Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20.
Jahrhundert, hg. v. Giaro, Tomasz (= Rechtskulturen des modernen
Osteuropa. Traditionen und Transfers 1 = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte
205). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. VIII, 344 S. Besprochen von Martin
Avenarius.
Es gibt Bücher, deren Schlussteil man zuerst lesen sollte, weil sich die voranstehenden Abschnitte dann leichter erschließen. Beim vorliegenden Band ist dies der Fall. Es handelt sich um Beiträge zu einer ersten Tagung im Rahmen eines Forschungsprojekts „Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers“, das von Giaro, dem Herausgeber des Bandes, geleitet wird.[1] Ein caveat im Eingang des Bandes, es habe sich um eine explorative Tagung gehandelt, bereitet auf die Lektüre von Abhandlungen vor, die sich in Niveau und Ertrag, vor allem aber mit Rücksicht auf ihre Nähe zum Rahmenthema voneinander unterscheiden. Nun muss ein Sammelband, der sich der geschichtlichen Entwicklung auch weniger bekannter Rechtsordnungen Osteuropas widmet, schon allein deswegen auf Interesse stoßen, weil er viele Mitteilungen und Nachweise zusammenträgt, die der Forschung sonst schwerer zugänglich wären. Inwieweit sich allerdings der leitende Gedanke des Forschungsprojekts wiederfindet und die zugrundeliegende Fragestellung durch die einzelnen Beiträge gefördert wird, lässt sich zutreffender bewerten, wenn die einzelnen Beiträge im Lichte der Ausführungen Giaros über das Rahmenthema und seine Interpretation desselben gesehen werden.
Das Forschungsprojekt richtet sich, wie der Titel verrät, am Beispiel der Rechtsentwicklung in Osteuropa auf das Problem der Vermittlung von Rechtseinrichtungen und deren Erfassung in bestimmten Traditionen. Es handelt sich um eine nicht nur aktuelle, sondern grundsätzlich relevante Thematik. So steht hinter der Frage, in welchem Maße die Wirkungen bestimmter Traditionen des Rechts in Osteuropa festgestellt werden können, die Erwägung, inwieweit eine Isolation bestimmter „Rechtstraditionen“ überhaupt überzeugen kann. Die Frage nach Rechtstransfers wiederum nimmt ihren Ausgang an der Einführung nicht weniger Versatzstücke aus westlichen Rechtsordnungen in die historischen oder postsozialistischen Rechtsordnungen Osteuropas; dass das Transferierte dabei Veränderungen durchläuft, entspricht gefestigter Erkenntnis, die insbesondere von Watson grundlegend beschrieben worden ist.[2] Die Erklärung des Zusammenhanges mit der wissenschaftlichen Diskussion um die Begriffe von Transfer und Traditionen ist wichtig, wenn sich in ihrem Lichte aus der Gesamtheit der Beiträge spezifische Zusatzerkenntnisse ergeben sollen. Das allgemein gehaltene Vorwort des Bandes erfüllt diese Aufgabe eher nicht.
Dass die Frage des Rechtstransfers mit Blick auf ein breit
gestreutes Spektrum an Rechtsordnungen Osteuropas untersucht wird, ist
berechtigt. Denn ein Rechtstransfer hat ja keineswegs nur aus Westeuropa in den
Osten stattgefunden; unter den außerdem besonders einflussreichen
Rechtsordnungen sind bekanntlich das byzantinische und später das russische
Recht zu nennen. Entsprechend können auch begrenzte Einflüsse regional
bedeutender Rechtsordnungen wie der Ungarns auf angrenzende slavische Länder
beschrieben werden, ebenso schließlich Fälle wechselseitiger Beeinflussung, wie
sie etwa zwischen dem russischen Recht und dem der baltischen Länder
stattgefunden hat. Die der Betrachtung unterliegenden Vorgänge sind also
vielfältig und komplex.
Die einzelnen Beiträge eröffnet Kirill Maksimovič mit einem Aufsatz zum Thema „Byzantinische Rechtsbücher und ihre Bedeutung für die Rechtsgeschichte Osteuropas“ (1), in dem er auf die bedeutende Rezeptionsgeschichte des römisch-byzantinischen Rechts in Osteuropa hinweist. Wenn der Verfasser seinen Untersuchungsgegenstand als „Rezeption des römischen Rechts in Osteuropa“ beschreibt, zeigt sich ein Vorverständnis, nach dem ein neuzeitliche Rezeptionslinie des römischen Rechts offenbar von vornherein ausgeschlossen wird. Es handelt sich um einen öfters vertretenen Standpunkt, den man allerdings selbst für die slavisch-orthodoxen Länder aus guten Gründen bezweifeln kann.[3] Richtigerweise weist der Verfasser darauf hin, dass die Rechtsgeschichte Osteuropas in westlichen Darstellungen meistens kaum berücksichtigt wird.[4] Soweit Maksimovič dies im Falle von Savignys Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter bemängelt, wäre allerdings zu bedenken gewesen, dass Savigny die Entwicklung des nachjustinianisch-byzantinischen Rechts aufgrund seines spezifischen Interesses an der Wirkungsgeschichte des römischen Rechts im lateinischen Europa zurückgestellt hat. Die Feststellung des Verfassers, dass Modernisierung in Osteuropa nicht zwangsläufig mit Orientierung am Westen einhergeht, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die es aber gleichwohl wert ist, zur Vermeidung vereinfachender Sichtweisen gelegentlich in Erinnerung gerufen zu werden. Wenn der Verfasser am Schluss bedauert, dass sich Westeuropa, „aus welchen Gründen auch immer“, von der „Kulturschatzkammer“ des Oströmischen Reichs jahrhundertelang ferngehalten habe (32), dann muss dieser Vorstellung jedenfalls die Wirkungsgeschichte der Novellen entgegengehalten werden. Soweit die Beobachtungen des Verfassers im Übrigen zutreffen, liegen die Gründe indessen recht klar zutage: Rechtsgeschichtliche Forschung orientiert sich nun einmal, bestärkt durch die Tradition des 19. Jahrhunderts, überwiegend an der Geschichte des eigenen Rechts. Und diese führt in Westeuropa in der Hauptsache nicht über das nachjustinianische Byzanz. Mircea-Dan Bocşan gibt in seinem eher programmatischen Beitrag „L'œuvre de codification – enjeu de la modernisation du droit romain“ (33) einen Überblick über die Geschichte der Kodifikationen in Rumänien. Bemerkenswert und weiterführend ist hier besonders die Zusammenstellung rumänischer Literatur zur Rechtsgeschichte.
Die Betrachtungen Dalibor Čepulos zur kroatischen Rechtsentwicklung erfolgen unter besonderer Berücksichtigung der geographisch-politischen Verhältnisse des Landes. In seinem Aufsatz „Building of the modern legal system in Croatia 1848-1918 in the centre-periphery perspective“ (47) stellt der Verfasser Zusammenhänge zwischen der historischen „Randlage“ Kroatiens und der Rechtsentwicklung des Landes her. Diese war für längere Zeit dadurch gekennzeichnet, dass Kroatien in dem hauptsächlich behandelten Zeitraum zwar dem ungarischen Teil der Donaumonarchie angehörte und seine Rechtsordnung daher insbesondere unter dem Einfluss Ungarns stand. Gleichzeitig verlief allerdings bis 1882 ein maßgeblicher Teil der sog. Militärgrenze (kroat.: Vojna Krajina) der Donaumonarchie gegenüber dem Osmanischen Reich durch das Land. Nun bedeutet „krajina“ aber nicht Grenze, sondern „Randgebiet“. In der Zentrum-Peripherie-Perspektive wird daher weniger die geographisch bedingte Berührung mit dem Fremden betrachtet als vielmehr das Provinzielle.
Eine kurze Darstellung der Entwicklung in Montenegro liefert Biljana Djuricin in ihrer Abhandlung „Recht und Rechtsdenken in Montenegro bis zum ersten Weltkrieg“ (93). Beginnend mit der Emanzipation des Landes vom Osmanischen Reich im 18. Jahrhundert schildert die Verfasserin verschiedene aufeinander folgende historische Gesetzbücher und nennt einzelne bemerkenswerte Regelungen. Es handelt sich allerdings um eine eher kursorische Darstellung, die insbesondere die Frage nach einem Rechtstransfer auch dort nicht vertieft, wo eine Auseinandersetzung nahegelegen hätte. So verhält es sich etwa, wenn sich die Verfasserin zu Bogišić' Allgemeinem Vermögensgesetzbuch von 1888 äußert und dort „Erläuterungen bestimmter dogmatischer Konstruktionen (!), wie bona fides, dolus, casus, error, vis, metus, culpa lata und levis“ nennt (104).
Konkreter sind die Ausführungen Katalin Gönczis. In ihrem Beitrag „Das juristische Vermächtnis des 19. Jahrhunderts in Ungarn und seine Umgestaltung im europäischen Kontext“ (109) beschreibt sie die Einflüsse, denen das ungarische Recht in dem behandelten Zeitraum ausgesetzt war. Die Verfasserin geht u. a. auf die Ausbildung von Juristen in westlichen Ländern ein, was zu einer Förderung der Rezeption des jeweils Erlernten in Ungarn beitrug. Interessant ist auch der Hinweis auf die Anknüpfung von 1861 an das auf Werbőczy zurückgehende Gewohnheitsrecht. Im Schrifttum ist dieser Vorgang teilweise als Beginn der historischen Schule in Ungarn betrachtet worden. Dass, wie die Verfasserin einwendet, die bislang untersuchten Quellen gerade keine Orientierung an Savignys Standpunkt in der Kodifikationsdebatte zeigen (122), spricht nicht dagegen. Die historische Rechtsschule lässt sich nicht auf eine bestimmte Einstellung zur Kodifikationsfrage reduzieren. Insgesamt belässt es die Verfasserin jedoch bei einer Übersicht: So teilt sie mit, seit 1867 sei eine Reihe von Gesetzen „unter Einbeziehung der europäischen Modelle“ (125) verabschiedet worden. Auf diese Weise erfährt man einiges über „Einflüsse“, ohne dass allerdings zur Profilierung des Transferbegriffs viel beigetragen würde.
Der Beitrag Mariana Karagjozova-Finkovas und Christian Takoffs setzt sich etwas intensiver mit dem Rahmenthema auseinander. Unter dem Titel „The Bulgarian legal system from 1878 until World War I“ (129) erörtern die Autoren immerhin Rezeptionsmodelle (137), und zwar mit Rücksicht auf verschiedene Einflüsse ausländischer Rechte auf das bulgarische Recht. Die Verfasser schildern, wie das Privatrecht des zur staatlichen Selbständigkeit gelangten Bulgarien nicht nur das zuvor herrschende osmanische Recht zurückgedrängt habe, sondern auch das örtliche Gewohnheitsrecht. Man entschied sich für die Orientierung am Westen und stellte sich insbesondere in die Tradition des französischen Rechts, wie es indirekt durch Codice Civile und Codigo Civil vermittelt worden war.
Svetlana Krjukovas Aufsatz „Zwischen Archaik und Moderne – Strategie und Taktik des russischen Absolutismus im 19. Jahrhundert“ (145) geht mit Rücksicht auf die Rechtsentwicklung in Russland vom oft bemühten Rückständigkeitsparadigma aus. Unter dieser Voraussetzung setzt sich die Verfasserin mit dem Kodifikationsbegriff auseinander, ohne allerdings letztlich zu klären, von welchem Verständnis sie selbst ausgeht. Dies zeigt sich z. B., wenn sie mitteilt, das strafrechtliche Uloženie von 1845 werde bald als Kodex, bald als Inkorporation und bald schließlich als Beispiel für die Verwendung der Kodifikationsmethode angesehen (147). Das Folgende bleibt kursorisch und wegen einer nicht immer klar konzipierten Begrifflichkeit schwer zu verstehen. So meint die Verfasserin z. B. mit Rücksicht auf das Recht der Bauern, die Vielfalt der Sprachen und Kulturen innerhalb Russlands habe sich unter anderem in der Auslegung juristischer Begriffe (!) geäußert (155). Ein Begriff ist aber nicht der Gegenstand, sondern allenfalls das Ziel der Auslegung. Im Übrigen war die „Vermischung“ der Begriffe von Eigentum, Besitz und „Nutzung“ (gemeint ist offenbar Nießbrauch) kein spezifisches Merkmal der bäuerlichen Rechtsvorstellungen (155), sondern prägte auch das Privatrecht des Svod Zakonov.[5] Sprachlich verunglückt wirkt die Behauptung, ein „überwiegend mündlicher Charakter von Vertragsbeziehungen“ habe das bäuerliche „Rechtsbewußtsein“ gekennzeichnet (156). Vollkommen verkürzt werden die Zusammenhänge, wenn die Verfasserin behauptet, die Reformen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts orientierten sich, „der savignyschen Losung des Volksgeistes folgend, an den traditionellen Sitten“. Diese Vorstellung lässt nicht nur die verschiedenen, miteinander ringenden Reformkräfte außer Betracht, sie übersieht auch, dass Savignys Volksgeist nicht im empirischen Volk wirkt. Leider wird die einschlägige Literatur nur teilweise ausgewertet.
Vergleichsweise differenzierter stellt Marju Luts in ihrem Beitrag „Modernisierung und deren Hemmnisse in den Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland im 19. Jahrhundert“ (159) die Rechtsentwicklung in den baltischen Provinzen des Zarenreiches dar, beginnend mit der Eingliederung Livlands, Estlands und Kurlands in das Zarenreich im Wege der sog. Kapitulationen (1710 und 1795), in denen Garantien für die Bewahrung ihres jeweiligen Rechts enthalten waren. Für das Gebiet des Rechts fand dieser relative Schutz der Eigenständigkeit Ausdruck in der Sonderstellung der Universität von Dorpat, die als einzige Universität im Zarenreich über eine selbständige juristische Fakultät verfügte. Die Verfasserin verfolgt die anschließende Entwicklung des baltischen Partikularrechts im Zarenreich und erörtert besonders die Folgen der Russifizierung am Ende des 19. Jahrhunderts für Recht und Rechtsstudium.[6]
Unter dem Titel „Constitutional and legal history of Serbia 1804-1914“ (201) bietet Srđan Šarkić eine Übersicht über die historische Entwicklung des serbischen Rechts. Die Darstellung beginnt mit den Anfängen der serbischen Siedlungsgeschichte auf dem Balkan im 7. Jahrhundert. Der Verfasser beschreibt den Übergang vom Gewohnheitsrecht der ersten Jahrhunderte zum römisch-byzantinisch geprägten Recht seit Beginn des 13. Jahrhunderts. Einen Einschnitt brachte der Beginn der türkischen Herrschaft 1459. Serbisches Recht wurde außer Kraft gesetzt; der Verfasser lässt die Zeit bis zu den Freiheitskämpfen des 19. Jahrhunderts auch beiseite, konzentriert sich also nicht auf das jeweils in Serbien geltende Recht, sondern auf die Entwicklung des spezifisch serbischen Rechts. Die Freiheitskämpfe des 19. Jahrhunderts ermöglichten dem Land wieder eine teilweise eigenständige Rechtsentwicklung. Der Verfasser geht kurz auf die Schaffung des serbischen Zivilgesetzbuchs von 1844 ein und beschreibt den Einfluss, den insbesondere das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ausübte. Die Frage, was sich hier für die Profilierung des Transferbegriffs gewinnen lässt, wird aber nicht weiter verfolgt. Petra Skřeipková behandelt in ihrem Beitrag „Neuere Rechtsentwicklungen in der Geschichte der böhmischen Länder“ die Entwicklung des Rechts auf dem Gebiet Böhmens bis zum Recht der Tschechoslowakei (223), und zwar hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Geschichte von Kodifikation und Rechtsvereinheitlichung. Kürzere Abschnitte behandeln die Systematik der jeweils geltenden Zivilgesetzbücher sowie die Entwicklung einzelner Rechtsinstitute. Ein knapp gefasster Beitrag von Michael Tsapogas behandelt das Thema „Das griechische Privat- und Staatsrecht im langen 19. Jahrhundert“ (243).
Wojciech Witkowski und Andrzej Wrzyszcz widmen sich der „Modernisierung des Rechts auf polnischem Boden vom 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts“ (249). Mit der geographischen Eingrenzung nehmen die Autoren in angemessener Weise darauf Bezug, dass es in dem beschriebenen Zeitraum überwiegend an einer Eigenstaatlichkeit Polens fehlte und auch die Rechtsordnung eine Mischung aus verschiedenen Ordnungen war: Französisch-polnisches Recht galt in Zentralpolen, deutsches und preußisches Recht in Westpolen, österreichisches und galizisches Recht in Südpolen, russisches Recht in Ostpolen und im Wilnagebiet, ungarisches Recht schließlich in Zips und Arwa an der Grenze zur Slowakei.[7] Polen ist ein Beispiel dafür, dass die Fremdherrschaft das Recht nicht nur mit neuen Einflüssen versah, sondern seiner Modernisierung gleichzeitig Hindernisse bereitete; wichtige Entwicklungsschritte erfolgten erst im politisch selbständigen Polen nach dem ersten Weltkrieg, nämlich in bedeutendem Maße auf Grundlage der Rechtsvergleichung, die in der Zwischenkriegszeit in Polen eine Blütezeit erlebte.
Den Abschluss des Bandes bildet, wie erwähnt, eine ausführliche Auseinandersetzung Tomasz Giaros mit dem Rahmenthema. Unter dem Titel „Modernisierung durch Transfer – Schwund osteuropäischer Rechtstraditionen“ (275) widmet sich der Bandherausgeber dem Problem der Vermittlung von Rechtseinrichtungen und der Erfassung von Rechtsentwicklungen in bestimmten Traditionen. Der Verfasser richtet wichtige Fragen an die Kategorien von Rückständigkeit und Modernisierung sowie den scheinbaren Gegensatz von östlicher Kultur und westlichem Einfluss. Einer der Hauptgedanken, den er verfolgt, ist die Kritik am Denken in Traditionen. Man wird dem Verfasser darin zustimmen können, dass hier die Gefahr rückwärtsgewandter Konzepte in der Rechtsdogmatik und schablonenhaften Denkens in der rechtsgeschichtlichen Forschung lauert. Die in gewohnter Schärfe vorgetragene Kritik berücksichtigt aber vielleicht nicht genug, dass wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge nur erforscht werden können, wenn sie begrifflich zu fassen sind. Insoweit bildet aber die Vorstellung von Traditionen ein brauchbares Instrument. Sie führt auch keineswegs zwangsläufig dazu, in „klassifikatorische Starre“ (279) zu verfallen. Man muss sie wohl nur gelegentlich neu konzipieren und dabei mitunter auf allzu klare Trennschärfe verzichten. Mancher Staat, dessen Rechtssystem bestimmte Eigenarten etabliert, wirkt traditionsbildend und kann andere Länder unter den Einfluss dieser Tradition bringen. Man sollte dieselbe dann auch beim Namen nennen. Außerdem muss die Besinnung auf bestimmte Traditionen keineswegs unreflektiert erfolgen. Selbst für ein Festhalten an dem vom Verfasser genannten Abstraktionsprinzip (280) kann man immerhin gute Gründe anführen.
Wenn, wie der Verfasser feststellt, die Profilierung einer „Western legal tradition“ durch das Blockdenken im Kontext des Kalten Krieges gefördert wurde, dann ist das sicherlich auch ideologischen Einflüssen geschuldet. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass es darum ging, freiheitliche Rechtssysteme gegenüber totalitären zu behaupten. Für den Juristen ist das keine Nebensächlichkeit. Im Übrigen ist die Vereinfachung auch auf der anderen Seite festzustellen: Man braucht nur an die Ablehnung der Tradition des römischen Rechts in der frühen Sowjetunion zu denken, mit der das bürgerliche Recht westlicher Prägung insgesamt gemeint war.[8] Von einer Voreingenommenheit, wie sie Giaro hinter der Betonung einer Western legal tradition vermutet, ist er im Übrigen selbst offenbar auch nicht in jeder Hinsicht frei. So ist die Beobachtung richtig, dass die in der westeuropäischen Forschung betriebene Auseinandersetzung mit der jüngeren Rechtsgeschichte Ostmittel- und Osteuropas erst langsam an Fahrt gewinnt. Aus diesem Befund, dessen Hauptgrund längst nicht mehr im Blockdenken, sondern schlicht in der Sprachbarriere liegen dürfte, eine Marginalisierung Ostmittel- und Osteuropas abzuleiten, hieße aber, die westliche Perspektive einzunehmen. Gerade der Verfasser, der sich auf dem hier behandelten Forschungsgebiet schon vielfältige Verdienste erworben hat, muss sich auf diese eingeschränkte Sichtweise nicht einlassen. Keinesfalls hängt aber davon die Bedeutung der intensiven und traditionsreichen rechtshistorischen Forschung ab, wie sie etwa in Polen betrieben wird.
Leider ist der Standpunkt des Verfassers auch sonst nicht ganz frei von bestimmten gröberen Kategorien. Dies gilt etwa für die unkritische Voraussetzung der sog. „Rechtskreislehre“: Finnland z. B. zum „nordischen Rechtskreis“ zu zählen (282), ist nicht weniger problematisch als anderweitig seine Einbeziehung in den mit „Skandinavien“ beschriebenen Begriff. Wenn der Verfasser also im Umgang mit den Rechtsordnungen Ostmittel- und Osteuropas eine differenziertere Sichtweise fordert, wird man ihm zustimmen können; er selbst muss sich aber an seinen eigenen Maßstäben messen lassen. Eindrucksvoll beschreibt Giaro das Eindringen des in Westeuropa fortentwickelten römischen Rechts in viele Länder des Ostens im 19. Jahrhundert. Während die mehr oder weniger an der lateinischen Kultur orientierten Länder, wie etwa Polen, an eigene Entwicklungen anknüpfen konnten, wurde in traditionell eher byzantinisch geprägten Gebieten des Südens eine „Schockwirkung“ ausgelöst. Die Verwerfungen waren besonders bemerkenswert, wo der Transfer durch die Obrigkeit ohne Rücksicht auf die Bevölkerung oktroyiert wurde. Hier wird deutlich, dass der Verfasser bestimmte Entwicklungstendenzen wesentlich differenzierter als die einzelnen Ländern gewidmeten Beiträge des Bandes benennen kann.
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die Initiative des Herausgebers, die Beiträge aus den verschiedenen Ländern überhaupt zusammenzutragen, Respekt verdient. Der rechtshistorische Erkenntnisgewinn ist unterschiedlich bedeutend. Man erfährt manches Interessante, insbesondere über die Rechtsentwicklung in solchen Ländern, denen die rechtshistorische Forschung Westeuropas bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. Aber auch soweit die Beiträge im Wesentlichen Bekanntes referieren oder eher programmatischen Charakter haben, liefern sie nicht selten Denkanstöße oder Hinweise auf weiterführende Literatur. Der weiteren Auswertung der Erträge mit Rücksicht auf die leitende Fragestellung des Forschungsprojekts darf man mit großem Interesse entgegensehen.
Köln Martin Avenarius
[1] Inzwischen ist ein zweiter Band erschienen: T. Giaro (Hrsg.), Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen (2007).
[2] Grundlegend A. Watson, Legal
transplants. An Approach to Comparative Law (1974).
[3] Vgl. M. Avenarius, Rezeption des römischen Rechts in Rußland (2004), S. 9-14.
[4] Günstig dürfte sich in dieser Hinsicht das Erscheinen von H. Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas (2005) auswirken.
[5] Vgl. M. Avenarius, Rezeption des römischen Rechts in Rußland, S. 28-30.
[6] Wertvolle Anregungen, auch zu historischen Rezeptionszusammenhängen, enthält jetzt der Sammelband von H. Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum (2006).
[7] Vgl. nun W. Rozwadowski, Das Studium und der Einfluss des römischen Rechts in Polen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Sachenrechts, in: W. Dajczak/H.-G. Knothe (Hrsg.): Deutsches Sachenrecht in polnischer Gerichtspraxis. Das BGB-Sachenrecht in der polnischen höchstrichterlichen Rechtsprechung in den Jahren 1920-1939: Tradition und europäische Perspektive (2005), S. 31-50 (34).
[8] Vgl. M. Avenarius, Rezeption des römischen Rechts in Rußland, S. 9-12.