Richter, Klaus W., Die Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts vor 1914. Eine rechtshistorisch-analytische Untersuchung (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 138). Mohr (Siebeck), Tübingen 2007. XI, 244 S. Besprochen von Siegbert Lammel.
Die Arbeit erweckte unter mehreren Gesichtspunkten die Neugier des Rezensenten: einmal erscheint das Kartellrecht in immer neuen Lichtern, eine richtungsweisende Aufarbeitung seiner Entwicklung fehlt wohl noch. Zum anderen sollte die berühmt-berüchtigte Entscheidung des Reichsgerichts vom 4. Februar 1897 „Sächsisches Holzstoffkartell“ hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die danach stattfindende Entwicklung der Kartelle untersucht werden. Und schließlich war die Arbeit dahin ausgelegt, modernere Ansätze aus der Wirtschaftstheorie für rechtshistorische Wirkungsgeschichte nutzbar zu machen. Mit den Worten des Autors „ ...dass es im Unterschied zur traditionellen historischen Methodik hier nicht darum geht, einfache Kausalketten zu stützen, sondern die Ursachen für ein spezifisches historisches Problem unter punktueller Anwendung von Erkenntnissen aus dem Bereich der Wirtschaftstheorie (konkret: Transaktionskostenökonomik und Neue Institutionenökonomik der Geschichte) zu analysieren“. Insgesamt ein hoher Anspruch, der hier eingelöst werden sollte.
Es ist sicher notwendig, gerade auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts – sei es nun rechtsgeschichtlich oder modernrechtlich – einen Blick über die Grenzen des eigenen Fachgebiets auf jene Wissenschaften zu werfen, die nach ihrem eigenen Anspruch „Wirtschaft“ theoretisch aufarbeiten und erfassen wollen. Der Autor greift hier auf zwei Theorien zurück: zum einen die Transaktionskostenökonomik, wonach sowohl für die Betreibung eines Wirtschaftssystems Kosten entstehen, als auch Informationsdefizite bestehen und die Kosten eingesetzt werden, um die Folgen dieser Defizite zu minimieren. Als weiteren Denkansatz gibt es die neue Institutionenökonomik der Geschichte, eine Art Wirkungsanalyse von Institutionen, die ihrerseits wieder von bestimmten Annahmen abhängt. Zu diesen Annahmen gehört, „dass Akteure unvollständig informiert und eingeschränkt rational sind und sie daher in einer langfristig angelegten Vertragsbeziehung sämtliche in Betracht kommenden Eventualitäten, insbesondere ex post opportunistisches Verhalten, nicht rechtsverbindlich regeln können“. Diese Annahmen leuchten zwar ein; nicht so ganz einleuchtend ist, dass dazu eine Wissenschaftstheorie begründet werden muss. Hart an den wirtschaftlichen Realitäten stößt sich diese Theorie, wenn sie behauptet, dass in einem abgestuften Prozess eine Vertragspartei zur Überwachung und Durchsetzung ihrer Interessen bis zur Integration des anderen Unternehmens gehen werde: die wirtschaftliche Realität sieht anders aus, hier geht es um Outsourcing und Just-in-Time-Lieferung, also genau das Gegenteil von Integration. Und hier liegt bereits ein Kritikpunkt, nämlich die „unkritische“ Übernahme wirtschaftstheoretischer Erkenntnisse. Der vorgenannte Einwand zeigt doch, dass die Annahmen und noch viel mehr die Schlussfolgerungen der Wirtschaftstheorie selten mit der Wirtschaftspraxis übereinstimmen. Die von dieser Theorie angenommene „eingeschränkte Rationalität“ schlägt somit auf sie zurück und auch auf den Autor. Denn seine Arbeitshypothese lautet letztlich: „Wenn diese speziellen Ausgangsbedingungen gegeben sind und die allgemeinen Hypothesen aus der Neuen Institutionenökonomik auf sie angewendet werden, folgt daraus eine Prognose. Daran schließt sich ein ,Prognosetest’ an. Dabei handelt es sich um die singuläre, auf das Kartellrecht bezogene Anwendung der Prognose mit dem Ziel, ihre Übereinstimmung mit den eingetretenen Folgen festzustellen.“ Bei einer fehlenden Übereinstimmung wird dann die Ursache in den allgemeinen Hypothesen gesucht, in der Nichtbeachtung spezifischer Ausgangsbedingungen oder dem Einwirken äußerer Faktoren (z. B. Krieg). Dass die gesamte Theorie falsch sein könnte, kommt dem Autor nicht in den Sinn. Um nun zum Kern der Arbeit vorzustoßen, - die Auswirkungen der bereits erwähnten Reichsgerichtsentscheidung - , wird anschließend die Entwicklung des Kartellwesens bis 1897 dargestellt unter Gegenüberstellung der Institute Gewerbefreiheit und Vertragsfreiheit, wobei die angeblich kartellfreundliche Haltung der Nationalökonomie besonders betont wird. Auf dieser Basis werden dann obergerichtliche (positive) Entscheidungen zur Kartellfrage wiedergegeben. Schließlich werden Prämissen und Prognosen entwickelt, um die reichsgerichtliche Entscheidung bewerten zu können. Dabei unterläuft dem Autor ein m. E. schwerwiegender methodischer Fehler: unter Prämissen führt er folgendes auf (S. 108): „Die beteiligten Akteure sind Unternehmer, die sich zu Kartellen zusammengeschlossen haben oder dies zu tun beabsichtigen. Den dafür erforderlichen Flankenschutz (ein Wort, das der Autor überaus häufig verwendet) erhalten sie durch Kartellbefürworter in der Nationalökonomie und durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts, das sich bei seiner Urteilsfindung wesentlich auf die Aussagen kartellfreundlicher Nationalökonomen stützt. Mit seiner Rechtsprechung setzt das Reichsgericht den institutionellen Rahmen für die Kartellbildung fest“. Dann heißt es weiter (S. 109): „Ausgehend von diesen Prämissen lässt sich folgende Prognose für die weitere Entwicklung des Kartellwesens zwischen 1897 und 1914 formulieren: Unternehmer werden sich nach dem Urteil vom 4. Februar 1897 weiterhin zu Kartellen zusammenschließen, um den damit für sie verbundenen Nutzen der Produktionskontingentierung und Preiskontrolle zu erhalten......Die Rechtsprechung, unterstützt durch die herrschende Lehre in der Nationalökonomie, wird den dazu erforderlichen Flankenschutz bieten...“. Es ist aber methodisch nicht haltbar, sowohl auf der Seite der Prämissen als auch auf der Seite der daraus zu erwartenden Folgerungen die selben Tatbestandsmerkmale einzusetzen; denn unter den angenommenen Prämissen (Stützung der Kartellbildung durch Nationalökonomie und Rechtsprechung) muss sich denknotwendigerweise ein diese Prämissen bejahendes Ergebnis zeigen; Aufgabe der Arbeit sollte es aber sein, die Prognose zu verifizieren und nicht die Prämissen. Es nimmt daher nicht Wunder, dass am Ende der Arbeit die Prognose bestätigt wird.
Angesichts dieses methodischen Fehlers beweist das Ergebnis nichts, zumal es im Hinblick auf die Auswirkungen der Entscheidung des Reichsgerichts verhältnismäßig nichtssagend ist. Man ist versucht zu sagen, „natürlich“ hat das Reichsgericht die Kartellbildung nicht gefördert. Wie sollte dies auch eine Rechtsprechung leisten, die in die methodischen Diskussionen der Zeit eingebunden war. Viel schwerwiegender wiegt das „Versagen“ des BGB-Gesetzgebers, über die Ausgestaltung des § 138 BGB zu einer Begrenzung der Kartellbildung zu kommen[1]. Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter diesem gesetzgeberischen Aspekt ein Gegensteuern zu verlangen, würde deren Möglichkeiten verkennen. Vage und unpräzise bleiben dann auch die Schlussfolgerungen hinsichtlich der Wirkungen der RG-Rechtsprechung: hat sie nun ein Kartellprivatrecht geschaffen (S. 200) oder nicht (S. 211); war sie die Basis der weiteren Entwicklung oder bot sie nur einen „Flankenschutz“ (S. 222).
Insgesamt hinterlässt die Arbeit schwerwiegende Zweifel, ob wirtschaftstheoretische Ansätze für rechtshistorische Erkenntnisse fruchtbar gemacht werden können; bislang konnte man zu diesen Ergebnissen auch ohne solche schwergewichtig einherkommenden Lehren gelangen.
Frankfurt am Main Siegbert Lammel
[1] Dazu Lammel, Das Verbot der Kartelle durch § 138 BGB – eine verpasste Gelegenheit?, ZNR 1987, 51-73.