Blickle, Peter, Das
alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne. Beck, München 2008. 320 S. 16
Abb. Besprochen von David von Mayenburg.
Der vor allem als Historiker des Bauernkriegs berühmt gewordene Autor legt in kurzer Folge seine zweite wichtige Gesamtdarstellung vor. Während er sich in seinem 2003 erschienenen Buch „Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten“ (2. Auflage 2006) mit der Geschichte der Freiheit seit dem Mittelalter beschäftigte, ist das vorliegende Werk noch breiter angelegt: Nicht weniger als eine Gesamtdeutung des „Alten Europa“ über den Zeitraum von 500 Jahren zwischen 1300 und 1800 will Blickle auf 272 Seiten vorstellen.
Anlass dieses Buchs war die einfältige Provokation des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfield, der herablassend vom „alten Europa“ sprach, als Europas führende Mächte ihm bei seinem Kriegszug in den Irak die Gefolgschaft verweigerten (S. 9). Dieser geschichtsvergessenen Rückständigkeitsthese will Blickle nun sein Konzept eines ebenso vitalen wie erfolgreichen „alten Europa“ entgegensetzen, das seine geschichtsmächtige Bedeutung aus einer überschaubaren Zahl von strukturellen Prinzipien bezog, die nach Auffassung Blickles als Grundbausteine Politik, Recht und Lebenswirklichkeit des untersuchten Zeitraums bestimmten. Diese „Werte“ (S. 272) entwickelt zu haben, so die These des erkennbar aus Schweizer Perspektive argumentierenden Autors, ist weniger ein Produkt zentraler Organisation oder akademischer Gelehrsamkeit, sondern zuallererst der lokalen und kommunalen Tradition, ein Verdienst des „gemeinen Mannes“.
Als fundamentale Grundeinheit der Gesellschaft definiert er das „Haus“ (S. 20-38), den räumlichen und sozialen Lebensmittelpunkt der Menschen. Das Haus war, als Bauernhaus wie Königshaus, Mittelpunkt der Wirtschaft und damit auch Bezugspunkt der Wirtschaftsethik, die um den Bedarf des Hauses („Hausnotdurft“) kreiste: Ethisch handelte, wer dem Haus das beließ, was es zum Leben brauchte (S. 25). Aus den nachbarschaftlichen Bedürfnissen der Häuser entstehen institutionelle Verflechtungen und Formen kommunaler Repräsentation (S. 62), die nicht nur sozialgeschichtlich als zentrale Bauprinzipien zu identifizieren sind, sondern auch für die Staatstheorie eine wichtige Vorbildfunktion erfüllten.
Auch die Sehnsucht des Menschen nach Spiritualität wird in (Gottes-)Häusern organisiert. Die Pfarrei ist der Ort, wo nicht nur das Seelenheil der Menschen gewährleistet wird, sondern auch soziale Fürsorge, gespeist aus dem Prinzip der Caritas und „ihr minder edles Geschwister Mitleiden“ (S. 119).
Neben dem „Mitleiden“ ist „Frieden“ ein weiterer Zentralbegriff. Dass Konflikte nicht mehr gewaltsam, sondern gerichtlich ausgetragen werden, hält Blickle für eine der großen zivilisatorischen Leistungen des alten Europa (S. 121). Hier stehen zentrale Initiativen (Landfriedensbewegung etc.) den aus Blickles Sicht erfolgreicheren lokalen Organisationsformen gegenüber (Schwurgemeinschaften).
Das folgende Kapitel zur „Freiheit“ (S. 159-185) wiederholt noch einmal die in seinem oben genannten Buch ausführlicher erläuterten Thesen und zeichnet den Weg von der „Eigenschaft“ des Frühmittelalters über die südwestdeutsche Leibeigenschaft bis hin zu den Perversionen dieser Herrschaftsform in der ostelbischen Gutsherrschaft.
Blickles letztes Kapitel (S. 187-243) kreist um den Begriff der „Ordnung“. Motor der Vorstellung, die Gesellschaft ordnend gestalten zu müssen, sind die für den Untersuchungszeitraum typischen Unruhen, die einen Diskurs über das Problem des Ungehorsams auslösten und ihre Wurzel häufig in der Missachtung des Prinzips des Hauses hatten. Unruhen entstehen, weil sich monarchische und kommunale Organisationsformen nicht wirklich integrieren lassen (S. 259). Erst das Faktum dieser Aufstände generierte den wissenschaftlichen Diskurs über den Ungehorsam und ermöglichte die Verrechtlichung sozialer Konflikte (S. 206). In einem weiteren Sinne habe dies alles, so Blickle, einen Prozess der Zivilisierung in Gang gesetzt, die durch Sozialdisziplinierung im Sinne Oestreichs und die politische Ökonomisierung des Körpers im Sinne Foucaults, durch Strafrecht und vor allem „gute Policey“ als einer innovativen Materie jenseits des Rechts (S. 226f.) erreicht wurde. Blickle schließt, indem er noch einmal die Bedeutung der wichtigsten Werte des „alten Europa“ wiederholt: „Frieden, Ordnung und Freiheit hat das Alte Europa als Erbschaft dem modernen Europa hinterlassen.“ (S. 272).
In schneller Folge, fast atemlos, wirft Blickle seine Darstellung aufs Papier. Und obwohl das Buch, das sich nicht an ein Fachpublikum, sondern vor allem an den interessierten Laien wendet, durchaus flüssig und anschaulich geschrieben ist, liest es sich teilweise wie ein groß angelegtes Thesenpapier und bietet eine solche Fundgrube an aphoristisch zugespitzten, in einfachen Hauptsätzen aneinandergereihten Thesen, dass man häufig beim Lesen innehalten muss, um die Reichweite dieser Behauptungen zu ermessen.
Angesichts der Lebensleistung Blickles und des allerdings nur sehr knappen Literatur- und Fußnotenapparats muss man unterstellen, dass derartig weitreichende Thesen nicht schlichte Behauptungen ins Blaue, sondern Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Materie und ihren nicht nur historischen, sondern auch juristischen, philosophischen und theologischen Implikationen sind. Auch wenn Blickle vieles, was hier verarbeitet wird, an anderer Stelle bereits breit und wissenschaftlich fundiert erörtert hat, wünscht sich der Leser gelegentlich, dass er sich etwas mehr Raum genommen hätte, um seine Thesen in ihre wissenschaftlichen Diskussionszusammenhänge einzubinden und vor allem auch, um sich mit abweichenden Konzepten noch stärker argumentativ auseinanderzusetzen. So bleibt die Interpretation des Gesagten häufig unkalkulierbar und lädt zu Missverständnissen ein. Ein Beispiel: Das für Rechtshistoriker besonders interessante Kapitel über den Frieden beginnt mit dem schlicht hingeworfenen Satz: „Frieden geschaffen zu haben gehört zu den herausragenden kulturellen Leistungen Europas.“ (S. 121 und nochmal fast wortgleich S. 252). Ausgerechnet derjenige Kontinent, der in beispielloser Weise und nicht nur im 20. Jahrhundert sich selbst und die ganze Welt mit Gewalt, Krieg und Verwüstung überzogen hat, soll die Realisierung von Frieden zu seinen Leistungen rechnen? Auch wer die gleich darauffolgende Einschränkung dieses Postulats auf den Binnenraum politischer Verbände zur Kenntnis nimmt, wird sich dadurch nicht wirklich beruhigen lassen: Nicht nur die (von Blickle im Übrigen unerwähnte) Geschichte der häufig eben auch kommunal initiierten Judenverfolgung lässt an der in der These anklingenden tatsächlichen Realisierung des unzweifelhaft konzeptionell vorhandenen Friedenspostulats zweifeln. Nur wenn man deren Reichweite auf die in der Tat nicht geringe Leistung bezieht, dass im untersuchten Zeitraum in den meisten Teilen Europas die Fehde durch gerichtsförmige Verfahren abgelöst wurde, kann man diese These so akzeptieren.
Das Beispiel führt zwei konzeptionelle Grundprobleme des Buchs vor Augen: Zum einen fehlt es paradoxerweise bei aller Thesenhaftigkeit an einer, zumindest explizit formulierten, Grundthese, einer den roten Faden des Narrativs bildenden erkenntnisleitenden Fragestellung. Es ist dem darstellerischen Geschick Blickles zu verdanken, dass man beim Lesen dennoch nicht das Gefühl hat, mit einer verwirrenden Mischung aus Fakten und Zusammenhängen alleingelassen zu werden. Immer wieder verzahnt er nämlich seine Grundmuster Haus, Gemeinde, Schwurprinzip, Frieden etc., so dass eher ein Geflecht an roten Fäden entsteht, das für sich genommen auch als plausibel und tragfähig erscheint. Doch obwohl damit der Eindruck entsteht, dass alles mit allem zusammenhängt, bleibt dennoch bei der Lektüre ein Unbehagen, ein Restgefühl an Beliebigkeit zurück. Warum werden bestimmte Aspekte herausgegriffen, andere verschwiegen? Bei gründlicher Lektüre des Buchs und in Kenntnis des übrigen Werks des Autors besteht über die eigentliche Absicht des Autors aber kein Zweifel: Blickle postuliert einmal mehr die vitalen und affirmativ bewerteten Potentiale der Graswurzel, also in seiner Terminologie des Hauses und der Gemeinde gegenüber dem stets skeptisch betrachteten Wirken zentraler Herrschaftsformen wie der Kirche, des Reichs, der Territorien oder des Adels. Doch will man wirklich, wie Blickle es beabsichtigt, die gewohnten und in der Tat fragwürdigen Epochengrenzen zwischen Mittelalter und Neuzeit, Vormoderne und Moderne zugunsten eines vom „gemeinen Mann“ her gedachten Konzepts des „Alten“ und „Neuen (?)“ Europa auflösen, so dürfte man sich nicht auf die Darstellung einer Hand voll Besonderheiten beschränken, sondern müsste diese Besonderheiten gerade durch vergleichende Betrachtung mit konkurrierenden inner- und außereuropäischen Konzepten herausarbeiten. Gerade diese Kontrastierung vermisst man jedoch immer wieder.
Ein zweites Hauptproblem ist, dass häufig die fundamentale Unterscheidung zwischen normativem Anspruch und realisierter Wirklichkeit nicht reflektiert bzw. in der Darstellung hinreichend unterschieden wird. Die seit Hermann Nehlsen in der Strafrechtsgeschichte etablierte Erkenntnis etwa, dass sich vielfach die normativen Ansprüche strafrechtlicher Gesetzgebung vor dem Hintergrund der Lebenswirklichkeit gar nicht realisieren ließen (z. B. die Verhängung von Geldstrafen in einer auf Tauschwirtschaft beruhenden Gesellschaftsordnung, z. B. die Verhängung grausamster Strafen für vergleichsweise banale Delikte), sollte nicht nur für das Frühmittelalter, sondern auch für die hier behandelte Epoche zu methodischer Vorsicht im Umgang mit der Interpretation verschriftlichten Rechts anhalten. Insofern muss auch offen bleiben, wie weit Blickles optimistische These von der Rechtsstaatlichkeit des „Alten Europa“ (S. 139) trägt.
Blickles Buch ist immer dort besonders stark, wo der Verfasser aus dem Fundus seiner Kenntnisse zur frühneuzeitlichen Protestkultur berichten kann. Hier wird der Text auch mit anschaulichen Beispielen unterlegt. Weniger gelungen erscheinen diejenigen Passagen, die rechtliche Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellen. Nur einige Beispiele seien hier genannt: So wird der Begriff „Kodifikation“ auch für die Landrechte und Landesordnungen bis zum 16. Jahrhundert (S. 55, 133) verwendet, obgleich doch in der rechtshistorischen Wissenschaft nicht erst seit Kurzem Bemühungen um eine begriffliche Schärfung laufen (vgl. nur das auch von Blickle zitierte Werk von Manlio Bellomo, L’ Europa del diritto comune, Rom, 8. Auflage 1998, Kap. 1, dt.: Europäische Rechtseinheit, Grundlagen und System des Ius Commune, München 2005). Auch die apodiktische These, die „Kraft, die vom Frieden auf die Ausgestaltung des Rechts ausging“, sei letztlich stärker gewesen, als alle anderen Quellen des Rechts, einschließlich des Ius Commune, da das auf Frieden bezogene Recht durch seine Anbindung an den „Gemeinen Nutzen“ besonders legitimiert gewesen sei (S. 133), bezieht den Forschungsstand der Rechtsgeschichte nicht mit ein. Die Einseitigkeit dieser These wird bereits durch einen Blick auf die reichhaltige Diskussion der spätmittelalterlichen Juristen über „utilitas publica“ und „bonum publicum“ offenbar (vgl. Kenneth Pennington, The Prince and the Law 1200-1600, Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley / Los Angeles, Oxford 1993, S. 232ff. m. w. N.). Doch noch folgenreicher ist, dass Blickle die Rolle der Papstkirche für die Entwicklung des europäischen Rechtsordnung überhaupt nicht im Blick hat. Dies zeigt nicht nur seine, allerdings insgesamt in Historikerkreisen offenbar nicht auszurottende, Gleichsetzung von „ius commune“ mit „römischem Recht“ (S. 132f.); die Isolierung und einseitige Hervorhebung des ius proprium gegenüber dem ihm korrespondierenden ius commune verkennt vielmehr, wie stark beide Elemente untrennbar zusammengehören und nur zusammen genommen die Rechtswirklichkeit angemessen beschreiben.
Das Buch ist in der Geschichtswissenschaft Anlass erheblicher Kritik geworden. So unterstellt Barbara Stollberg-Rilinger ihrem Kollegen die „Verherrlichung der überschaubaren vormodernen Lebenswelt und die Apotheose des gemeinen Mannes zum Helden eines zielgerichteten Geschichtsprozesses“ und nennt seine Darstellung einen „Dinosaurier in der postmodernen Landschaft“ (Barbara Stollberg-Rilinger, Rezension in: H-Soz-u-Kult, 16.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-165>, besucht am 13.10.2008). Das ist sicher in dieser Schärfe ungerecht. Vielleicht schießt Blickle gelegentlich in seiner Begeisterung für die basisdemokratische Kultur über das Ziel hinaus, etwa wenn er von der Schweiz spricht als dem besten „Beispiel für eine gelungene Friedensbewegung und deren staatbildende Kraft“ und dabei unterschlägt, wie auch in vielen Schweizer Städten seit dem Hochmittelalter Juden verfolgt, vertrieben und getötet wurden. Doch trotzdem ist das Buch über weite Strecken anregend und in diesem Sinne auch von didaktischem Wert. Immerhin ist es voller Thesen, die man nicht alle teilen mag, aber über die nachzudenken es sich lohnt. Auch wenn der Glaube an die Möglichkeit, selbst die widersprüchliche Welt des Mittelalters durch Schaubilder und skizzenhafte Argumentation rekonstruieren zu können, den postmodernen Theoretikern missfallen mag: Eine Wissenschaftslandschaft dürfte kaum plural zu nennen sein, wenn sie nur Raum ließe für die momentan moderne, ironisch-distanzierte Dekonstruktion historischer Zusammenhänge. Vielmehr ist auch dem Wagnis zu einer aus historischer Erfahrung und persönlicher Überzeugung geborenen Synthese Anerkennung auszusprechen. Dies gilt umso mehr, als eine derartige „Universalgeschichte von unten“ auch heute noch als innovativer Beitrag zum historischen Diskurs gewertet werden muss. Der kritische Leser weiß allemal, dass auch der Versuch einer Gesamtdarstellung nur eine Näherung an eine ohnehin nie im Ganzen rekonstruierbare historische „Realität“ sein kann.
Bonn David von Mayenburg