Rheinbündischer Konstitutionalismus, hg. v. Brandt, Hartwig/Grote, Ewald (= Rechtshistorische Reihe 350). Lang, Frankfurt am Main 2007. 149 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der rheinbündische Konstitutionalismus der Jahre 1807 bis 1811 wurde lange Zeit als von Napoleon diktierter „Scheinkonstitutionalismus“ bezeichnet. Bereits Michael Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, Berlin 2005 (hierzu Werner Schubert in ZGR GA 123 [2006], S. 668f.) hat eine solche Kennzeichnung zurückgewiesen. Auch nach Meinung der Herausgeber Brandt und Grothe sollte man nicht allein vom praktischen Scheitern der rheinbündischen Konstitutionen ausgehen. Vielmehr gelte es, „den Gehalt der einzelnen Verfassungsurkunden zu erfassen, zu analysieren und im Hinblick auf ihre Wirkung auch die langfristigen mentalen Folgen zu berücksichtigen“ (S. 12). Nach der Einleitung der Herausgeber: „Über die Anfänge des Verfassungsstaates in Deutschland“ (S. 7ff.) befasst sich G. Schuck in seinem Beitrag mit der Rheinbundakte von 1806 (S. 17ff.) Obwohl diese noch keine eigentliche „Verfassung“ bildete, lässt sich die Rheinbundakte – primär ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Napoleon und den Mitgliedern – als „Quasi-Verfassungstext“ verstehen (S. 18), der die Verfassungsverhältnisse der deutschen Staaten dauerhaft auf eine völlig neue Basis stellte und Grundlage für die Verfassungsgesetzgebung in insgesamt sechs Mitgliedstaaten (Königreich Westphalen, Bayern, Reuß ältere Linie, Sachsen-Weimar-Eisenach, Anhalt-Köthen und Großherzogtum Frankfurt) war.

 

Die von Pariser Staatsratsjuristen ausgearbeitete Verfassung des Königreichs Westphalen von 1807, die Grothe in seinem Beitrag behandelt (S. 31ff.), stellte eine Mischung von napoleonischen Gesellschaftsvorstellungen und Machtansprüchen dar, wobei wohl erstere überwogen und Modellcharakter für die Rheinbundstaaten hatten. Grothe stellt in diesem Zusammenhang vor allem die Postulierung von Freiheitsrechten (Judenemanzipation, Gewerbefreiheit, Abschaffung der Leibeigenschaft und der Adelsvorrechte im Steuerwesen und im Ämterzugang), die zentralistisch-hierarchisch ausgerichtete Verwaltungsstruktur des Königreichs sowie die Etablierung einer ständischen Repräsentationskörperschaft heraus, die zweimal zusammentrat. Inwieweit die westfälische Konstitution einen „eigenständigen Typus“ bildet, so Grothe S. 43f., bedürfte noch detaillierterer Untersuchungen. – Die bayerische Verfassung von 1808 (über diese H. Brandt S. 53ff.) war zwar in vielem eine Kopie der Konstitution des Königreichs Westphalen, beruhte jedoch gleichzeitig auch auf der landeseigenen Verfassungstradition. Auch sie war keine „Attrappe, keine Konstitution des bloßen Scheins“, sondern ein wichtiger Vorläufer der konstitutionellen Verfassung von 1818 (S. 32). – Noch stärker folgte die Verfassung des Großherzogtums Frankfurt dem westphälischen Vorbild (hierzu Dölemeyer, S. 94ff., die zugleich auch die Verfassung der Stadt Frankfurt von 1806 und 1816 behandelt). Auch wenn die Verfassung in geringerem Umfang als in Westfalen durchgeführt wurde, so brachte sie dem neuen Staat immerhin die Etablierung „gewisser Elemente rechtsstaatlicher Ordnung“ (S. 98). – In gleicher Weise dem westphälischen Vorbild verhaftet war die Verfassung des Herzogtums Anhalt-Köthen von 1810/11 (hierüber E. Liebmann, S. 105ff.), die jedoch bereits 1812 an ihrer „wenig sorgfältig geplanten, reflektierten Einführung und an dem Widerstand der überkommenen Bürokratie“ scheiterte. Gleichwohl konnten einige Verfassungsbestimmungen in die nachnapoleonische Zeit hinübergerettet werden (Abschaffung der Patrimonialgerichte, Emanzipation der Juden, modernes Ertragssteuersystem). G. Müller betritt mit seinen Beiträgen über das Landesgrundgesetz des Fürstentums Reuß ä. L. von 1809 und der Verfassung des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach von 1809 unter Heranziehung archivalischer Quellen weitgehend Neuland (S. 65ff., 73ff.). Beide Verfassungen waren noch unvollständig und gingen auf die Finanzkrise und die wachsenden Probleme der Staatsfinanzierung beider Staaten zurück. Sie räumten den Ständen einen „grundgesetzlich anerkannten Anteil an den Staatsgeschäften“ (S. 70) ein. Während Reuß ä. L. bis 1867 auf eine moderne Verfassung warten musste, erhielt Sachsen-Weimar bereits 1816 eine für diese Zeit sehr fortschrittliche Konstitution, die u.a. die Freiheit der Presse erstmals in Deutschland verfassungsrechtlich verankerte. Das Werk wird abgeschlossen mit einer umfangreichen Bibliographie (S. 117-140) und reichhaltigen Personen- sowie Orts- und Sachregistern (S. 142ff.).

 

Mit ihren Beiträgen haben die Autoren des vorliegenden Bandes die verfassungsgeschichtliche Rheinbundforschung ergänzt und auf bisher weniger behandelte Konstitutionen ausgedehnt. Damit wird insbesondere auch neues „Material für eine komparative Sicht auf die rheinbündischen Reformen“ (S. 12) sowie für die latente Bedeutung des rheinbündischen Konstitutionalismus hinsichtlich der Verfassungspolitik der Restaurations- und Vormärzzeit geliefert. Insoweit bekräftigen die Beiträge die These, dass der rheinbündische Konstitutionalismus die Frühgeschichte des modernen Verfassungsstaates in Deutschland repräsentiere (vgl. S. 16). Allerdings fehlen noch immer detailliertere Vergleiche mit den französischen und italienischen Verfassungen der napoleonischen Zeit sowie mit der Konstitution für das Herzogtum Warschau vom Juli 1807.

 

Kiel

Werner Schubert