Peregrinatio Hungarica.
Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis
zum 20. Jahrhundert, hg. v. Fata, Márta/Kurucz, Gyula/Schindling, Anton
unter Mitarbeit von Lutz, Alfred/Senz, Ingomar (= Contubernium 64).
Steiner, Stuttgart 2006. XII, 548 S., 29 Abb., 14 Diagr., 10 Tab., 3 Kart.
Besprochen von Wolfgang Pöggeler.
Als der
ungarische Aufstand im November 1956 von sowjetischen Truppen niedergeschlagen
wurde, nutzten viele Ungarn die Wirren jener Tage zur Flucht in das westliche
Ausland. In den kommenden Jahren etablierte sich unter den Madjaren ein Witz.
Frage: Warum sind überhaupt Ungarn im Lande geblieben? Antwort: Aus purer Lust
am Abenteuer!
Nun, im
allgemeinen war es zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert genau anders herum:
Das Verlassen der Heimat war ein Abenteuer, nicht das Zuhausebleiben.
In einem
sorgfältig redigierten, schönen Buch widmen sich 25 Autoren den ungarischen
Studenten an deutschen und österreichischen Hochschulen der vergangenen vier
bis fünf Jahrhunderte. Dem Buch vorausgegangen war im Oktober 2003 eine
deutsch-ungarische Tagung an der Universität Tübingen. Der Forschungsgegenstand
wird im übrigen bereits seit den 1980er Jahren an der Budapester
Lóránd-Eötvös-Universität verfolgt, und zwar mit dem ehrgeizigen Ziel, ein
möglichst vollständiges Verzeichnis der Studenten aus Ungarn und Siebenbürgen
zu erstellen, die in der Neuzeit (insbesondere der frühen) an europäischen
Universitäten studierten.
Die ungarische
Motivation für einen solchen Aufwand besteht, wie László Szögi in seinem
Beitrag andeutet, in der Frage nach dem Kulturtransfer, der im Wege des
Auslandsstudiums stattfand. Dahinter steht letztlich die Frage nach der ungarischen
Identität und ein Stückweit nach der europäischen.
Ungarische
Studenten besuchten schon im ausgehenden Mittelalter Universitäten in Krakau,
Prag, Wien, Bologna, Paris und Oxford. Der Besuch von Universitäten in den
deutschsprachigen Ländern war vom 16. bis zum 20. Jahrhundert quantitativ und
qualitativ von herausragender Bedeutung. Das lag zum Teil daran, dass der
deutsche Sprachraum unmittelbar an Ungarn angrenzt und eine große Zahl
deutscher Universitäten einer sehr geringen Zahl ungarischer und siebenbürgischer
Universitäten gegenüberstand. Nicht dass es keine gab, aber die ungarische und
siebenbürgische Bildungslandschaft wird für die Zeit vor dem Ende des 19.
Jahrhunderts von Márta Fata und Anton Schindling zu Recht als
„hochschularm“ bezeichnet. Dass die Türken eine Zeitlang dafür verantwortlich waren,
ist hinreichend bekannt.
Problematisch
ist der unkommentierte und etwas ausufernde (Groß-)Ungarnbegriff, welcher der
Untersuchung zur Peregrinatio Hungarica vielfach, wenngleich nicht bei allen Autoren,
zugrunde liegt. Denn was ist ein Student aus Ungarn oder gar ein ungarischer
Student vom 16. bis in das 20. Jahrhundert? Wie steht es mit den Siebenbürger
Sachsen, Banater Schwaben, Slowaken, Rumänen, Ruthenen, Italienern, Kroaten und
Serben aus jenen Gebieten, welche die Untersuchung umfasst? Sie werden mehr
oder weniger alle als Studenten aus Ungarn behandelt, wenn sie denn als
Studenten ins Ausland gingen. Am deutlichsten wird diese Position durch eine
Karte mit dem Titel „Hochschulen in Ungarn vom Mittelalter bis 1944“ auf Seite
9 des Bandes. In diesem Großungarn stellten aber die ethnischen Ungarn etwa
gegen Ende des 19. Jahrhundert weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Und rein
staatsrechtlich betrachtet war dieses Großungarn gerade in dem untersuchten
Zeitraum eher eine Episode - unter anderem, weil Siebenbürgen dem ungarischen
Staatsverband erst nach dem Ausgleich einverleibt und bereits nach dem Ersten
Weltkrieg Rumänien zugeschlagen wurde. Der Großungarnbegriff ließe sich
möglicherweise als Ausgangspunkt der Untersuchung durchaus begründen, diese
Begründung und die dadurch notwendige differenzierende Sichtweise hätte aber
auch erfolgen sollen. Im übrigen hat István Bibó in seiner Abhandlung
über die „Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei“ bereits vor einem halben
Jahrhundert deutlich gemacht, wie verderblich der Großungarnbegriff in der jüngeren
Geschichte Ungarns war.
Das ist
allerdings schon der einzige nennenswerte Kritikpunkt an diesem Buch. Denn
jeder Beitrag darin ist lesenswert. Das Buch ist relevant im Rahmen der
Geschichte der explizit betrachteten Universitäten, nämlich Wittenberg, Halle,
Heidelberg, Nürnberg (Altdorf), Leipzig, Göttingen, Jena, Tübingen, Wien,
Greifswald, Berlin. Doch primär hat es natürlich Bedeutung, weil hier ein
zentraler Aspekt der Kultur- und Bildungsgeschichte vor allem Ungarns und
Siebenbürgens erforscht wird.
Rechtshistorisch
im eigentlichen Sinne ist allein der Aufsatz Katalin Gönczis. Sie
untersucht den juristischen Wissenstransfer von der Universität Göttingen in
das Königreich Ungarn im späten 18. Jahrhundert. Ihr meinungsfreudiger und
profunder Beitrag fördert erstaunliche und erstaunlich konkrete Beispiele des
Kulturtransfers zu Tage. So habe die Göttinger Schule des ius publicum in der ungarischen und habsburgischen Rechtspraxis
dank ihrer vergleichenden Methode deutliche Spuren hinterlassen. Und die
Georgia Augusta habe die Ungarn motiviert, in europäischen Dimensionen zu
denken. Nach Katalin Gönczi trug das Studium an der Universität Göttingen auch
erheblich dazu bei, dass in Ungarn zur Zeit der Französischen Revolution schon
eine von den Ideen der Aufklärung beeinflusste politische und geistige Elite
aktiv werden konnte.
Das Buch liefert
einen gewichtigen Baustein zur Einordnung der ungarischen Gesellschaft in den
europäischen kulturellen Kontext. Die Forschungsergebnisse des Buches sind ein
eindeutiger Beweis für die traditionelle (!) Integration Ungarns in das west-
und westmitteleuropäische Geistesleben. Diese Einordnung wird gelegentlich bestritten
(kürzlich etwa durch Timothy C. Dowling); vor dem Hintergrund der
ungarischen Bildungsgeschichte ist das meines Erachtens nicht vertretbar. Der
Band beweist es.
Es gibt also
vielerlei Gesichtspunkte, aus denen heraus die Lektüre dieses Buches lohnend
ist. Last but not least sei einer nachgetragen; er stammt von Wilhelm Droste,
dem größten westfälischen Kenner der ungarischen Seele. Der „wahre Ungar“, so
definiert Droste aus der anregenden Atmosphäre seines Budapester Kaffeehauses
heraus, sei „der kreative Mensch in seiner weltweit gelungensten und
charmantesten Verkörperung“ (Drei Raben - Három Holló, Heft 10 / 2006). Und
dann möchte man doch wissen, wo dieser Mensch studiert hat!
Berlin und
Nemesnádudvar Wolfgang
Pöggeler
Prof. Dr. jur. habil.
Wolfgang Pöggeler
Am Rosenanger 57
A
13465 Berlin