Zeller, Bernhard, Ex facto
ius oritur. Zur Bedeutung der ehemaligen deutschen Kolonialgrenzen in Afrika am
Beispiel des Rechtsstreits zwischen Kamerun und Niger (= Schriften zur Geschichte
des Völkerrechts 11). Nomos, Baden-Baden 2006. XX, 419 S. Besprochen von
Dominik Westerkamp.
Die vorgelegte Studie beschäftigt sich mit der heutigen Bedeutung der ehemaligen deutschen Kolonialgrenzen in Afrika. Nach einer Einleitung, in der der Verfasser einige Definitionen erläutert und mit einem kurzen historischen Abriss in das Thema einführt, stellt er zunächst die für das Thema relevanten Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes, nämlich den Kasikili/Sedudu-Case und den Kamerun und Nigeria betreffenden Land-and-Maritime-Boundary-Case, dar.
Im Hauptteil seiner Arbeit beleuchtet der Verfasser zunächst die Entstehung der Kolonialgrenzen in Afrika. Danach „erwarben“ die europäischen Kolonialmächte entsprechende Gebiete in Afrika völkerrechtlich wirksam entweder durch den Abschluss eines Schutzvertrages – in Form eines (echten) Abtretungsvertrages oder eines Protektoratsvertrages – oder, in geringerem Ausmaß, durch Okkupation. Interessant sind hierbei die Ausführungen hinsichtlich der Völkerrechtsfähigkeit der auf afrikanischer Seite beteiligten Rechtssubjekte. Während noch im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufgrund der herrschenden Naturrechtslehre die Völkerrechtssubjektivität der afrikanischen Völker unbestritten war, änderte sich dies in der Folgezeit. Durch den aufkommenden Rechtspositivismus habe im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung eingesetzt, wonach nur Staaten mit einem – im europäischen Sinne – ausreichenden Grad an Zivilisation und staatlicher Organisation, die zu einer effektiven Ausübung von Herrschaftsmacht befähigt war, die Völkerrechtssubjektivität zuerkannt wurde. Dies traf in Afrika allerdings nur für wenige Staaten, etwa die Burenrepublik Südafrika oder Ägypten, zu. Dem Rest des Kontinents wurde sie mit „einer Vielzahl unterschiedlicher, teilweise auch widersprüchlicher, in jedem Fall aber pauschaler und empirisch nicht belegter Begründungen abgesprochen“ (S. 126). Der Autor führt einen bunten Strauß dieser „Begründungen“ an, eine absurder als die andere, die zeigen, dass es der Völkerrechtswissenschaft seinerzeit ausschließlich um die Rechtfertigung eines bestimmten Ergebnisses, nämlich der Begründung wirksamer völkerrechtlicher Gebietserwerbstitel für die europäischen Kolonialstaaten, ging. So hieß es, den „wilden Völkern“ fehle es an ausreichender Zivilisation, an Einsicht in die Konzeption von Rechten und Pflichten und vertraglichen Verbindungen, sie nutzten den ihnen anvertrauten Boden und dessen Schätze nicht; es wurde gar eine Pflicht europäischer Staaten statuiert, den „unzivilisierten Völkern“ durch Kolonisierung Religion, Kultur und Zivilisation zu bringen (S. 126, 127). Das afrikanische Territorium war daher terra nullius, also frei für Gebietserwerb durch Okkupation. Wobei in diesem Zusammenhang anzumerken ist, dass gegen die erhobene Forderung nach effektiver Ausübung von Herrschaftsgewalt als Voraussetzung für die Annahme von Völkerrechtssubjektivität – auch aus heutiger Sicht - nichts spricht, handelt es sich dabei doch um ein bestimmendes Element bei der Frage nach der Staatsqualität. Doch die damaligen Begründungen für deren Negation zeugen vom (Un-)Geist der Interessenjurisprudenz.
Der Verfasser weist auf ein weiteres interessantes Detail hin. Im Verlaufe der Berliner Kongo-Konferenz des Jahres 1885 wurde von Seiten der Vereinigten Staaten von Amerika der Vorschlag gemacht, den Erwerb von Gebieten von der Zustimmung der dort lebenden Bewohner abhängig zu machen (S. 98, 200). Es wäre von Interesse gewesen, diesem frühen Ansatz für das später von Präsident Woodrow Wilson in seinem 19-Punkte-Plan ausgeführten „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ näher nachzuspüren, umso mehr, als sich der Verfasser mit der Entwicklung dieses Selbstbestimmungsrechts der Völker ausführlich beschäftigt (S. 308ff.)
Weiterhin erläutert der Autor unter anderem das uti-possidetis-Prinzip, dessen Bedeutung für die Fortgeltung der Kolonialgrenzen und dessen Widerstreit mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Abschließend kommt er zu dem Ergebnis, die auf dem uti-possidetis-Prinzip basierende „Fortgeltung der Kolonialgrenzen“ in Afrika sei „keine zwangsläufige Entwicklung, sondern das Ergebnis einer bewussten Entscheidung der betroffenen Staaten, ihnen auch nach der Unabhängigkeit Verbindlichkeit zuzuerkennen“ (S. 352).
Kassel Dominik Westerkamp