Ullmann,
Ingo, Die rechtliche Behandlung holsteinischer
Leibeigener um die Mitte des 18. Jahrhunderts, dargestellt unter besonderer
Berücksichtigung der Schmoeler Leibeigenschaftsprozesse
von 1738 bis 1743 sowie von 1767 bis 1777 (= Rechtshistorische Reihe 346).
Lang, Frankfurt am Main 2007. 504 S. Besprochen von Arne Duncker.
Am Anfang der Arbeit Ullmanns, einer Kieler
Dissertation, stand eine ungewöhnliche Entdeckung, die ihrer Art nach eher zu
einer ungeplant kurzen Arbeit als zu der vorliegenden erfreulich umfangreichen
Untersuchung hätte führen können. Ausgangspunkt war die Frage nach dem
Verhältnis zwischen holsteinischen Leibeigenen und dem Reichskammergericht
gewesen. Die Recherchen ergaben freilich, dass in den rund 250 Jahren, in
welchen Reichskammergericht und holsteinische Leibeigenschaft zeitgleich
existierten, in den Hunderten von Fällen aus Holstein Leibeigene nur ein
einziges Mal Prozesspartei waren, nämlich im Schmoeler
Prozess (beendet 1777), welcher obendrein für die Leibeigenen verloren ging.
Dies mag symptomatisch auf eine stark herabgesetzte, untergeordnete Stellung
der Leibeigenen deuten, verlangt allerdings nach ergänzendem Quellenmaterial.
Ullmann erweiterte daher den Untersuchungsgegenstand. Er bezog im Rahmen einer
Fallstudie zu den Schmoeler Leibeigenschaftsprozessen
(vgl. S. 233-411) die Vorgeschichte des vor dem Reichskammergericht geführten
Prozesses mit ein, welche bis zum ersten Prozess der Leibeigenen vor dem
Landgericht (begonnen 1738) zurückreicht und darüber hinaus bis zu Urkunden von
1688 und 1695. Weiterhin werden andere große Leibeigenschaftsstreitigkeiten der
1730er und 1740er Jahre ergänzend einbezogen (vgl. S. 413-454). Damit kann
zumindest ansatzweise ein Einblick in die generelle rechtliche Behandlung
holsteinischer Leibeigener um die Mitte des 18. Jahrhunderts gewonnen werden.
Da (vgl. S. 21f.) bisher zwar u. a. einige lokalhistorische Untersuchungen
vorliegen, aber noch keine neuere umfassende spezifisch rechtshistorische
Bearbeitung der Schmoeler Prozesse und auch einiger
Aspekte der Leibeigenschaft in Holstein (Ansatzpunkte z. B. in den
Veröffentlichungen Wolfgang Pranges und Jan Klußmanns), ist die qualitativ hochwertige Arbeit
Ullmanns geeignet, bestehende Forschungslücken zu schließen.
Die Studie ist nicht auf die Analyse der Prozessakten
beschränkt, sondern enthält im Vorfeld (S. 25-232) umfangreiche, sehr
lesenswerte Ausführungen zum materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Hintergrund,
welche u. a. eine gut ausgearbeitete Geschichte und rechtshistorische
Kommentierung der holsteinischen Leibeigenschaft generell enthalten. In diesem
Zusammenhang werden zunächst „Wesen und Begriff der Leibeigenschaft im
Allgemeinen“ (S. 25-48) erläutert. In diesem etymologisch orientierten Teil der
Arbeit werden historische Begriffsentwicklung und mögliche Inhalte des Wortes
„leibeigen“ untersucht und verwandte Begriffe dargestellt, wie Unfreie,
Untertanen, Hörige, Sassen, Kolonen, eigene Leute, servi, mancipia, adscripti.
Ullmann weist hierbei zu Recht auf gravierende Probleme einer eindeutigen
Definition der Leibeigenschaft hin, angesichts der Uneinheitlichkeit und
unüberschaubaren Vielfalt in der Ausgestaltung von Leibeigenschaft und der
vielen anderen ähnlichen persönlich-dinglichen Abhängigkeitsverhältnisse sowie
eines „allgemeinen Begriffswirrwarrs“ (S. 49).
Was speziell die holsteinische Leibeigenschaft betrifft,
so skizziert Ullmann zunächst (S. 53-100) chronologisch deren Entstehung
(12.-16. Jahrhundert) und Entwicklung (16.-18. Jahrhundert). Sodann unternimmt
er eine systematische Darstellung des Leibeigenschaftsverhältnisses (S.
100-137). Hierbei handelt es sich um einen für den weiteren Verlauf der Arbeit
sowie das Verständnis der behandelten Prozesse sehr wichtigen Abschnitt, in dem
die nicht einfach zu erschließende Materie sehr übersichtlich und verständlich
und bisweilen unter schöner Einbeziehung von Quellentexten (vgl. u. a. S.
114f.) dargestellt wird. Im Einzelnen werden das Verbreitungsgebiet der
Leibeigenschaft, die unterschiedlichen Typen von Leibeigenen (Hufner, Insten, Gesinde) sowie -
schwerpunktmäßig - die „Grundsätze der Rechtsbeziehung“ dargestellt, einer
gegenseitigen Pflichtenbeziehung, in welcher auch der Leibeigene Rechte genoss.
Behandelt werden u. a. die Bindung an den Arbeitsort, der Arbeitsinhalt -
einschließlich Dienst- und Abgabenpflichten -, die persönliche Eigentums- und
Vermögensfähigkeit der Leibeigenen, fehlende Freiheit der Berufswahl,
gutsherrlicher Genehmigungsvorbehalt für Eheschließungen, Versorgungspflichten
des Gutsherrn gegenüber den Leibeigenen, Justizverhältnisse, Möglichkeiten zur
Begründung bzw. Aufhebung der Leibeigenschaft. Ullmann versucht im Anschluss
(unter nochmaligem Verweis auf den uneinheitlichen und „willkürlichen“ Umgang
mit Rechtsbegriffen in Quellen und Literatur - S. 142) „Wesen und Begriff“ der
holsteinischen Leibeigenschaft zu erfassen (S. 137-142). Hauptwesenszüge seien
die immensen Dienstleistungen der Untertanen als flexibles Element sowie deren
Gebundenheit an die Scholle als starres Element (S. 139). Die
Versorgungspflichten des Gutsherren seien nicht in erster Linie als ein Recht
des Leibeigenen zu verstehen, sondern „als ein notwendiges gutsherrliches Übel,
ein Mittel zum Zweck“ (S. 139). Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung hätten
nämlich die Leibeigenen keine Möglichkeit gehabt, sich ihr Auskommen
eigenständig zu sichern.
Im folgenden Abschnitt (S. 143-232) werden die
rechtlichen und gerichtlichen Rahmenbedingungen untersucht. Dabei werden -
getrennt nach Mittelalter und früher Neuzeit - die anzuwendenden Rechtsquellen
erläutert und ein Überblick zum Gerichtswesen (unter Berücksichtigung von Gutsgericht, Landgericht, Kanzleigerichten und
Reichskammergericht) gegeben. Ullmann kommt hier zu dem Schluss, dass die
Leibeigenen zwar formal betrachtet nicht vollkommen ohne Rechtsschutz waren, in
der Realität der Gerichtsverfahren aber keine effektive Möglichkeit zur
Durchsetzung ihrer Interessen besaßen. Dies hing u. a. mit der Besetzung der
Spruchkörper zusammen, weiterhin mit der Unübersichtlichkeit sowohl der
Rechtsquellen als auch der Entscheidungsfindung. Im Ergebnis hatten daher die
Leibeigenen weder Gerechtigkeit noch auch nur Rechtssicherheit zu erwarten.
Dies wird deutlich am hauptsächlich untersuchten
Beispiel, den Schmoeler Prozessen (S. 233-411). Den
Prozessen vorausgegangen waren zwei Dokumente des späten 17. Jahrhunderts: ein
Freibrief von 1688, wonach auf den Gütern Schmoel,
Hohenfelde und Oevelgönne die Leibeigenschaft aufgehoben
wurde und die dortigen Untertanen frei waren, sowie ein Kaufbrief von 1695,
wonach dieselben Personen Leibeigene waren. Zum ersten Landgerichtsprozess kam
es 1738/39, als sich nach einem zufälligen Auftauchen des Freibriefs die
vermeintlichen Leibeigenen weigerten, ihre Dienste zu leisten, und darauf
beriefen, dass sie frei seien. In einer Kette alles in allem unfair
erscheinender Verfahren (vgl. zu dieser Einschätzung z. B. S. 406-409) unter
Beteiligung territorialer Gerichte wurde der leibeigene Status bestätigt.
Ullmann wertet hierzu in Einzelheiten die Verfahrensakten aus und analysiert
gezielt das persönliche und prozessuale Verhalten der beteiligten
Parteienvertreter bzw. Gerichte und Gerichtspersonen. Zuletzt gelangte der
Prozess vor das Reichskammergericht, wo schließlich nicht zur materiellen
Rechtsfrage entschieden wurde, sondern das Begehren der Bauern wegen Verstoß
gegen das holsteinische Appellationsprivileg als unzulässig verworfen wurde:
holsteinische Untertanen des Adels waren danach von der Appellation an das
Reichskammergericht ausgeschlossen. Das Gericht erklärte sich für unzuständig.
Allerdings erst nach mehrjähriger Prozessdauer.
Ergänzend untersucht Ullmann verwandte große
Rechtsstreitigkeiten der 1730er und 1740er Jahre, nämlich die Fälle von
Ahrensburg, Großenbrode, Nütschau/Sühlen und
Kronshagen (S. 413-454). Als Quintessenz zur Auswertung dieser weiteren Fälle
wird festgehalten (S. 453): so unterschiedlich alle vier Rechtsstreitigkeiten
gewesen sein mögen, komme bei der rechtlichen Behandlung der Untertanen durch
die Obrigkeit eine Tatsache in jedem Fall deutlich zum Ausdruck: Im Ergebnis
fiel der Rechtsstreit für die Untertanen immer nachteilig aus. Dies sei darauf
zurückzuführen, dass die Obrigkeit unabhängig von der konkreten Sache die
übergeordnete Absicht verfolgt habe, die Leibeigenschaft überall dort
aufrechtzuerhalten, wo sie sich einmal etabliert habe. Hierfür seien
wirtschaftliche und machtpolitische Gründe maßgeblich gewesen. Ullmann schließt
seine Untersuchung mit einem für die holsteinische Justiz vernichtenden Fazit
(S. 461f.): Die Ungleichheit der Parteien sei so groß gewesen, dass ein
„gerechter Rechtsstreit“ in Fragen, welche die Grundlagen der Leibeigenschaft
betrafen, von vornherein ausgeschlossen gewesen sei. Das Recht sei das Recht
des Stärkeren gewesen, der es erforderlichenfalls auch einzusetzen gewusst
habe. Nach Durchsicht der Fälle ist Ullmann hier alles in allem zuzustimmen.
Insgesamt ist die vorliegende Untersuchung eine
vorzügliche und sehr gewissenhafte Arbeit, für die in erfreulich großem Umfang
auf Archivalien und zeitgenössische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts
zurückgegriffen wurde. Die Übersichtlichkeit wäre durch ein Sach- und
Personenregister sowie kurze Zeittafeln zum Verlauf der behandelten Prozesse
erleichtert worden. Bemerkenswert ist der gleichermaßen engagierte wie
objektive, dabei gut verständliche sprachliche Stil der Arbeit, die trotz ihrer
Länge sehr gut lesbar ist und auch in dieser Beziehung durchaus
Vorbildcharakter besitzt.
Hannover Arne
Duncker