Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und
Rechtskultur, hg. v. Lück, Heiner/De Wall, Heinrich. Böhlau, Köln 2006.
375 S. Besprochen von Gunter Wesener.
Der vorliegende Sammelband geht auf eine Vortragsreihe zurück, welche die Herausgeber am Vorabend des 500. Gründungsjubiläums der Universität Wittenberg im Wintersemester 2001/2002 und im Sommersemester 2002 veranstaltet haben. Die Vorträge wurden abwechselnd in Halle an der Saale und in Wittenberg gehalten. Die Beiträge sollen nicht nur die Ausstrahlung der Wittenberger Jurisprudenz und Rechtspraxis zum Ausdruck bringen, sondern sind auch als Bausteine für eine Geschichte der Wittenberger Juristenfakultät und für eine moderne Wittenberger Universitätsgeschichte gedacht.
Eine Einführung in die Geschichte der Universität Wittenberg und die der Juristenfakultät im Besonderen gibt Heiner Lück in seinem instruktiven Beitrag (S. 13-33)[1]. Die im Jahre 1502 gegründete Universität erhielt von den Humanisten bald den Namen Leucorea („weißer Berg“). Im Sommer 1520 entwickelte Martin Luther, der seit 1511 an dieser Universität wirkte, in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ seine Vorstellungen über erforderliche Reformen des Schulwesens und des Universitätsstudiums. Die biblischen Sprachen Griechisch und Hebräisch erhielten als selbständige Lehrfächer einen bedeutenden Stellenwert. Als Vertreter der humanistischen Jurisprudenz wirkten in Wittenberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts Hieronymus Schurff (Schürpf), Johann Apel[2], Christian Beyer, Henning Goeden[3] und Konrad Lagus (S. 17 u. 25f.)[4]. Ihre Blütezeit erlebte die Wittenberger Juristenfakultät im späten 16. Jahrhundert mit dem Niederländer Matthäus Wesenbeck (1531-1586)[5], (S. 27), Joachim von Beust (1522-1597) und Johannes Schneidewin (1519-1568)[6]. Eine starke Konkurrenz erhielt Wittenberg mit der Gründung der brandenburgisch-preußischen Reformuniversität Halle im Jahre 1694. Zu den bedeutendsten Gelehrten an der Leucorea im 17. Jahrhundert zählt Caspar Ziegler (1621-1690)[7], der als Repräsentant des Naturrechts in Wittenberg gilt. Bekanntester Wittenberger Jurist des 18. Jahrhunderts war Augustin Leyser (1683-1752). Im Jahre 1817 kam es zur Vereinigung der Wittenberger Universität mit der Universität Halle.
Dem Reformations- und Reformjuristen Melchior Kling (1504-1571) ist der eingehende Beitrag (S. 35-62) Rolf Lieberwirths gewidmet. Kling, ein Schüler Hieronymus Schurffs, vertrat seit 1536 an der Universität Wittenberg die Lectura ordinaria in decretalibus, worunter an den protestantischen Universitäten nur noch die allgemeine Prozessvorlesung verstanden wurde. Mit dieser Professur war das Assessorat beim Wittenberger Hofgericht verbunden. Als Mitglied der Fakultät war Kling auch Beisitzer des Spruchkollegiums sowie des Wittenberger Schöffenstuhls (S. 41). Lieberwirth (S. 47ff.) befasst sich auch mit anderen Juristen aus dem Kreise Melanchthons[8], wie Johann Apel und Konrad Lagus. In seinen Enarrationes in libros IV Institutionum (Francofurti 1542), einem Kommentar zu den justinianischen Institutionen, erweist sich Kling als ein Anhänger der systematischen Methode (S. 50).
„Luther und die Juristen - Die Herausbildung eines evangelischen Kirchenrechts im Gefolge der Wittenberger Reformation“ ist Titel und Gegenstand des Beitrages (S. 63‑82) Christoph Links. Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers (Reich Gottes und weltliche Obrigkeit) wurde zum Schlüssel für die theologische Begründung des evangelischen Kirchenrechts (S.68). Scharf wurde das kirchliche Recht vom staatlichen Recht, von dem durch die weltliche Obrigkeit gesetzten Recht, geschieden. Eine Trennung von Kirche und Staat, von religiöser und weltlicher Sphäre, war der Zeit aber noch fremd und nicht durchsetzbar. Die Landesfürsten führten ein strenges Regiment über das Kirchenwesen ihres Territoriums und leiteten dies aus ihrer Landesobrigkeit ab (S. 70f.). Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts ergingen als landesfürstliche Gesetze. Die protestantischen Juristen konnten sich mit ihrem Bestreben nach Wahrung der Rechtskontinuität durchsetzen. Das Corpus Juris Canonici sollte subsidiär weitergelten, nachrangig nach dem kaiserlichen Recht des Jus Civile und nach den Kirchenordnungen (S. 80).
Ditlev Tamm behandelt das Verhältnis der Universitäten Wittenberg und Kopenhagen (S. 83‑93). Während im 15. Jahrhundert Köln als Mutteruniversität Kopenhagens galt, kam diese Rolle für das 16. Jahrhundert Wittenberg zu.
Mit der „Rechtsstellung der Frau in der Wittenberger Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts“ befasst sich der Beitrag (S. 95-113) Elisabeth Kochs. In den reformatorischen Gebieten setzte sich weitgehend der Grundsatz durch, die Gültigkeit einer Ehe von der Zustimmung der Eltern abhängig zu machen; damit sollten heimliche Eheschließungen verhindert werden (S. 100ff.).
Dem Wittenberger Konsistorium und dem Aufbau der evangelischen Ehegerichtsbarkeit im sächsischen Raum ist der Beitrag (S.115-136) Ralf Frasseks gewidmet. In den Jahren 1527 und 1528 wurden in Sachsen Visitationen durchgeführt und das Amt des Superintendenten geschaffen (S. 119ff.). Die Superintendenten waren mit ehegerichtlichen Aufgaben auf regionaler Ebene betraut (S. 121). In den Jahren nach 1529 fällte der Wittenberger Schöffenstuhl die meisten obergerichtlichen Entscheidungen in Ehesachen. Ab 1539 wurde er allmählich vom Wittenberger Konsistorium in dieser Funktion abgelöst (S. 124). Das Konsistorium war mit gelehrten Juristen und Theologen der Universität besetzt und wirkte entscheidend bei der Gestaltung des neuen evangelischen Eherechts mit (S. 130).
In seinem Beitrag „Luthers Hexenglaube und die Hexenverfolgung“ (S.137‑149) vertritt Günter Jerouschek die Ansicht, dass Luther den Zauber- und Hexenglauben der Zeit in vollem Umfang geteilt habe (S. 142). Ein homogenes Bild lasse sich für den Protestantismus und seine Einstellung zur Hexenverfolgung aber nicht zeichnen (S. 146ff.).
„Konrad Lagus (um 1500-1546) und die europäische Rechtswissenschaft“ ist Gegenstand des Beitrages (S. 151-173) Hans Erich Trojes, der sich schon mehrfach mit Lagus befasst hat. Eingehend behandelt wird Lagus’ Hauptwerk, die Traditio methodica utriusque juris, zwischen 1543 und 1592 in Frankfurt und Basel, Lyon und Löwen mindestens neun Mal erschienen (S. 152, 158ff.). Ausgangspunkt für Lagus sind die justinianischen Institutionen, von denen in wesentlichen Teilen seine eigene Gliederung abgeleitet ist. Er gliedert seine Rechtsdoktrin in eine pars philosophica und eine wesentlich größere pars historica (S. 161 ff.). Dieser Teil besteht aus sechs Kapiteln, geht also über das Institutionensystem hinaus (S. 163).
Eine Darstellung von Leben und Werk Matthäus Wesenbecks (1531-1586) und dessen Bedeutung für das römisch-holländische Recht bietet Robert Feenstra (S. 175‑243). Der gebürtige Antwerpener M. Wesenbeck (Mattheus van Wesembeke) war aus religiösen Gründen nach Deutschland emigriert, lehrte zehn Jahre als Professor an der Universität Jena und von 1569 bis zu seinem Tode (1586) an der Wittenberger Universität. Feenstra untersucht den Einfluss Wesenbecks auf das „klassische“ römisch-holländische Recht, d. h. er behandelt die historische Rolle, die Wesenbeck bei dessen Entstehung und Blüte gespielt hat (S. 179ff.). Ausführlich eingegangen wird auf die Paratitla, erstmals erschienen in Basel 1563 unter dem Titel Paratitla in Pandectarum iuris civilis libros quinquaginta ex praelectionibus Matthaei Wesenbecii. Ab 1575 wurde das Werk erweitert um einen Teilkommentar zum Codex. Von besonderem Interesse sind die Ausführungen über den Einfluss von Wesenbecks Schriften in den südlichen und nördlichen Niederlanden (S. 195ff.). Eine Bibliographie der juristischen Schriften M. Wesenbecks ergänzt den Beitrag (S. 209-243).
Mit dem privatrechtlichen Wirken Benedikt (II.) Carpzovs im Kontext der europäischen Zivilrechtswissenschaft befasst sich der aufschlussreiche Beitrag (S. 245‑272) Martin Lipps. Benedikt Carpzov, geboren 1595 zu Wittenberg, durch Jahrzehnte Mitglied des Leipziger Schöppenstuhls, von 1645 bis 1653 Professor an der Juristenfakultät in Leipzig und Vorsitzender des Spruchkollegiums der Fakultät, gilt als einer der einflussreichsten deutschen Juristen überhaupt (S. 246). Bekannt ist er vor allem als Begründer der gemeinrechtlichen deutschen Strafrechtswissenschaft, aber auch seine Bedeutung für die Privatrechtsentwicklung ist beachtlich. Sein zivilrechtliches Hauptwerk ist die im Jahre 1638 erstmalig erschienene Iurisprudentia forensis Romano-Saxonica secundum ordinem constitutionum D. Augusti Electoris Saxonicae (S. 250, 263ff.). Carpzov ist ein typischer Vertreter des Usus modernus pandectarum. In seiner Iurisprudentia will er das „aktuelle römisch-sächsische Gemeinrecht“ für Gerichte, Spruchkörper und Rechtspraktiker darstellen (S. 258). Wie M. Lipp formuliert, spricht in diesem Werk „der Geist des usus modernus in seiner grundlegenden Phase der Vollendung der Rezeption durch usus fori: Verschmelzung und Assimilation unterschiedlicher Rechtsschichten zu einer Rechtsordnung“ (S. 266). Zu Recht wird Benedikt Carpzov als ein entscheidender Mitbegründer einer römisch-deutschen Gemeinrechtswissenschaft in Kursachsen und in ganz Deutschland bezeichnet (S. 272).
Hans-Peter Schneiders Beitrag (S. 273‑290) hat „die Lehre vom christlichen Naturrecht bei Caspar Ziegler (1621-1690)“ zum Gegenstand. Ziegler, seit 1655 Professor des römischen Rechts, seit 1662 des Kirchenrechts an der Wittenberger Universität, hat sich eingehend mit der Naturrechtslehre Hugo Grotius’ auseinandergesetzt und als protestantischer Rechtstheologe daran Kritik geübt (S. 284ff.).
Mit Wittenberger Vertretern des Ius Publicum befasst sich schließlich der Beitrag (S. 291-359) Dieter Wyduckels. Behandelt werden unter anderen Petrus Ravennas (S. 301f.), Henning Goeden (S. 303ff.), Conrad Carpzov und Benedikt Carpzov (S. 308ff.) sowie Caspar Ziegler (S. 326ff.) und Johann Friedrich Horn (S. 332ff.), an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stehend schließlich Carl Salomo Zachariä (S. 355ff.).
Die Beiträge des Sammelbandes geben einen
vortrefflichen Einblick in die sächsische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis
des 16. bis 18. Jahrhunderts, in die Rolle der Wittenberger Juristenfakultät
und deren Bedeutung für die deutsche und europäische Rechtsentwicklung.
Graz Gunter Wesener
[1] Vgl. H. Lück, Wittenberg und die europäische Rechtswissenschaft. Forschungsstand und –perspektiven am Vorabend des 500. Gründungsjubiläums der Universität Wittenberg, in: H. Lück/B. Schildt (Hg.), Recht – Idee – Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für R. Lieberwirth anlässlich seines 80. Geburtstages (Köln – Weimar – Wien 2000) 301 ff.; dazu L. Carlen, in: ZRG Germ. Abt. 119 (2002) 377 ff., insbes. 378 f.
[2] Zu Johann Apel vgl. R. Lieberwirth im vorliegenden Band S. 48 ff.
[3] Zu Henning Goeden vgl. D. Wyduckel im vorliegenden Band S. 303ff.
[4] Zu Konrad Lagus vgl. den Beitrag H. E. Trojes im vorliegenden Band S. 151 ff.; ferner R. Lieberwirth, ebd., S. 48ff.
[5] Zu M. Wesenbeck vgl. den Beitrag R. Feenstras im vorliegenden Band S. 175ff.
[6] Vgl. G. Wesener, Johannes Schneidewin 1519-1568, Einleitung zum Nachdruck von J. Schneidewin, In quatuor Institutionum Imperialium D. Justiniani libros, Commentarii, Argentorati 1575 (Frankfurt am Main 2004) p. V ff.
[7] Zu Caspar Ziegler vgl. den Beitrag H.-P. Schneiders im vorliegenden Band S. 273ff.; ferner D. Wyduckel, ebd. S. 326ff.
[8] Vgl. I. Deflers, Lex und ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons (Berlin 2005); dies., Melanchthon und die Rezeption des römischen Rechts in Sachsen und im Alten Reich, in: Sachsen im Spiegel des Rechts. Ius Commune Propriumque, hrsg. von A. Schmidt-Recla, E. Schumann, F. Theisen (Köln 2001) 185ff.