Wettmann-Jungblut, Peter, Rechtsanwälte an der Saar 1800-1960. Geschichte eines bürgerlichen Berufsstandes, mit einem Beitrag v. Möhler, Rainer, hg. v. Saarländischer AnwaltVerein. Gollenstein Verlag GmbH. Blieskastel 2004. 573 S. Besprochen von Thomas Gergen.

 

Das Land an der Saar hat sich in mehreren historischen Entwicklungsstufen zum Saarland in seinen heutigen Grenzen entwickelt[1]. Dort bildeten, wie anderswo auch, die Rechtsanwälte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine kleine bildungsbürgerliche Elite, deren Zahl und Bedeutung erst im Verlauf gesamtgesellschaftlicher Modernisierungs- und Verrechtlichungsprozesse wuchs. Der Einfluss des französischen Rechts und Rechtssystems, für das sich vor allem das liberale Bürgertum stark machte, blieb auch nach 1815 bestehen und war dafür verantwortlich, dass die Entwicklung der Anwaltschaft in der preußischen Rheinprovinz und in den preußischen Kernlanden sehr unterschiedlich verlief.

 

Während in der Rheinprovinz die charakteristische Zweiteilung in „Amtsprofession“, also staatlich ernannte Advokat-Anwälte, und „freien Beruf“ vorherrschte (auch „gemäßigte Professionalisierung von oben“ genannt), führte Preußen eine „Professionalisierung von oben“ ein; daraus entwickelte sich eine anwaltliche „Amtsprofession“, deren Mitgliedern der Staat durch das Prinzip der geschlossenen Zahl und festgelegte Gebührentarife ein Funktionsmonopol und damit ein standesgemäßes Einkommen garantierte.

 

Als das Landgericht Saarbrücken im Jahre 1835 seinen Geschäftsbetrieb aufnahm, traten ausschließlich „Advokat-Anwälte“ auf, so dass der vielerorts auftretende Konflikt zwischen freiberuflichen und staatlich ernannten Advokat-Anwälten ausbleiben konnte. Mit der Rechtsanwaltsordnung von 1878 trat die endgültige Professionalisierung der Anwaltschaft ein. Die saarländische Anwaltschaft war bis zum Ende des Ersten Weltkrieges eindeutig eine bürgerlich-konservative. Erst unter der Völkerbundsregierung (1920-1935) ergriffen einige Anwälte Partei für die Sozialdemokratie. Die stille Duldung des nationalsozialistischen Unrechtsstaats, im Saarland erstaunlicherweise auch unter der Nicht-NS-Regierung bis 1935, bzw. die mehr oder weniger aktive Teilnahme an ihm machten den demokratischen Neubeginn nach 1945 mit einer Anwaltschaft, die zu nahezu 80 % der NSDAP angehört hatte, zu keinem einfachen Unterfangen; der Autor kann dies an den vielen Epurationsverfahren der ersten Nachkriegsjahre gut darstellen. Für die saarländische Anwaltschaft trat zusätzlich die Spaltung der Volksabstimmung von 1955, die er unter der Überschrift „Zwischen Deutschland und Frankreich“ sehr eindrucksvoll erörtert[2]. Vorgestellt werden Erfolg und Scheitern der Epurationsverfahren im Saarland von 1945 bis 1950 und die Reorganisation der Anwaltschaft in der Nachkriegszeit. Von hohem Interesse ist auch das Kapitel über die Rechtsanwälte in der Landespolitik bis zur Saarabstimmung von 1955 und kurz darüber hinaus bis 1960. Einer besonderen Herausforderung unterzieht sich dabei der Historiker Rainer Möhler, der sich einer der umstrittensten Figuren der saarländischen Nachkriegspolitik und Rechtsanwaltschaft widmet; Möhler beleuchtet minutiös Dr. Heinrich Schneider unter der Überschrift „Trommler oder Mitläufer?“ [S. 301-324]. Er sieht die Einstufung Schneiders als „Mitläufer“ durch die I. Kammer des Obersten Säuberungsrates als bedenklich an und belegt dies anhand des sehr widersprüchlichen Verhaltens dieses Rechtsanwalts, dessen Rückzug aus der NS-Politik mehr im privat-persönlichen Bereich als im politischen zu liegen schien. Von erheblichem Gewicht ist, dass Schneider mit seiner Nein-Propaganda gegen das Saarstatut von 1955 seine persönliche NS-Vergangenheit offensiv dazu nutzen konnte, Stimmung für den deutschen Nationalismus und gegen die Europastatut-Befürworter unter dem damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann zu machen. Möhler schreibt: „Ohne Skrupel und mit überraschend eindeutigem Erfolg konnte er [Schneider] als geschulter [Gau-]Redner seine persönliche NS-Vergangenheit offensiv als populären Plus-Punkt für die Ablehnungskampagne gegen das Europastatut einsetzen“ [S. 323]. Da er auf der „richtigen“ Seite gekämpft hatte, erlebte er mit der Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland eine Karriere, die ihm Ministerämter, Parteivorsitze und die Tätigkeit als Landtagspräsident in Saarbrücken bescherten. Allerdings kam es schließlich zu einem Zerwürfnis mit Bundeskanzler Konrad Adenauer. Hatte ihm im Oktober 1955 „Der Spiegel“ noch seine Titelstory gewidmet, hielt dieselbe Zeitschrift seinen Tod am 12. Januar 1974 keiner Erwähnung mehr wert.

 

Wettmann-Jungblut legt insgesamt eine sehr ausgewogene und lesenswerte Geschichte der saarländischen Rechtsanwaltschaft vor, die auch in anderen Regionen und Bundesländern Nachahmung finden sollte[3]. Bislang gab es für die Saar lediglich Darstellungen zur Geschichte der Gerichte[4]. Das dokumentationsreiche Werk ist nicht zuletzt deswegen sehr brauchbar, weil es die Kurzbiographien saarländischer Anwältinnen und Anwälte sowie ein sorgfältig gearbeitetes Personenregister enthält.

 

Hannover                                                                                                       Thomas Gergen



[1] Thomas Gergen, Von der Saarprovinz zum Saarland. Die Vorgängerorganisationen des Saarlandes bis zu den Volksabstimmungen von 1935 und 1955, in: SKZ (Saarländische Kommunalzeitschrift) 9 (2005), S. 211-230.

[2] Thomas Gergen, Europäisches Statut für die Saar? Eine Erinnerung an die Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955, in: JZ 10 (2005), S. 994-995; ders., Gewerkschaften in der deutschen Rechtsgeschichte, in: Arbeit und Recht (Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis) 9 (2006), S. 307-313, hier S. 312.

[3] Hannes Siegrist hat dies bereits staatenweise getan in seinem Werk Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz, 1996. Ferner liegen Bearbeitungen unter dem Stichwort „Anwalt“ oder „Fürsprecher“ im Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG) vor.

[4] Etwa Peter Burg, Recht und Verwaltung an der Saar im revolutionären Wandel. Ein regionalgeschichtlicher Vergleich zwischen den französischen und den deutschen Gebietsteilen im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend (ZGS) 38/39 (1990/1991), S. 86-104; Richard Scheid, Die Gerichtsorganisation im Gebiet des Saarlandes seit der Französischen Revolution, in: Justizblatt des Saarlandes. Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift 11 (1967), S. 203-216 sowie auch Hans-Walter Herrmann, Das Gerichtswesen im Kreisgebiet, in: Heimatkundliches Jahrbuch des Landkreises Saarlouis 1966, S. 241-262 sowie die Festschrift zu 150 Jahre Landgericht Saarbrücken, hg. vom Präsidenten des Landgerichts in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes, Köln/Berlin 1985. Einige Hinweise auf das Landgericht Saarbrücken enthält auch die Arbeit Helga Huffmanns, Geschichte der rheinischen Rechtsanwaltschaft, 1969.