Windmüller, Joachim, Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren … - „Asoziale“ in der DDR (= Rechtshistorische Reihe 335). Lang, Frankfurt am Main 2006. XX, 448 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Arbeit ist die von Rainer Schröder angeregte und betreute, im Kern 2004 abgeschlossene, im Wintersemester 2005/2006 von der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin angenommene, die zwischenzeitlich 2005 erschienene materialreiche Studie Sven Korzilius’ (vgl. dazu die Besprechung durch Ilse Reiter-Zatloukal in ZRG GA 123 [2006], 800) aus Gründen beruflicher Inanspruchnahme nicht mehr berücksichtigende Dissertation des Verfassers. Sie gliedert sich in vier chronologisch geordnete Teile. Sie enden jeweils mit einer Zusammenfassung und Wertung.
Eingangs legt der Verfasser einen aus 79 Wörtern gebildeten Definitionsversuch eines bibliographisch anscheinend nicht einwandfrei dokumentierten Kürzinger zu Grunde. Zutreffend räumt er der Asozialität in einem totalitären Staatswesen wegen des geringen oder fehlenden Freiheitsspielraums größere Bedeutung ein. Gleichwohl fragt sich, ob deswegen im Rahmen der Einführung in die Thematik ein Exkurs über Asoziale im Dritten Reich sinnvoll und notwendig ist, weil der selbst gesteckte zeitliche Rahmen dies eigentlich nicht nahelegt und zulässt.
Nicht überzeugend ist es auch den Forschungsstand damit zu schließen, dass eine Gesamtdarstellung zur rechtlichen Geschichte der Asozialität in der DDR noch aussteht und gleichzeitig auf ein bereits vorliegendes Werk zu verweisen, das der Verfasser nur nicht mehr berücksichtigt hat. Tatsächlich kann man immer etwas erstens im Kern abschließen und zweitens formal abschließen. Wissenschaftliche Konvention ist aber grundsätzlich die Berücksichtigung aller bis zum förmlichen Abschluss vorliegenden Erkenntnisse.
Die Quellenlage schildert der Verfasser als trotz mancher Hemmnisse verhältnismäßig günstig. Im Detail muss er gleichwohl viele praktische Einschränkungen vornehmen. Letztlich bietet er hier keine völlige Transparenz.
Für den Zeitabschnitt von 1945 bis 1961, für den die sowjetische Besatzungszone mit der Deutschen Demokratischen Republik verbunden wird, ermittelt er (für Arbeitsbummelanten und geschlechtskranke oder der Prostitution nachgehende Frauen) eine Mischung aus Repression, gutgemeinter Hilfe und bevormundender Erziehung, aus älteren, neueren und gänzlich fehlenden Konzepten, wobei wirtschaftliche Aspekte Maßstäbe und Grenzen setzten. Am 24. August 1961 wurde demgegenüber im Gefolge des Mauerbaus eine Verordnung erlassen, die Arbeitsscheu mit Arbeitserziehung (Lagerhaft) sanktionierte (1967 rund 1500 Verurteilungen). Dahinter stand nach Ansicht des Verfassers eine ideologische Kritik am nicht arbeitenden Parasiten, welcher der Gesellschaft seinen ihr vermeintlich zustehenden Beitrag vorenthielt und so den Sozialismus schädigte.
Einen dritten Abschnitt eröffnet der Verfasser mit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs der Deutschen Demokratischen Republik am 1. Juli 1968 sowie einer begleitenden Verordnung über die Erziehung kriminell gefährdeter Bürger (1. September 1968). Das neue Strafgesetzbuch enthielt einen im Hintergrund bleibenden Tatbestand der Verleitung zu asozialer Lebensweise (§ 145) und einen Tatbestand der Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten (§ 249). Dieser wurde 1969 in 3713 Fällen (davon vorbestraft 37,3 Prozent) und 1988 in 7640 Fällen angewandt.
Mit dem 1. August 1979 trat das dritte Strafrechtsänderungsgesetz in Kraft. Es verschärfte die Lage erkennbar, wenn auch nicht in dem Maße, wie anfangs zu befürchten war. Zu einer grundlegenden Änderung ihrer Haltung war die Deutsche Demokratische Republik aber nicht in der Lage.
Insgesamt gelangt der Verfasser damit wohl überzeugend zu einer kritischen Bewertung der gescheiterten Asozialenpolitik der Deutschen Demokratischen Republik. Vergröbert stellt er als Fazit fest, dass die mit dem Leben nicht zurechtkommenden Menschen kriminalisiert und die zwar mit dem Leben an sich zurechtkommenden, aber im Widerspruch zur herrschenden Ideologie stehenden Menschen getroffen wurden. Allerdings zeige die frühe Bundesrepublik Deutschland, dass die Staatsordnung allein noch keine Garantie für liberalen Umfang mit Menschen sei, und gehe es bei Asozialität vor allem um die Frage, ob man Menschen zu ihrem Glück zwingen dürfe.
Innsbruck Gerhard Köbler