Beck, Friedrich/Beck, Lorenz Friedrich, Die lateinische Schrift. Schriftzeugnisse aus dem deutschen
Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Böhlau, Köln 2007. XII, 675 S.
Besprochen von Gerhard Günther.
Die
etwa zweieinhalb Jahrtausende alte Geschichte der lateinischen Schrift wird in
diesem Werk kurz und prägnant dargestellt und anhand von über 265 Abbildungen
veranschaulicht. Von indistinkt geschriebener römischer Kapitale (S. 114f.) bis
zur modernen Schulausgangsschrift (S. 654f.) und den mir immer wieder Unbehagen
verursachenden Versuchen zeitgenössischer Werbegrafiker (S. 340f.), die
Frakturschrift anzuwenden (warum eigentlich?), werden diese Abbildungen nach klar
erläuterten Regeln (S. 111f.) transkribiert.
Besonders
ausführlich wird die Schrift (vor allem auch die kursiven Geschäfts- und
individuellen Formen) vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart behandelt, die
bisher stets entweder nur knapp oder gar nicht untersucht wurde. Diese Zeit war
für das Untersuchungsgebiet eine Spanne eigenartiger Zweischriftigkeit, da
gotisch-deutsche und lateinische Antiquaschriften nebeneinander gebraucht
wurden. Bis in die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden in der
Volksschule die Sütterlin-Schrift und die lateinische Normalschrift gelehrt und
gelernt. Die Einheit der lateinischen Schrift ist nach jahrhundertelanger
Spaltung 1941 wieder hergestellt worden. Kurios ist, dass ein „Führerbefehl“
die Fraktur, auch deutsche Schreibschrift, als „Judenlettern“ bezeichnete und
ihren Gebrauch untersagte.
Juristen
haben in der Anfangszeit der Paläographie viel zu deren Entwicklung
beigetragen, aber nicht um geschichtliche Kenntnisse zu erwerben und zu
vermitteln, sondern weil sie die überkommenen historischen Schriftstücke als
Beweismittel in öffentlich-rechtlichen (dynastischen, territorialen) und auch
privatrechtlichen Angelegenheiten (z. B. Erbansprüchen) verwenden wollten. Noch
1749 hat der Mühlhäuser Jurist Benjamin Christoph Graßhof in seiner Commentatio de originibus atque
antiquitatibus S. R. I. liberae civitatis Mulhusae versucht, den
staatsrechtlichen Status der freien Reichstadt zu untermauern. Dabei
veröffentlichte er in einem Anhang mehr als 64 Urkunden und erstmals die
Mühlhäuser Handschrift des Rechtsbuchs nach des Reiches Recht (wahrscheinlich
ältestes Rechtsbuch in deutscher Sprache). In der Neuzeit haben die praktischen
Juristen das mühsame Entziffern alter Schriften lieber Sachverständigen
überlassen. Eine Paläographie der juristischen Handschriften des 12. bis 15.
und der juristischen Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts von Emil Seckel
hat Erich Genzmer aus dessen Nachlass herausgegeben (ZRG RA 45 [1925] S.
1-16; als Sonderdruck erneut 1953 bei Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar).
Man
könnte das umfangreiche Werk von Beck sen. und jun. bekritteln, z. B.
fehlt trotz sicherlich mehrfachem Korrekturlesen auf S. 537 in der ersten
Textzeile des Briefes vor dem Wort Geld „viele“, aber das ist menschlich; man
könnte die eine oder andere Datierung undatierter Vorlagen gern genauer haben
wollen; aber das alles ändert nichts an der Tatsache, dass selbst Leute mit
Erfahrungen im Lesen und in der Edition von Quellen mit Gewinn dieses Buch
nutzen können. Die Autoren waren bemüht, einen für Studierende noch
erträglichen Verkaufspreis für das Handbuch zu erreichen. Deshalb wurde kein so
großes Format gewählt, wie es die älteren paläographische Tafelwerke haben, die
freilich ihren Weg fast nur in große Bibliotheken fanden. Auch in der Auswahl
der Abbildungen haben sich die Verfasser beschränkt. Bei Arbeiten mit Handwerksbüchern
fiel mir auf, dass manche Innungen sich einen professionellen Schreiber leisten
konnten, der bei Titelseiten geradezu kalligraphische Kunstwerke lieferte. In
anderen Innungen brachte ein des Schreibens ungeübter Innungsmeister nach des
Tages schwerer Arbeit die Innungsprotokolle zu Papier. Eine Gegenüberstellung
derartiger Schriftproben hätte ich mir gewünscht.
Vielleicht
wäre ein Hinweis auf das, was die Paläographie als „Hilfswissenschaft“ leisten
oder helfen kann, nützlich gewesen (Altersbestimmung, Ermittlung des Schreibers
durch Schriftvergleich usw.). Es ist zwar ein „Wespennest“, aber das Problem
soll doch erwähnt werden. Auf S. 111 heißt es: „Die Transkriptionen der
Abbildungen verstehen sich als Lesehilfe unter schriftgeschichtlichem Gesichtspunkt,
nicht als Editionsabschriften.“ In der Folge wird die Methode der
paläographischen Abschrift exakt beschrieben. Gerade weil das Handbuch auch für
Studierende bestimmt und da es mit dem Lesen (Entziffern) allein nicht getan
ist, wären einige Ausführungen zu Editionsabschriften am Platze gewesen. Es
gibt nämlich Leute, die Unterricht in Paläographie – manche sogar im Ausland –
genossen haben und nun meinen, sie müssten auch bei Editionen paläographische
Abschriften verwenden.
Die von
Schilp, Mühlhäuser Beiträge 29 (2006), S. 144-146, und Oestmann,
ZRG GA 124 (2007) S. ###, sehr unterschiedlich bewertete, von beiden aber als
Quellenedition aufgefasste Herausgabe der ältesten lateinischen Statuten der
Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen, die Wolfgang Weber vorgelegt hat,
begreift sich selbst als paläographische Transkription (S. XIII), aber auch als
Edition. Nun kann eine paläographische Abschrift ediert werden, sie ist jedoch
m. E. ungeeignet für historisch interessierte Laien, wie engagierte Vereinsmitglieder
und Mühlhäuser Bürger, und für heimatgeschichtlich interessierte Leser (S. XIV
und XXVII). Abgesehen davon, dass die Zeit „von 1311 (frühestens) bis 1351
(spätestens)“ (S. XXX) keineswegs die Entstehungszeit der Statuten ist, vgl.
dazu Günther, Zur Rechtsgeschichte der Reichsstädte Mühlhausen und
Nordhausen, in: Mühlhäuser Beiträge 30 (2007), S. 182-197, und für
paläographische Probleme auf „ein sehr umfassendes und aufwendig
herzustellendes schriftkundliches Gutachten“ verwiesen wird (ebenda), erscheint
die ganze paläographische Transkription und Edition sehr fragwürdig. Weber
hat nämlich S. 6 Randziffer 11 ein I
= Item (vgl. die oben erwähnte Arbeit
E. Seckels, S. 8) als D
gelesen und damit aus Item rape „Drape“ gemacht. Das ist auch deswegen peinlich,
weil Laken (drape) üblicherweise mit
einem Längenmaß gemessen werden. Das hier gemeinte Hohlmaß diente zum Messen
von Rüben (rape), was in der ersten
(und bisher einzigen!) Edition durch E. Lambert (1870) und in den
deutschsprachigen Redaktionen dieser Statuten von 1351 und 1401 klar zum
Ausdruck kommt. – Ein Schüler F. Becks hat Webers Editionsmethode
bereits nachgeahmt, Mühlhäuser Beiträge 25 (2005) S. 64-69, allerdings ohne
gravierende Fehler.
Die oft
beklagte Krise der Hilfswissenschaften ließe sich m. E. beenden, wenn einige
Gepflogenheiten des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebes verändert würden. Die
Verwendung archivalischer Quellen in Diplom-, Magisterarbeiten, Dissertationen
und in anderen wissenschaftlichen Arbeiten sollte kritisch überprüft werden.
Mir ist in jahrzehntelanger Tätigkeit als Archivar kein einziger Fall
vorgekommen, in dem das geschehen wäre. Eigentlich müsste jede
Bildungseinrichtung bestrebt sein zu erreichen, dass die von ihr ausgehenden
wissenschaftlichen Arbeiten von hohem Niveau sind. Es finden sich auch nicht
immer Rezensenten, die in der Lage sind, das dort Versäumte nachzuholen. Dem
könnte entgegengehalten werden, dass für eine solche kritische Überprüfung zu
wenig wissenschaftliches Personal oder Zeit vorhanden ist. Das kann so sein.
Ich habe jedoch nicht die Macht das zu ändern.
Lychen Gerhard
Günther