Thurner, Paul W., Die graduelle
Konstitutionalisierung der Europäischen Union (= Einheit der
Gesellschaftswissenschaften 1360). Mohr (Siebeck), Tübingen 2006. VIII, 272 S.
Besprochen von Dieter Kugelmann.
Das Projekt der Europäischen Union
ist von einer eigenen Dynamik geprägt. Fortschritte können das Ergebnis
langwieriger Vorarbeiten sein, die nach zähen Verhandlungen zu mehr oder
weniger zufriedenstellenden Kompromissen führen. Fortschritte können aber auch
aus überraschenden Zusammentreffen politischer Umstände resultieren und
kurzfristig in weit reichende Festlegungen münden. Die Unabsehbarkeit von
Ergebnissen betrifft gerade die grundlegenden Fortschreibungen der rechtlichen
Grundlagen in den Verträgen, da diese auf Regierungskonferenzen beschlossen
werden, die von den jeweiligen historisch spezifischen Rahmenbedingungen
abhängig sind.
Das Schicksal des
EU-Verfassungsvertrages hing nach den gescheiterten Referenden in Frankreich
und den Niederlanden von dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich
ab und auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs und des Präsidenten der
Kommission im Juni 2007 dann auch von der irrlichternden polnischen Regierung.
Als negatives Beispiel für eine Regierungskonferenz gilt insbesondere die
Konferenz von Nizza, die zu den wenig konzisen Festlegungen des Vertrages von
Nizza führte, die gerade mit einer Verfassung überwunden werden sollten.
Konsequenz aus den Erfahrungen mit den Regierungskonferenzen war es denn auch,
den Entwurf eines EU-Verfassungsvertrages durch einen Konvent ausarbeiten zu
lassen, in dem alle relevanten Gruppen und Interessen vertreten waren. Das
Konventsmodell sollte mehr Transparenz und Rationalität gewährleisten. Angesichts
des Entwurfes zum EU-Verfassungsvertrag kann dieses Modell als erfolgreich
bezeichnet werden. Da aber der EU-Verfassungsvertrag von allen Mitgliedstaaten
ratifiziert werden muss, kommen die Regierungen wieder ins Spiel und die
bindenden politischen und rechtlichen Entscheidungen werden letztlich doch auf
Regierungskonferenzen getroffen.
Die Habilitationsschrift Thurners
will einen Beitrag zur Grundlagenforschung von Konstitutionalisierungsprozessen
leisten, indem nach dem Zustandekommen von Entscheidungen auf
Regierungskonferenzen gefragt wird. Untersuchungsgegenstand ist die
Regierungskonferenz von 1996, die letztlich zum Vertrag von Amsterdam von 1998
führte. Thurner versteht die Regierungskonferenz als Teil des
Konstitutionalisierungsprozesses der Europäischen Union und setzt damit voraus,
dass es sich um eine Konstitutionalisierung handelt. Dieser zutreffende Ansatz,
dessen Einzelheiten allerdings durchaus klärungsbedürftig sind, wird eher
allgemein als Herausbildung eines verfassungsmäßigen Organisationsstatus
verstanden. Dem Verfasser kommt es darauf an, mit den Methoden der
Institutionenökonomie und der Organisationssoziologie die
Konstitutionalisierung als Kommunikationsprozess zu beschreiben. Die
intranationale Kommunikation auf der Ebene der Mitgliedstaaten und die
internationale Kommunikation im Rahmen der Verhandlungen auf der Konferenz
führen zu einem Filtern von Interessen und zum Erarbeiten und Herausformen von
Positionen, die sich in den rechtlichen Ergebnissen der Konferenzen niederschlagen.
Dabei spielen vielfältige übergreifende Netzwerke eine Rolle, die zwischen
mitgliedstaatlichen Organisationseinheiten, insbesondere Ministerien, bestehen.
Thurner stellt die These auf, dass die Konstitutionalisierung der EU eine
verhandlungsbasierte Konstitutionenbildung darstellt.
Im Ausgangspunkt werden
politikwissenschaftliche Theorieansätze über die Europäische Union dargelegt.
Thurner konstatiert das Fehlen einer Theorie von Verhandlungs- und
Entscheidungsprozessen auf Regierungskonferenzen und belegt damit die
Notwendigkeit seiner Arbeit (Kapitel 2). Das Eingehen auf die völker- und
europarechtliche Perspektive (Kapitel 3) mündet darin, die Bedeutung normativer
Vorgaben als gering einzuschätzen. In der Konsequenz seines verhandlungsorientierten
Ansatzes liegt es, dass Thurner Recht als flexibles Regelwerk versteht und das
Erklärungsmodell der Governance in den Vordergrund rückt. Die von ihm
herausgearbeiteten Fragestellungen (S. 86f.) zielen auf die Identifikation von
Strukturen der Kommunikation und formellen wie informellen Organisation. Diese
untersucht der Verfasser anhand der Regierungskonferenz von 1996, zu der er
interessantes Material zusammenträgt, das verdeutlicht, unter welch komplexen
Bedingungen der Prozess des Verhandelns sich vollzieht (Kapitel 4). Besonderes
Gewicht legt Thurner auf die innerstaatliche Ebene und die Konkretisierung der
Interessen eines Mitgliedstaates im Zusammenspiel von Politik und Verwaltung
(Kapitel 5). Eine überraschend wichtige Rolle spielen transnationale
Teilnetzwerke, insbesondere zwischen Beamten der beteiligten innerstaatlichen
Ministerien (Kapitel 6). Der Einfluss der bürokratischen Eliten in den
Mitgliedstaaten erweist sich als nicht zu unterschätzender Faktor in den
Verhandlungen, der mit spieltheoretischen Mitteln verdeutlicht wird. Taktieren
und strategisches Vorgehen in den Verhandlungen erörtert Thurner unter
Rückgriff auf quantitative Methoden (Kapitel 7).
Thurner nutzt vorhandene
Forschungsergebnisse und wendet sie auf die Europäische Union, ohne durch neu
erfundene Begriffe einer überflüssigen Verkomplizierung Vorschub zu leisten. Er
wählt einen multitheoretischen Ansatz, in dem Institutionenökonomie und
Organisationssoziologie ebenso zur Anwendung kommen wie Spieltheorie oder
quantitative analytische Einzelansätze. Das Ergebnis, wonach das Organisationsdesign
von Regierungen multidimensional ist, kommt wenig überraschend, wird aber
überzeugend belegt und vor allem ausdifferenziert erläutert. Governance wird
als spezifische Verteilung der Partizipations-, Entscheidungs- und
Kontrollkompetenzen verstanden. Dabei erweisen sich Entscheidungsprozesse auf
Regierungskonferenzen, welche die Ausgestaltung von Governance normativ
konkretisieren, weitaus offener als dies von außen sichtbar ist. Thurner arbeitet
die Rolle der innerstaatlichen Ministerialbürokratien heraus, die im Vorfeld
und parallel zu den Verhandlungen vielfach erheblichen Einfluss nehmen.
In der Konsequenz des Theorieansatzes
Thurners liegt die Vernachlässigung der Bedeutung normativer Vorgaben und
politisch-inhaltlicher Grundentscheidungen. Dies ist eine Wertungsfrage, deren
Beantwortung von der Haltung zu den theoretischen Grundannahmen abhängt.
Thurners Arbeit ist in sich konzeptionell schlüssig. Allerdings klafft eine
schmerzliche Lücke in seiner Darstellung, weil er die Rolle der Europäischen
Kommission bei der Regierungskonferenz nur am Rande erwähnt. Die Konzentration
auf die innerstaatlichen Regierungen und Bürokratien verstellt den Blick auf
die Einflussnahme der Kommission auf der europäischen Ebene. Gerade wenn
informelle und strategische Elemente der Entscheidungsprozesse betont werden,
hätte eine Untersuchung der Einflussnahmen durch die Kommission nahe gelegen.
Die Arbeit Thurners bringt Licht in die Undurchsichtigkeit des Ablaufens von
Regierungskonferenzen, insbesondere hinsichtlich der Rolle bürokratischer
Eliten der Mitgliedstaaten. Darin liegt ein großes Verdienst. Das Ziel, einen
Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung der europäischen
Integration zu leisten, wird erreicht.
Halberstadt Dieter
Kugelmann