Plassmann, Alheydis, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (= Orbis mediaevalis – Vorstellungswelten des Mittelalters 7). Akademie-Verlag, Berlin 2006. 458 S. Besprochen von Alois Gerlich.

 

Die Verfasserin ist der Zeitschrift für Rechtsgeschichte bekannt seit ihren Untersuchungen über den Hof Kaiser Friedrichs I. Barbarossa (ZRG 118, 2001, S. 509-514). Jetzt ist ihre Bonner Habilitationsschrift anzuzeigen, mit der sie sich mit dem andersartigen großen Thema in den Kreis von Gelehrten begibt, der mit den Namen Herwig Wolfram, Susan Reynolds, Walter Goffart, Hans Hubert Anton, Walter Pohl bestimmt wird. Um das neue Werk von Frau Plassmann zunächst oberflächlich zu charakterisieren, ist das nicht weniger als 53 Druckseiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis zu nennen, das die Intensität der Forschung widerspiegelt. Mit Blick auf ihren Buchtitel weist sie auf Reinhard Wenskus hin, der mit seiner behutsamen Methode auf die späteren Historiker, hier besonders in Wien, eingewirkt hat. Alheydis Plassmann will die Frage beantworten, auf welche Weise eine Herkunftserzählung geeignet war zur Identitätsstiftung in einer Zeit, als die betreffende gens in den Kreis anderer christlichen gentes eingetreten war und die Aufzeichnung ihrer Geschichte erfolgen konnte (S. 22). Mit der von ihr durchgängig angewandten Bezeichnung gens greift sie auf den in den Quellen gebrauchten Ausdruck zurück, umgeht Schwierigkeiten der Übersetzung und der mit dem ‚Volks’-Begriff verbundenen, zeitweise politisch missbrauchten, Anwendungen. Sie wendet sich folgenden Autoren zu: Gildas, Gregor von Tours, Fredegar, Paulus Diaconus, Dudo von S. Quentin, Widukind von Corvey, Gallus Anonymus und Cosmas von Prag, also Historikern unterschiedlichster Herkunft, soweit diese noch nachweisbar ist, in heterogenen Umfeldern und weit auseinander liegenden Zeitspannen. Beachtet werden zu Ende noch Herkunftsberichte mit Versuchen einer Bestimmung in jeweils dynastischem Rahmen.

 

Welche Schwierigkeiten bei der Durchführung des Vorhabens entstehen, macht zunächst Gildas De excidio et conquestu Brittaniae deutlich. Hier findet sich keine Origo-Erzählung. Es gibt nur Identifikationsmuster für das Wirken der Briten in einem ehemals römischen Kolonialbereich und den Vergleich mit anderen barbarischen gentes, denen sie überlegen sind. - Bedeutend ergiebiger ist Beda in der Historia Ecclesiastica, in der er die Herkunft und Niederlassung der Angeln, Sachsen und Jüten schildert. Aber auch hier muss sich die Verfasserin mit der Erkenntnis begnügen, eine echte Origo läge nicht vor. Die Legitimierung des Herrschers beruht auf dessen rechtem Glauben. Die Ethnogenese der Angelsachsen vollzog sich durch die Mission, also in einem gestreckten Ablauf, nicht durch ein vom Herrscher gegebenes oder ein sonst fixierbares Ereignis. - Ähnlich schwierig im Sinne des Forschungsanliegens ist die Historia Brittanorum vom Beginn des 9. Jahrhunderts, die Frau Plassmann zutreffend nur als eine Kompilation von in ihrer Herkunft undefinierbaren Quellen bezeichnet. In den Anmerkungen wird die Ergebnislosigkeit der Bemühungen auch englischer Forscher markiert. Der Autor der Historia Brittanorum macht es der Forschung nicht leicht mit seiner Einbettung der Briten in die Heilsgeschichte und mit ihr das Handeln derselben legitimierend. Immerhin ist er für die Briten wohlmeinender als Gildas, wenn er eine Verwandtschaft mit den Römern postuliert. Nur origoähnliche Elemente erscheinen in den eingefügten Familiengeschichten.

 

Gehaltvoller ist die Historia Francorum Gregors von Tours, die am Ende des 6.Jahrhunderts „als einzige ausführliche Quelle zur frühen Merowingerzeit“ (S. 116) entstanden ist. Frau Plassmann verteidigt Gregor gegen die Kritik in älterer Forschung und diskutiert jetzt die Meinungen Walter Goffarts, Helmut Beumanns und Martin Heinzelmanns. Sie betont zutreffend die „örtliche Verankerung“ in seiner Bischofsstadt Tours. Von dort her galt sein Interesse mehr als der gens der Franken den frühen merowingischen Königen und der Legitimität ihrer Herrschaft. Diese wird gegeben durch Heilige, besonders Martin, und die Bischöfe. Einer Origo bedurfte der Nicht-Franke nicht. – Nach Gregor tritt als andersartiger Historiker bei Frau Plassmann Fredegar auf. Er hat seine kompilatorische Chronik um 658/660 verfasst. Die Verfasserin referiert diese ausgiebig. Sie schließt sich ihr an, soweit man den Autor als einen Romanen ansieht, der die fränkische Geschichte in einer „Außenansicht“ betrachtet (S. 150). Die Volksgeschichte führt Fredegar bis auf die Trojaner zurück mit deren als Namengeber fungierendem König Francio. Die identitätsbewirkende Kraft spricht die Verfasserin der Elite zu, der Fredegar den Namen Franci gibt. Durch die Namensnennung sollen sich die Franken abheben von den besiegten Hunnen, Langobarden und Wenden. Mit der Ableitung von den Trojanern wird der höhere Rang gegenüber den Nachbarn betont. Ihr Handeln beruht nicht auf göttlicher Legitimation, wird auch nicht von außen gegeben. Die merowingischen Könige haben keine heilsgeschichtliche Funktion, Fredegar schätzt die fränkischen Großen, besonders die Hausmeier hoch ein. Bei ihm legitimiert die politische Führungsschicht die Herrscher, die sie in der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt. – Fredegar ähnliche Tendenzen treten im Liber historiae Francorum eines anonymen Autors um 727 auf, den Frau Plassmann knapper behandelt. Bei ihm tritt Karl Martell in den Vordergrund, die von den Trojanern Abstammenden erhalten ihren Namen von Kaiser Valentinian, geben sich ihre Gesetze während der Niederlassung am Rhein durch die priores gentiles. Frau Plassmann weist nach, dass dieser Autor von einer Erhebung der Könige durch die Franken erst nach seiner Abkehr von Fredegar spricht. Die Auffassung von einer Origo bleibt merkwürdig blass. Die Verfasserin erklärt dies mit der weiter vorangeschrittenen Abfassungszeit und dem Wegfall einer Zielsetzung für diesen Autor. Zuzustimmen ist ihr, wenn sie im Vergleich Gregors, Fredegars und des unbekannten Autors in deren Werken einen „selbstgenügsamen Zug“ in der fränkischen Geschichtsschreibung sieht (S. 190).

 

Die Historia Langobardorum des am Hofe Karls des Großen lebenden Paulus Diaconus bringt andere Aspekte. Die Verfasserin weist zunächst unter Patenschaft Jörg Januts auf die sehr differenzierte politische Beschaffenheit der Apenninenhalbinsel, den im Vergleich mit dem Frankenreich fortgesetzten Streit zwischen Königen und Großen sowie derselben untereinander hin. Die Bayern sind eher Verbündete, die Franken eher Feinde. Die Einwanderung der Langobarden nach Italien wird in Verbindung mit dem Feldherrn Narses gebracht und daraus eine von außen eingeführte Legitimität konstruiert. Bemerkenswert ist, dass Paulus an einer Identitätsstiftung nicht interessiert ist (S. 211 u. 214). Des Weiteren stellt die Verfasserin heraus, dass in Anbetracht der Wirren den Königen keine Sakralität zuerkannt werden konnte. Die fränkischen Könige und Hausmeier werden von Paulus im Gegensatz zu denen in Italien positiv dargestellt. Frau Plassmann bewertet diese Aussagen als Ergebnis der politischen Umstände und unterstellt dem Autor die Absicht, dem fränkischen Hof die Gründe für den Untergang des Langobardenreichs darzulegen. Im Sinne ihres Anliegens bringt der Frageansatz hier nichts: „Paulus gibt sich nicht dem sinnlosen Unterfangen hin, für eine gens, die er für untergegangen hält, Legitimität oder Identität zu stiften“(S. 240). Für Karl den Großen mochte eine solche Aussage zusätzliche Ermunterung für seinen Griff über die Alpen gewesen sein.

 

In den facettenreichen Untersuchungen lag es nahe, Gedanken über Legitimation im karolingischen Kontext bei anderen Autoren zu suchen. Hier bieten sich Dudo von Saint-Quentin und Widukind von Corvey an. Des ersteren Historia Normannorum ist eine Auftragsarbeit, die der aus der Grafschaft Vermandois stammende Kanoniker für Herzog Richard I. von der Normandie schrieb. Nach drei Jahrhunderten seit Gregor von Tours und Fredegar musste es zu einer ganz anderen Darstellung kommen. Dudo verwendet in Auswahl überkommene Topoi: Bei Herzog Rollo werden die trojanischen Ahnen und seine Bekehrung zum Christentum angeführt. In der göttlichen Fürsorge liegt die Legitimation seines Wirkens mit dem Ziel der lex perpetua und der Vereinigung aller Bewohner der Normandie, die durch den Herzog Richard I. ihre Erfüllung findet. Es ist die Reduzierung auf ein Territorium, die jetzt die Darstellung bestimmt. – In der Linie ihrer Origo-Forschung mustert die Verfasserin auch die Res gestae Saxonicae libri tres Widukinds von Corvey. Sie boten Anlass zu erheblichen Kontroversen, für die stellvertretend genannt seien Martin Lintzel, Helmut Beumann, Johannes Fried, Gerd Althoff, Carlrichard Brühl, Karl Hauck und Ernst Karpf. Frau Plassmann konzentriert ihre Ausführungen auf die Landnahme in den Stufen der Schiffslandung mit den Kriegen der Sachsen gegen die Thüringer. List und Gewalt bieten Widukind den Hintergrund für die von ihm hervorgehobene Tapferkeit seines Volkes. Auf sie gründet sich die Entwicklung zur gens unter der Führung von Herzögen und Königen, in den Kriegen mit den Nachbarn finden die Sachsen zu ihrer Identität. Von da aus gelangt Widukind zu der von ihm behaupteten Zielsetzung des inneren Friedens. Göttliche Hilfe spielt eine nur untergeordnete Rolle. Alles ist abgestimmt auf das liudolfinische Haus, das indessen aber nicht eine Origo im Sinne der anderen Autoren vermittelt. Frau Plassmann führt so hin zu einem anderen Genre mittelalterlicher Autoren.

 

Zu andersartigen Anschauungen leitet dann der Gallus Anonymus aus Südfrankreich mit der Chronica ducum Polonorum, entstanden im frühen 12. Jahrhundert. Er kann nur eine „Außenansicht“ bieten. In Boleslav Chrobry aus dem Piastenhaus sieht er den Gründer, der die Feinde besiegt und seine Krone von Kaiser Otto III. erhalten hat. Das Territorium Polens, nicht die gens seiner Bewohner tragen bei zur Legitimation seiner Herrschaft. Hier scheint eine Bedeutung des Landes auf, die in Origo-Erzählungen erstmal bei Dudo auftrat. Für den Gallus Anonymus werden die Nachbarn als heidnische Barbaren geschildert, so dass im Umkehrschluss der Beleg für ihre Höherrangigkeit gegeben ist. Besondere Abwertung erfahren die Böhmen und die Rus. Das gilt nicht für die Deutschen, hier werden Vergehen nur im Blick auf Einzelpersonen beachtet. Wenn aber Gallus auf diese Weise die Polen von anderen gentes abgrenzt, nutzt er dies nicht zu einer weitergehenden Identitätsstiftung (S. 319). – Es war eine gute Entscheidung der Verfasserin, nach dem Gallus Anonymus mit Cosmas von Prag und dessen Chronica Boemorum, der ersten böhmischen Geschichte, die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Mit ihm tritt ein noch ein Historiker auf, der nicht die Bewohner, sondern das Land in den Vordergrund stellt. Für ihn war es die aus der Überlieferung bekannte Libussa und der von dieser vom Acker geholte Przemysl, die am Beginn der Dynastie stehen. Sie haben die die terra Bohemica bewohnenden Stämme geeinigt, die Einheit des Landes hergestellt und mit der Gründung des Bistums Prag gefestigt. Dass Herzog Wratislaw von Kaiser Heinrich IV. zum König erhoben wurde, wird von Cosmas ohne Hervorhebung nur erwähnt. Die Herrscher Böhmens werden von ihm nicht mit Lob überschüttet, doch wird den Przemysliden stets die Spitzenstellung zuerkannt. Ihnen haben sich die Großen unterzuordnen und zur Befriedung des Landes beizutragen. In der Schilderung der Nachbarn schneiden die Polen besonders schlecht ab. Gegenüber den Deutschen und ihren Herrschern wird die Selbständigkeit Böhmens betont, die Einmischung des Kaisers wird verurteilt. In seiner bemühten Suche nach einer Origo der Böhmen macht Cosmas Anleihen bei den Römern und in der Bibel, doch auch hier steht nicht die gens voran, sondern das Land. Die Einheit der terra mit ihrer das Herrschergeschlecht legitimierenden Kraft wird von Cosmas noch stärker als von Dudo und Widukind betont.

 

Damit ist das Ende eines langen Weges erreicht, auf dem Autoren begegnen, die das Wesen der gesellschaftlichen und politischen Strukturen erwogen und deren Legitimität zu ergründen suchten, ein Weg in rauhem Gelände, auf dem Alheydis Plassmann Schritt um Schritt voranging und die Markierungen für Aussagen über Entstehung, Geschichte und innere Beschaffenheiten aus sieben Jahrhunderten fand.

 

Wiesbaden                                                                                                     Alois Gerlich