Vandendriessche, Sarah, Possessio und dominium im postklassischen römischen Recht. Eine Überprüfung von Levy’s Vulgarrechtstheorie anhand der Quellen des Codex Theodosianus und der posttheodosianischen Quellen (= Rechtsgeschichtliche Studien 16). Kovač, Hamburg 2006. XX, 294 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Ernst Levy wurde 1881 in Berlin als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren und nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg im Breisgau und in Berlin 1906 in Berlin promoviert. Fünf Jahre nach der zweiten Staatsprüfung wurde er in Oranienburg Amtsrichter und ein Jahr danach in Berlin habilitiert, nach dem Kriegsdienst 1918 als außerordentlicher und 1919 als ordentlicher Professor nach Frankfurt am Main berufen. !922 wechselte er nach Freiburg im Breisgau und 1928 nach Heidelberg, wurde aber 1933 mit 52 Jahren beurlaubt und 1935 seines Amtes enthoben, so dass er 1936 in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierte.

 

Zum Wesen des weströmischen Vulgarrechts hatte er sich bereits vorher geäußert. Besonders bekannt wurde er aber durch die auf den früheren Untersuchungen aufbauenden Studien über West Roman Vulgar Law (1951) bzw. Weströmisches Vulgarrecht – Das Obligationenrecht – 1956. Darin bezweifelte er die Annahme der seinerzeitigen Lehre, dass sich in der Zeit zwischen dem klassischen römischen Recht und Justinian das römische Recht nicht geändert habe.

 

In Wirklichkeit habe sich das klassische römische Recht in nachklassischer Zeit erheblich gewandelt. So würde der Begriff possessio benutzt, um dominium oder andere iura in re aliena anzudeuten. Dominium würde verwendet, wo Klassiker possessio gebraucht haben würden.

 

Da die Verfasserin mit ihrem Lehrer Boudewijn Sirks Zweifel an diesen vielfach aufgenommenen Behauptungen hat, stellt sie nach ihrer knappen und klaren Einleitung den Forschungsstand der Vulgarrechtsdiskussion dar, wobei sie darauf hinweist, dass bereits Heinrich Brunner 1880 Vulgarrecht im Sinne entarteten römischen Rechts (in den Provinzen) benutzt habe. Levy habe seit 1928 die Notwendigkeit betont, die Eigenschaften des weströmischen postklassischen Rechts zu erforschen, als welche er das Streben nach unmittelbar praktischen Zielen, die Barbarisierung der Fachsprache und die Vereinfachung der Rechtsvorstellungen hervorgehoben habe. Inhaltlich seien diese Überlegungen überwiegend anerkannt und nur von wenigen Forschern in Frage gestellt worden.

 

Auf dieser Grundlage untersucht sie im zweiten Kapitel die Benutzung von possessio in der Klassik und von possessio, possidere und possessor in den einzelnen, bereinigten Quellen des Codex Theodosianus an Hand siebener bzw. achter Bereiche. In Kapitel 3 erörtert sie dominium in der Klassik und in der nachklassischen Entwicklung sowie die mögliche Benutzung von dominium statt possessio.

 

Ihr Ergebnis ist eindeutig. Nach ihren Untersuchungen kann die Vulgarisierung aus der Benutzung von possessio und dominium nicht nachgewiesen werden. Lediglich an zwei Stellen könne die Benutzung von possessio tatsächlich eher problematisch genannt werden. Umgekehrt bedeute dominium in allen untersuchten Quellen Eigentum und sei nicht mit possessio verwechselt worden, weshalb die Behauptung, dass man nicht mehr zwischen Eigentum und Besitz unterschieden habe oder unterscheiden  habe können, verfehlt sei, weil sie von den Quellen des Codex Theodosianus nicht gestützt werde.

 

Dieses Ergebnis erscheint bedeutsam. Es wird abzuwarten sein, ob es sich bei den romanistischen Sachkennern durchsetzen kann. Es wird aber in jedem Fall dazu führen müssen, die vielfach übernommenen Thesen Ernst Levys sorgfältiger zu prüfen als bisher.

 

Innsbruck                                                                                           Gerhard Köbler