Vergau, Hans Joachim, Der Ersatz immateriellen Schadens in der Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts zum französischen und deutschen Deliktsrecht. Universitätsverlag Potsdam, Potsdam 2006. 113 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.

 

Eine knappe vergleichende rechtstatsächliche Untersuchung zum Recht des immateriellen Schadensersatzes mit einem nach aufmerksamer Lektüre nicht mehr überraschenden Ergebnis – das legt Hans-Joachim Vergau, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland a. D., in seiner gut 100-seitigen, übersichtlichen, pointiert und eingängig geschriebenen Studie vor. Sie geht zurück auf die in einem im Wintersemester 1958/1959 von Werner Flume an der Universität Bonn abgehaltenen Seminar empfangenen Anregungen.

 

Vorab ist festzuhalten, dass Vergaus Studie die rezente monografische Literatur zu pönalen Elementen im deutschen bürgerlichen Recht und zur Geschichte des Schmerzensgeldanspruches nicht ersetzt. Aber das ist auch nicht das Ziel der Arbeit. Dem Autor geht es vor allem darum zu zeigen, wie die unterschiedlichen dogmatischen Modelle sich in der Rechtsprechung praktisch ausgewirkt haben. Da das ohne einen Überblick über die rechtsdogmatische Behandlung der Schadensersatzklage, der actio iniuriarum aestimatoria und der Schmerzensgeldklage in beiden Rechtsordnungen nicht gut möglich ist, behandelt Vergau sowohl das Ancien Droit, den Code civil, das gemeine und einige territoriale Rechte und das bürgerliche Gesetzbuch. Dabei lässt es sich nicht gut vermeiden, dass die deutsche Pandektistik breiter abgehandelt wird als französische wissenschaftliche Lehren. Schnell stellt sich so der Eindruck ein, dass das französische Recht mit einer recht offenen Generalklausel (Art. 1382 Cc) die in der Praxis angemessenen Ergebnisse weitaus schneller und einfacher erreichte als das im Deutschen Bund bzw. Reich geltende Privatrecht. Ganz handgreiflich wird das schon in der Bemerkung des Autors, französische Richter seien einhellig frei gewesen von der (wohl deutschen) „Obsession, jeden Anklang an Privatstrafe auszuschließen“ (S. 14). Schon vor 1804 sei die private Klage auf Geldersatz aus dem Strafrecht eliminiert und den zivilrechtlichen Ausgleichsansprüchen, die neben die öffentliche Strafe treten konnten, zugewiesen worden (S. 17).

 

Vergaus gedrängte Darstellungsweise hat den Autor vor allem bei der Schilderung des Streitstandes in Deutschland (S. 49-73) freilich zu manchen Vereinfachungen und Auslassungen genötigt. Gleichwohl ist es ihm in den einleitenden und zusammenfassenden Passagen sehr gut gelungen, die Hauptstreitlinien deutlich herauszuarbeiten. Das allmähliche Verschwinden der Injurienklage (die als Privatstrafklage vor allem seit Inkrafttreten des RStGB mit dessen §§ 188 und 231 zunehmend verdrängt wurde) und die Aufwertung der Schmerzensgeldklage (als Schadensersatzklage) in der deutschen Wissenschaft und Praxis begründet Vergau (S. 75) damit, dass materiell verschiedene Rechtsgüter für betroffen gehalten wurden: orientiert am römischen Schadensrecht und geprägt von einem überhöhten Ehrbegriff sei die deutsche Pandektistik davon ausgegangen, dass die Ehrverletzung sich nicht durch Geldzahlung ausgleichen lasse. Der Verletzer war zwar zu bestrafen (das aber öffentlich und verschuldensabhängig) – was (auch) dem Verletzten Genugtuung verschaffe –, schadensrechtlich zu ersetzen aber habe es nichts gegeben. Allein der physische Schmerz sei gegenständlich wahrgenommen worden und insoweit habe sich die Ausdehnung des Schadensbegriffes letztlich durchgesetzt. Freilich konstatiert Vergau, dass nicht einmal insoweit in deutschen Ländern einheitliches Recht gegolten habe – so hätten Württemberg, Hessen und Bayern auch diese „letzte Klagemöglichkeit“ wegen einer immateriellen Beeinträchtigung aus dem zivilen Schadensersatzrecht herausgehalten (S. 65-67). Vergau registriert (S. 77f.) auch die Entrüstung, mit der Rudolf v. Jhering und Josef Kohler gegen diese rigide deutsche Praxis („schlimme Irrlehren eines unrichtigen einseitigen Idealismus“ – dies gerichtet gegen Savigny und Puchta) zu Felde gezogen sind und er erkennt auch bei Bernhard Windscheid und Heinrich Dernburg Ansätze, diese Restriktionen zu überwinden.

 

Besonders gut gelingt es dem Autor, die für die Handhabung des Art. 1382 Cc unentbehrlichen Fallgruppen des immateriellen Schadens im französischen Recht anhand der ausgewerteten Entscheidungen herauszuarbeiten. Vergau hat dafür – in der deutschen Literatur erstmals – die einschlägigen französischen Entscheidungssammlungen ausgewertet. Das allein wäre rechtshistorischer Verdienst. Das interessanteste Kapitel der Studie jedoch ist das dritte (S. 81-99): der Ersatz des immateriellen Schadens in den deutschen Ländern, in denen im 19. Jahrhundert der Code civil gegolten hat (auf der linken Rheinseite, in Berg, in Baden und zeitweise auch in einigen Territorien auf der rechten Rheinseite). Der Leser, nun hinreichend vertraut mit den beiden grundverschiedenen Konzepten, erlebt Kollisionsrecht „at it’s best“. Vergau fragt (S. 81), ob die weitgehende kategorische Sperre gegen den Ersatz immateriellen Schadens eine von Überzeugung getragene Grundeinstellung der deutschen Richter gewesen ist oder ob diese in ihrem Gerechtigkeitssinn nicht vielmehr durch entgegenstehende positive Rechtsregeln behindert worden seien.

 

Zunächst liegt der Fokus auf Baden. Johann Brauers Badisches Landrecht änderte Art. 1382 Cc ab und schloss in Landrechtssaz 1382f das Schmerzensgeld und in Landrechtssaz 1151a den „Neigungswerth des Beschädigten“ – mithin jeden immateriellen Schaden von der Ersatzpflicht des Schädigers aus. Vergau zitiert (S. 83f.) drei badische Gerichtsentscheidungen, die dem widerstandslos folgten. Die sonstigen Rheinlande sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die Gerichte bei der Anwendung von Art. 1382 Cc ersichtlich wehrten, den immateriellen Schaden zuzulassen. So erkannte der Rheinische Appellationsgerichtshof in Köln immer nur materielle Nachteile als Schaden i. S. d. Art. 1382 Cc an. Auch der Appellhof Mainz und das Oberlandesgericht Darmstadt sprachen bei Verlöbnisbruch bzw. vereitelter Heiratsaussicht unter der Falschbezeichnung „moralischer Schaden“ nur materielle Nachteile als ersatzfähige Schäden zu. Gleiches gilt für die Rheinbayern betreffende Rechtsprechung des Bayerischen Oberappellationsgerichts und die des Oberlandesgerichts Zweibrücken (S. 89-92). Vergau, der die entsprechenden Urteile auszugsweise zitiert, tritt hier ausdrücklich der 1969 von Detlef Schumacher geäußerten und 2004 von Ute Walter wiederholten Ansicht entgegen, die betreffenden Gerichte hätten immateriellen Schaden entsprechend der französischen Praxis zugesprochen. Das Gegenteil ist der Fall: alle von Vergau betrachteten Fälle zeigen deutlich, dass es beim Verlöbnisbruch bzw. bei der Verführung und dem außerehelichen Geschlechtsverkehr mit bisher unbescholtenen Mädchen und Frauen um den Ausgleich eines materiellen Schadens (Einbuße durch Auslagen oder hinsichtlich der künftigen materiellen Versorgung) ging. Auch bei der Körperverletzung weigerten sich die vom Autor zitierten Gerichte, einen immateriellen Schaden (Schmerzensgeld) auf Art. 1382 Cc zu stützen. Vergau findet dasselbe Bild auch bei (auf immateriellen Schadensersatz gerichteten) Ansprüchen wegen der Tötung naher Angehöriger – bis zu einem Urteil des Rheinischen Appellationsgerichtshofs in Köln aus dem Jahre 1869 (S. 95f.), in welchem ganz offen mit der Formulierung, dass „der Verlust der Verstorbenen in der Familie für die letztere ein sehr erheblicher Nachtheil ist, welcher, wenn er auch in Geld nicht aufzuwiegen ist, doch in anderer Weise annähernd nicht gesühnt werden kann“, ein immaterieller Schaden anerkannt wurde. Doch dieses singuläre Beispiel aus Köln machte keine Schule – in RGZ 7, S. 295 aus dem Jahre 1882 schob das Reichsgericht in Gestalt des II., des sogenannten „rheinischen“, Zivilsenats dem Ersatz des immateriellen Schadens über Art. 1382 Cc endgültig einen Riegel vor. Vergau kann mit Recht resümieren (S. 99), dass sich das französische Vorbild, den immateriellen Schaden über Art. 1382 CC zu ersetzen, in den gesamten Rheinlanden nicht durchgesetzt habe – die Rechtsüberzeugung der deutschen Richterschaft war so von dem auf das Materielle begrenzten deutschen Schadensbegriff geprägt, dass „sie die durch den Wortlaut jenes Artikels gebotene Brücke hin zu einer ins Immaterielle erweiterten Auslegung nicht betreten wollte.“

 

In einem kurzen Schlusskapitel umreißt der Verfasser noch die maßgebliche BGH-Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und die Rechtslage in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Hierzu zitiert er auch einige Bezirksgerichtsentscheidungen. In diesem Kapitel bleibt freilich manches (notgedrungen) skizzenhaft. Immerhin liegen hier Anregungen für weitere Forschungen.

 

Methodologen mögen darüber hinaus insgesamt eine ungenügende Kontextualisierung rügen. Sicher wird auch eine Stellungnahme im hässlichen und die Vielfalt unseres Faches schädigenden Aktualisierungs- bzw. Historisierungsstreit vermisst werden. Der Wert der Studie wird dadurch nicht geschmälert. Es ist die späte Schrift eines Praktikers, die die Positionen einander ruhig gegenüberstellt, die dogmatische Einordnungen sicher vornimmt, die selbstsüchtige Standortbestimmungen nicht nötig hat und die dort, wo sie Kritik vorbringt, streitentscheidendes Gewicht hat. Sie ergänzt die von Vergau vielfach herangezogene Schrift von Ina Ebert (Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, Tübingen 2004) in einem eng umrissenen Teilbereich sinnvoll und sie zeigt – unausgesprochen – Grenzen der juristischen Rezeption im Jahrhundert der Nationalstaaten auf. Ein weiterer Vorzug liegt darin, dass der Verfasser nicht vorschnell kritisiert. Trotzdem wird gegen Ende (insbesondere S. 97) deutlich, dass Vergau die dogmatischen Beschränkungen der deutschen Pandektistik ablehnt und das französische Modell präferiert. Die Schrift fügt sich schließlich ein in eine in jüngster Vergangenheit wieder deutlicher hervortretende Tendenz in der Privatrechtswissenschaft, die scharfe Trennung zwischen peinlichem und bürgerlichem Recht durchlässiger zu machen. Das betrifft im übrigen nicht nur das Schadensersatz-, sondern auch das Bereicherungsrecht.

 

Leipzig                                                                        Adrian Schmidt-Recla