DunckerNiedermeierlippischesjudenrecht20071113 Nr. 11838 ZRG GA 125 (2008) 52

 

 

Niedermeier, Ursula, Lippisches Judenrecht und der Schutz der Juden in den Zivilprozessen der lippischen Obergerichte im 19. Jahrhundert (= Europäische Hochschulschriften 2, 4351). Lang, Frankfurt am Main 2006. 198 S. Besprochen von Arne Duncker.

 

In ihrer sehr lesenswerten und unter erfreulich umfangreicher Auswertung von Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts angefertigten Regionalstudie zum lippischen Judenrecht untersucht Niedermeier am Beispiel des Landes Lippe grundlegende Fragen der deutsch-jüdischen Rechtsgeschichte, in einer Weise, welche die Arbeit auch für die deutsch-jüdische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu einem Gewinn macht. Inhaltlich geht es nicht vorrangig um das innerhalb der jüdischen Gemeinschaften praktizierte „jüdische Recht“ (der mosaischen Gesetze etc.), sondern um das von außen, nämlich von der Obrigkeit für die Juden gesetzte „Judenrecht“. Der gewählte Zeitraum (17.-19. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit nach 1800) ist von einem Abbau dieses Sonderrechts gekennzeichnet. Am Ende steht die Emanzipation der Juden, sie erhalten die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen Bürger.

 

Niedermeiers Arbeit ist in zwei hauptsächliche Untersuchungsabschnitte gegliedert. Im ersten Teil wird die „rechtliche Stellung der Juden in Lippe von 1648 bis zur staatsbürgerlichen Gleichstellung im Norddeutschen Bund 1869“ untersucht (S. 13-112), und der zweite befasst sich im wesentlichen mit der Auswertung historischer Prozessakten („Juden vor den lippischen Obergerichten im 19. Jahrhundert“, S. 113-172).

 

Einleitend werden die Rahmenbedingungen des lippischen Judenrechts umrissen (S. 13-25). In diesem Zusammenhang behandelt Niedermeier die rechtliche Stellung der Juden in Deutschland seit dem Frühmittelalter sowie die staatsrechtlichen und politischen Verhältnisse des Fürstentums Lippe im 19. Jahrhundert und die Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte der in Lippe lebenden Juden. Die detaillierte inhaltliche Untersuchung des Judenrechts erfolgt sodann in zwei Stufen. Während für die Rechtslage der Zeit von 1648 bis Ende des 18. Jahrhunderts eine systematische Anordnung des Stoffes gewählt wird (S. 25-53), folgt für die Entwicklungen im 19. Jahrhundert eine überwiegend chronologische Darstellung (S. 70-107).

 

Im einzelnen werden für die Zeit bis 1800 Rechtsquellen zum Aufenthaltsrecht analysiert, weiterhin zum Recht der Schutzbriefe bzw. Geleitbriefe (Schutzbrief als Vertrag zwischen Landesherrn und sog. Schutzjuden), zum Handel, Hausierhandel, Kredithandel und Pfandleihe, zu Konkursverwaltung, jüdischer Religionsausübung, Grunderwerb, zur Stellung der (nicht durch Schutzbriefe geschützten, verarmten und vagabundierenden) sog. Betteljuden, ferner zur staatsbürgerlichen Stellung der Juden. Sie gehörten keinem der Stände an, hatten keinerlei Anteil an politischen Körperschaften wie dem Landtag oder an Ämtern in der staatlichen Verwaltung, außerdem in den Städten kein Bürgerrecht. Sie waren dort in dem für sie günstigsten Fall - nämlich bei Vorliegen eines Schutzbriefs - lediglich Beiwohner bzw. Schutzverwandte. Allerdings hatte auch ein beträchtlicher Teil der christlichen Stadtbewohner kein Bürgerrecht. Weiterhin wird die finanzielle Sonderbelastung der Juden durch die unterschiedlichsten öffentlichen Abgaben und Gebühren detailliert beschrieben. Die lippischen Juden hatten eine vom Landesherrn anerkannte eigene Vertretung, nämlich regelmäßige jüdische Landtage, auf denen Beschlüsse gefasst und Vorsteher sowie Deputierte gewählt wurden. Sie fungierten als Vertreter und Mittler, darüber hinaus nahmen die Vorsteher Verwaltungs- und Überwachungsaufgaben im Interesse des Landesherrn wahr. Hinsichtlich religiöser Angelegenheiten hatten die Juden eine eigene Gerichtsbarkeit, welche dem Landrabbiner zukam.

 

Als Überleitung und zugleich Grundlage zu den im 19. Jahrhundert folgenden emanzipatorischen Rechtsänderungen beschreibt Niedermeier die Argumente unterschiedlicher Befürworter und Gegner der Judenemanzipation (S. 54-69). Sicherlich ist die Einteilung in Befürworter und Gegner nicht so einfach, wie sie zunächst scheinen mag, da hier unterschiedlichste Zwischenstufen denkbar sind. Als „Gegner“ kommen u. a. Fichte, Herder, Stahl, Wagener, Kant, Hegel, Feuerbach und Marx zu Wort, als „Befürworter“ in erster Linie Dohm, daneben Vertreter der jüdischen Aufklärung wie Mendelssohn und Wessely.

 

Im lippischen Recht waren wesentliche Teile der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Emanzipation in einem weitreichenden Reformgesetz von 1858 enthalten. Die letzten Beschränkungen wurden 1869 durch das Gesetz des norddeutschen Bundes zur Gleichstellung der Juden abgeschafft. Diesen Reformen waren seit 1808 eine Reihe von Rechtsnormen vorausgegangen, mit welchen die rechtliche Ungleichbehandlung der Juden - teils nur ausgesprochen zögerlich - teilweise abgebaut wurde. Der erste große Schritt zur Reformierung des lippischen Judenrechts war die „Verordnung, den Bevölkerungszustand der Juden betreffend“ von 1809, welche u. a. Personenstandsrecht einschließlich Namensrecht sowie Eheschließungsrecht regelte (vgl. S. 74-78). Andererseits wurden - oft mit dem Ziel der Angleichung und Eingliederung - auch Änderungen vorgenommen, die sich erst einmal als Belastung darstellen, so z. B. die Einbeziehung in die allgemeine Wehrpflicht 1809 oder Verordnungen gegen den wirtschaftlich bedeutsamen ländlichen Hausierhandel von Juden 1837 und 1843. Hinsichtlich des Judeneides als eines zentralen Elements des Sonderrechts der Juden (S. 99-103, vgl. auch S. 130-135, 165f.) wird der grundsätzlich diskriminierende Charakter dieser Ungleichbehandlung zutreffend dargestellt. Dieser Eid wurde in Lippe auch noch nach dem Emanzipationsgesetz von 1858 weiter verwendet. Es wäre ergänzend von Interesse gewesen, ob die überregionalen Diskussionen über die Abschaffung dieses Sondereides eine Entsprechung in den lippischen Materialien finden (oder, falls dem nicht so ist, warum dieser Eid ohne nachweisbare Diskussion weiter beibehalten wurde).

 

In einer „Kritik der lippischen Emanzipationsbewegung“ (S. 107-112, zusammenfassend zur Gesetzgebung auch S. 173-176) beschreibt Niedermeier, Lippe sei im Wesentlichen den Vorschlägen gefolgt, wie sie Dohm in seiner „bürgerlichen Verbesserung der Juden“ vorgegeben habe. Allerdings seien die Reformen unter verschiedenen Gesichtspunkten unzulänglich gewesen. So seien sie nicht konsequent und nicht weitgehend genug erfolgt, seien von „realitätsfernen Vorstellungen“ ausgegangen (wie der Anleitung zu teils veralteten Handwerksberufen), im Vergleich zu anderen Territorien recht spät erfolgt und hätten keinerlei Rechte auf Wahrung der jüdischen kulturellen und religiösen Autonomie in Betracht gezogen (freilich weist Niedermeier, S. 175, darauf hin, dass der Begriff der Minderheitenrechte für die Zeit vor 1869 problematisch sei, da solche Rechte damals noch nicht in der gleichen Intensität wie im 20. Jahrhundert diskutiert worden seien). Im Ergebnis habe die Emanzipation in Lippe auch auf jüdischer Seite einen Reformprozess in Gang gesetzt: Säkularisation und Assimilation. Niedermeier stellt die Frage nach einer Alternative zur Assimilationspolitik und weist in diesem Zusammenhang auf das „staatsferne Emanzipationskonzept“ Wilhelm von Humboldts hin (S. 112), was angesichts der Stellungnahme Humboldts zum preußischen Emanzipationsedikt von 1812 allerdings etwas problematisch erscheint.[1] Die lippische Regierung habe sich (S. 173) im 19. Jahrhundert um eine Integration der Juden in die Gesellschaft bemüht und dabei die Gesetzgebung als Erziehungsinstrument verwendet. Diese Entwicklung verlief nicht unbedingt planvoll und zielgerichtet, sondern in Schüben und immer neuen Diskussionen.

 

Weiterhin wird die „Stellung der Juden vor den lippischen Obergerichten im 19. Jahrhundert“ behandelt (S. 113-172). Hierzu zieht Niedermeier sehr ausführlich die Archivalien des Hofgerichts und der Justizkanzlei 1801-1879 zu Rate und wertet insgesamt 90 Einzelfälle aus (vgl. Aktennachweise S. 181-183). Unter diesem Gesichtspunkt ist das vorliegende Werk eine Pionierarbeit mit sehr fruchtbaren neuartigen Fragestellungen, die über den behandelten regionalen Bereich hinaus von Bedeutung für die deutsch-jüdische Rechtsgeschichte sind. Untersucht werden soll hier eben nicht nur die Ebene der normativen obrigkeitlichen Vorgaben, sondern gerade auch die Rechtswirklichkeit der Gerichtsverfahren unter jüdischer Beteiligung, laut Niedermeier (S. 113) „die Rechtssicherheit der Juden vor den Gerichten, d. h., ob die Religionszugehörigkeit Auswirkungen auf den äußeren Ablauf des Gerichtsverfahrens oder auf die Durchsetzung ihrer Rechte als Minderheit hatte“. Die Akten bieten hier einen exemplarischen Einblick. Da es sich insgesamt nur um eine „relativ geringe Anzahl von Entscheidungen“ handelt, warnt die Autorin vor Rückschlüssen im Wege einer Generalisierung und verzichtet bewusst auf „statistische Hochrechnungen“ (S. 113).

 

Es folgt eine meist nach Rechtsgebieten gegliederte systematische Darstellung zu den Gerichtsverfahren. Einleitend werden die lippische Gerichtsverfassung und die Grundlagen des angewandten Prozessrechts dargestellt (S. 114-126). Sodann werden in einem der zentralen Abschnitte der Arbeit unter direktem Bezug auf die Archivalien eine Vielzahl der in Prozessen unter jüdischer Beteiligung betroffenen Rechtsgebiete analysiert (S. 127-171), darunter die Zuständigkeit der staatlichen lippischen Gerichte, die Frage nach der Anwendbarkeit mosaischen Rechts (S. 130, danach allein im Zusammenhang mit der Eidesleistung anwendbar), Zeugnisfähigkeit, Aufenthaltsrecht, Heiratsvorschriften, Handelstätigkeit (Warenhandel, Viehhandel, Kredithandel), Handwerk, Zunftwesen, Maklervertrag, Nachbarstreitigkeiten, Immobilienerwerb, Eigentum (keinerlei Einschränkungen beim Eigentumserwerb an beweglichen Sachen), Beweisrecht (Judeneid), Wechselklage, Exekutivprozess, Zuständigkeitsabgrenzung zwischen „deutscher“ (besser wohl: staatlicher) und jüdischer Gerichtsbarkeit. Zusammenfassend stellt Niedermeier u. a. fest (S. 171f., 176-179), den Juden sei in Lippe im 19. Jahrhundert ungehindert rechtliches Gehör und Rechtssicherheit zuteil geworden und insgesamt habe das damalige Gerichtsverfahren den Juden einen wirksamen Schutz ihrer Rechte geboten. Die prozessuale Gleichheit der Beteiligten sei respektiert worden. Es seien weder parteiische Äußerungen von Gerichtspersonen noch voreingenommene Urteile überliefert. Insbesondere sei nicht mit den Argumenten der Sittenwidrigkeit oder des Wuchers gegen Schuldscheine vorgegangen worden, die jüdische Händler ihre christlichen Kunden unterschreiben ließen. Im formellen Recht gab es eine Ungleichbehandlung im Eid, da die Juden einen Eid nach jüdischem Ritus ablegen mussten. Die häufigsten Streitigkeiten fanden sich im Bereich des Warenhandels (vgl. S. 137-148), woraus zu folgern sein, dass dieser im 19. Jahrhundert die Geldleihe als Haupterwerbsquelle überflügelt hätte.

 

Abschließend (S. 180) vertritt Niedermeier die These, zumindest in der regional vorfindbaren Gesetzgebung und Gerichtspraxis bis zum 19. Jahrhundert seien die späteren Entwicklungen der NS-Zeit noch keineswegs angelegt gewesen. Diese - so ließe sich vermuten - seien auf politische Einflussfaktoren des frühen 20. Jahrhunderts zurückzuführen und durch einen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden rassischen Antisemitismus begünstigt, welcher sich grundlegend von früherer religiös und wirtschaftlich motivierter Judenfeindlichkeit unterscheide.

 

Hervorzuheben ist die sehr gründliche Auswertung von Archivalien (vgl. S. 181-184) und Literatur (vgl. S. 184-198), welche noch durch ein Sachregister hätte ergänzt werden können. Zu recht beklagt Niedermeier (S. 11) eine Forschungslücke zur deutsch-jüdischen Rechtsgeschichte vor 1900: Es gibt insoweit bisher recht wenig detaillierte Untersuchungen zu den Rechtsverhältnissen der Juden in Deutschland, und die Behandlung der Juden in der Rechtspraxis - nach Auswertung von Gerichtsakten - war bisher allenfalls ansatzweise erforscht. In der vorliegenden Arbeit ist es überzeugend gelungen, einen Teil dieser Lücken zu schließen. Sehr gewissenhaft werden die Ergebnisse unmittelbar aus den Quellen entwickelt. Über weite Strecken handelt es sich um die rechtshistorische Erstbearbeitung der verwendeten Quellen. Sicherlich ist es glücklich, als Ausgangspunkt die Regionaluntersuchung eines kleinen Territoriums gewählt zu haben. Dies trägt im Interesse zukünftiger Forschungen zur Übersichtlichkeit und Klarheit der hier gewonnenen und für ganz Deutschland bedeutsamen Ergebnisse bei. Es erscheint wünschenswert, nun Studien für weitere deutsche Territorien folgen zu lassen.

 

Hannover                                                                                                         Arne Duncker  



[1] Vgl. hierzu Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes v. 11. März 1812. Bd. 2, Berlin 1912, S. 270, 276. Für diesen Hinweis und weitere Hinweise u.a. zur Geschichte des Judeneides danke ich Oda Cordes, Schwerin.