussage über die Beachtung des Widerspruchs möglich“ sei, dürfte zutreffend sein (S. 254): „Das Reichsgericht hat sich zwar in seinen Grundsätzen für die generelle Nichtbeachtung des Widerspruchs ausgesprochen und der BGH für die Beachtung des Widerspruchs, allerdings waren dies auch nur Grundsätze, von denen abgewichen wurde.“ Bei einzelnen Fallgruppen handelt es sich um eine „geänderte Rechtsprechung bezogen auf ihre Argumentationslinien, die allerdings in vielen Punkten ähnliche Ergebnisse brachte“ (S. 255). Dies alles wirft die Frage auf, inwieweit sich in der Judikatur der NS-Zeit – unabhängig von den ideologischen Begründungen – zeitübergreifende Modernisierungstendenzen durchgesetzt haben, die nach 1945 zumindest durch die BGH-Judikatur wieder zurückgedrängt wurden. In diesem Zusammenhang sei noch auf das Werk von Vesta Hoffmann-Steudner (Die Rechtsprechung des RG zu dem Scheidungsgrund des § 49 EheG 1938 in den Jahren 1938-1945, Frankfurt am Main 1999) hingewiesen, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die RG-Judikatur zu § 49 EheG 1938 (Verschuldensprinzip) seit 1940 die Vorschrift weitgehend im Sinne eines Zerrüttungstatbestands gehandhabt habe in den Fällen, in denen die Zerrüttungsscheidung nicht oder noch nicht möglich war (Hoffmann-Steudner, S. 255ff.). Das Verdienst der Arbeit Bommers ist darin zu sehen, dass sie erstmals eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des frühen Bundesgerichtshofs zur Zerrüttungsscheidung vorgelegt hat, auf der weitere Arbeiten über die deutsche Ehescheidungspraxis seit Einführung der Zerrüttungstatbestandes im Jahre 1938 unter Einbeziehung auch der Judikatur zum Verschuldenstatbestand aufbauen können.
Kiel |
Werner Schubert |