Schwieger, Christopher, Volksgesetzgebung in Deutschland.
Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und
Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland
(1919-2002) (= Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht 71). Duncker
& Humblot, Berlin 2005. 422 S., Abb. Besprochen von Miloš Vec.
Zahlreiche neuere und neueste
Diskussionen zur Reform des Grundgesetzes oder der Länderverfassungen unterstreichen
den potenziellen Nutzen einer rechtshistorischen Studie zum Thema
„Volksgesetzgebung“: Denn stets wird in diesen politischen Kontexten die
Einführung plebiszitärer Elemente diskutiert, regelmäßig spielen
rechtsgeschichtliche Argumente eine Schlüsselrolle bei ihrer Abwehr. Die
Weimarer Erfahrung, so heißt es stereotyp, verdeutliche die Missbrauchsgefahren
jeglicher „Volksgesetzgebung“. Christopher Schwiegers Tübinger
juristischer Dissertation gebührt das Verdienst, historisch fundiertere Beiträge
als bisher in diesen Debatten zu ermöglichen: Sein Buch klärt darüber auf, dass
die Weimarer Erfahrung so schlecht nicht war, die Nazis hingegen die Reputation
dieses Instruments deutlich beschädigten. Interessanter als dieser bekannte
Befund ist die ebenfalls von Schwieger untersuchte Frage, wann und wie
die Parole von den „schlechten Weimarer Erfahrungen“ aufkam und am spannendsten
und unklarsten, warum sie so erfolgreich war.
Der Titelbegriff der
„Volksgesetzgebung“ bedeutet bei Schwieger „die Möglichkeit der
Stimmberechtigten, selbst über einen konkreten Gesetzentwurf zu entscheiden –
selber Gesetzgeber zu sein“ (19). Schwieger konzediert, dass dieser
Begriff seine Bedeutung zwischen 1919 und 2002 gewandelt habe. Allerdings seien
die „Veränderungen und auch Unschärfen in den Begrifflichkeiten […] insgesamt
jedoch nicht so schwerwiegend, als das Verständnis darunter litte“ (23). Weil Schwieger
mit dieser oberflächlichen Begründung bewusst auf Begriffs- oder
Ideengeschichte verzichtet, bleiben Entstehung, Wortfeld, Konjunkturen und
wechselnde Semantiken leider unbeleuchtet. Das wirkt sich am Ende negativ auf
die Aussagekraft und den wissenschaftlichen Ertrag der Studie aus.
Schwieger
gliedert seine Arbeit chronologisch und nimmt innerhalb der drei von ihm
untersuchten politischen Systeme Weimarer Republik, NS-Staat und Bundesrepublik
Deutschland eine Zweiteilung vor: Auf die Darstellung der politischen Praxis
von Volksgesetzgebung folgt jeweils der Beitrag der Rechtswissenschaft. Dieser
Theoriediskurs wird von Schwieger wiederum kapitelweise in
rechtsdogmatische und rechtspolitische Beiträge aufgespalten. Schwieger
meint nämlich, er könne für die Jahre bis 1945 „methodisch zwischen einer
konkret anwendungsorientierten ‚rechtsdogmatischen‘ und einer übergeordnet
‚rechtspolitischen‘ wissenschaftlichen Auseinandersetzung (unterscheiden)“,
(21). Für die Bundesrepublik wird dieses Muster nicht fortgeführt, hier folgt
der Autor „chronologisch den forschungsgeschichtlichen Linien“ (21). Das ist
als Ansatz nicht nur fragwürdig, da in einer hochpolitischen Frage die Trennung
oder wenigstens analytische Trennbarkeit von Recht und Politik insinuiert wird,
sondern beschert dem Leser eine stark zergliederte Darstellung, die
übergreifende Analysen erschwert. Der Eindruck, dass Schwieger es
darüber hinaus an einem argumentierenden Stil mangeln lässt, führt dazu, dass
man sich oft fragt, welche Schlüsse der Verfasser aus seinen Darlegungen
historischer Vorgänge ziehen möchte oder ob ein solches Anliegen seinem
wissenschaftlichen Ethos überhaupt zuwider ist. Thesen jedenfalls werden nicht
benannt, prononcierte Zusammenfassungen der Abschnitte fehlen und eine
eingehende Analyse der im Detail geschilderten Sachverhalte vielfach auch.
Mehr als die Hälfte seines
Buches widmet Schwieger der Volksgesetzgebung in Weimar. Er stellt die
Entstehung der Art. 73-76 der Weimarer Reichsverfassung dar. Dort wurde nach
kurzen Diskussionen zurückhaltend, aber bewusst auf plebiszitäre Elemente
gesetzt, die in den folgenden Jahren in der politischen Praxis tatsächlich zum
Zuge kamen. Die Weimarer Reichsverfassung sah verschiedene dogmatische
Konstruktionen vor, die mit dem Gesetz über den Volksentscheid vom 27. Juni
1921 ausgestaltet wurden. Als Motive der Verfassungsväter benennt Schwieger
sowohl mangelndes Vertrauen in den Parlamentarismus als auch „echte
Demokratiebedürfnisse“ (41f.). In informativen Abschnitten stellt Schwieger
die acht, sämtlich gescheiterten Versuche einer Volksgesetzgebung dar (48ff.):
Zwei von ihnen wurden von den Betreibern selbst aufgegeben (Bodenreform 1922,
Rücknahme der Notverordnungen 1932), drei weitere verstießen gegen den
Finanzvorbehalt in Art. 74 IV Weimarer Reichsverfassung (Bodenreform 1923,
Aufwertung 1926 und 1927). Das primär von der Kommunistischen Partei
Deutschlands betriebene Volksbegehren für ein Verbot des Baus von
Panzerkreuzern (1928) scheiterte bereits im frühen Verfahrensstadium an der
Hürde des Art. 73 III WRV (Herbeiführung des Volksentscheides durch 10% der
Stimmberechtigten), da sich nur 2,94% der Stimmberechtigten eingetragen hatten.
Anders der Gesetzentwurf zur Fürstenenteignung, der es 1926 immerhin bis zum
Volksentscheid brachte, aber hier an der hoch angesetzten Beteiligungshürde
(„Mehrheit der Stimmberechtigten“, Art. 75 WRV) scheiterte. Das prominenteste
Verfahren fand 1929 statt (63-66) und verweist schon auf die NS-Zeit: Eine
Allianz antidemokratischer Gruppen einschließlich der Nationalsozialisten
wollte den Young-Plan, der die Grundlage für künftige Reparationszahlungen
bilden sollte, verhindern; es war implizit ein Versuch, eine innenpolitisch
polarisierende Kampagne gegen die „Kriegsschuldlüge“ zu entfesseln. Während das
Volksbegehren die Zustimmungshürde und somit die erste Stufe überwand,
scheiterte das Gesetz im Reichstag. Der wiederum dagegen gerichtete
Volksentscheid scheiterte wie die Fürstenenteignung an mangelnder
Wahlbeteiligung: Weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten hatte sich
beteiligt.
Dieser Versuch von 1929 erwies
sich nach der Machtergreifung als pikant, wie Schwieger schön
herausarbeiten kann. Schon 1933 setzte eine politische Rhetorik der
nationalsozialistischen Herrscher wie der gegenüber dem NS-Staat affirmativ
gestimmten Juristen ein, welche die basisdemokratischen Elemente der neuen
Herrschaftsordnung betonten. Während die Weimarer Reichsverfassung ausgehöhlt
wurde, erließ das Kabinett schon am 14. Juli 1933 ein
Volksabstimmungsgesetz-Gesetz, das eine Volksgesetzgebung ermöglichen sollte.
Entgegen dem Normtext wurde diese aber in den folgenden Jahren nur als
Akklamationsinstrument zur Gewinnung von Gefolgschaftsbekenntnissen benutzt
(267), wobei ausschließlich ihre legitimatorische Rolle im politischen
Willensbildungsprozess akzentuiert wurde. Dass eine solche Abstimmung nur
wenige Jahre zuvor und dazu noch ausgerechnet von den Nationalsozialisten
selbst ausschließlich zur Destabilisierung mobilisiert worden war, wurde in der
rechts- und staatswissenschaftlichen Publizistik peinlichst verschwiegen.
Schwieger
schildert die Prozesse anschaulich und ebenso wie im Weimar-Teil mit großer
Quellenkenntnis, während er bei der Kenntnis und Auswertung der
Forschungsliteratur deutliche Lücken aufweist (Horst Dreier und Walter
Pauly fehlen, Christoph Gusy teilweise). Verdienstvollerweise
faksimiliert er hier wie auch andernorts Normtexte oder Entwürfe
ausschnittsweise im Original (59, 62, 209, 219, 224; leider optisch verzerrt:
57, 65), immerhin sind manche von ihnen nie vollständig im Druck erschienen.
Außerdem muss man den kuriosen Abstimmungszettel von 1938 unbedingt als
Abbildung gesehen haben (228), um die eklatante optische Ungleichgewichtung der
Abstimmungsalternativen „ja“ (großer Kreis) und „nein“ (kleiner Kreis) bei der
Frage nach der Wiedervereinigung Österreichs in Verbindung mit der
NS-Einheitsliste für die Reichstagswahl zu begreifen. Angesichts dieser
grafischen und inhaltlichen Weichenstellung in manipulatorischer Absicht sind
einige Aussagen Schwiegers zur historischen Rechtssoziologie der
Plebiszite fragwürdig. So behauptet er, es sei „trotz zahlreicher Brüche der
Grundsätze von Abstimmungsfreiheit und Wahlgeheimnis und vereinzelten
Wahlfälschungen […] davon auszugehen, dass die große Mehrheit der Deutschen den
Aufrufen der Regierung wie auch des Reichspräsidenten Hindenburg freiwillig
Folge leistete“ (218). Auch bei der Abstimmung von 1934 sei es zu „Verstößen
gegen die Grundsätze von Abstimmungsfreiheit und Abstimmungsgeheimnis und zu
Wahlfälschungen (gekommen). Letztere traten diesmal in größerem Umfang auf, was
mit einer nicht so großen Zustimmung in der Bevölkerung zum Gesetzentwurf
zusammenhing“ (223). Dennoch erklärt Schwieger auch hier: „Es ist aber
auch für diese Volksabstimmung mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass
diese Maßnahmen das Abstimmungsergebnis nicht grundlegend verändert haben“ (223).
Abgesehen davon, dass zentrale Ausdrücke wie „freiwillig“ oder „grundlegend“
nicht problematisiert werden, vermisst man seitens des Autors Begründungen
seiner Einschätzungen. Während er zu 1938 ein Argument schuldig bleibt, folgt
zu 1934 eine Fußnote mit einem Verweis auf ein anderes Forschungswerk, also auf
eine Autorität. Auch wenn man Schwiegers Standpunkt für plausibel hält,
sind solche apodiktischen Erklärungen im Rahmen gerade einer solchen Arbeit
dürftig, und sie bleiben hinter der Sorgfalt beim Umgang mit Normtexten und
dogmatischen Problemen zurück.
Der interessanteste Teil des
Buches widmet sich den Entscheidungen gegen eine Volksgesetzgebung in der
Bundesrepublik (270ff.). Hier rückt gleichberechtigt neben die
Verfassungsgeschichte die historiografische Auseinandersetzung über das, was
„Weimar“ eigentlich war, in den Mittelpunkt. Schwieger zeigt, wie ein
Diktum von Theodor Heuss von 1948 nicht erstmals (171 für die Weimar
Staatsrechtswissenschaft selbst), aber besonders wirkungsmächtig die schlechte
„Weimarer Erfahrung“ formulierte (279). Diese Deutung gewann in den nächsten
Jahrzehnten im politischen Diskurs immer größeres Gewicht; je weiter das
Ereignis zurücklag, desto heller flammte das Menetekel auf. Unterstützt wurde
diese Zuschreibung dabei von politischen und verfassungstheoretischen Theorien
wie jener Ernst Fraenkels, der eine Verbindung von Volksgesetzgebung und
Parlamentarismus ablehnte (315ff., bes. 317). Allerdings, und auch das wird
überzeugend belegt, spielte die Formel von der „Weimarer Erfahrung“ 1948 als
historisches Argument vielfach noch nicht die überragende Rolle, die ihr später
angedichtet wurde (277, 283). „Erfahrung“, so verdeutlicht Schwieger mit
einigen Ausflügen in den Konstruktivismus (312), muss erst hergestellt werden,
und die Geschichtswissenschaft rang sich erst spät dazu durch, das Bild zu
revidieren. Immerhin wären nach 1990 reichlich kritischere Einschätzungen
verfügbar gewesen, die eine historisch abgewogenere Argumentation erlaubt
hätten. Dennoch erscheint weiterhin das Schreckgespenst von den negativen
Weimarer Erfahrungen, jedoch bleiben diese wissenschaftlich und politisch nicht
mehr unwidersprochen.
Als Ergebnis kann man somit
etwas überspritzt festhalten, dass die Politik ein Misstrauen gegen
Volksgesetzgebung hatte, weil sie die Manipulierbarkeit des Volkes durch die
Politik selbst fürchtete, was sie aber gegen das Volk und nicht gegen sich
wendete. Hier wäre wohl auch ein Ansatzpunkt zur Bewertung der
voraussetzungsreichen Formeln von „Gebrauch“ und „Missbrauch“ von
Volksgesetzgebung gewesen, welche Schwieger selbst leider nicht
reflektiert, sondern etwas unkritisch handhabt. Dieses durchlaufende Misstrauen
der Politik milderte sich nur kurzfristig, nämlich im Prozess der
Verfassungsgebung 1919, etwas ab. Diese Tatsache indiziert, dass hier
vermutlich ältere und tiefer liegende Überzeugungen für eine
verfassungspolitische Entscheidung ausschlaggebend waren, die zur sog.
politischen Kultur eines Landes gehören. Demgegenüber zeigt die
Rechtsvergleichung die Bandbreite an international praktizierten Möglichkeiten.
Umso bedauerlicher erweist sich damit die Grundsatzentscheidung Schwiegers,
1919 als eine Stunde Null anzusehen (25ff.) und ganz auf Begriffsgeschichte und
jegliche Andeutungen größerer Zusammenhänge zu verzichten, um den Mustern auf
die Spur zu kommen.
Frankfurt
am Main Miloš Vec