Mayenburg, David von, Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hans von Hentig (1887-1974) (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 1). Nomos, Baden-Baden 2006. 492 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.

 

David von Mayenburgs Bonner Dissertationsschrift eröffnet als Band 1 die „Rheinischen Schriften zur Rechtsgeschichte“ im Nomos Verlag. Die Herausgeber Martin Avenarius, Hans-Peter Haferkamp und Mathias Schmoeckel haben mit v. Mayenburgs Arbeit eine hervorragende Wahl für den Eröffnungsband getroffen.

 

v. Mayenburg schreibt Wissenschaftsgeschichte im Spiegel des Lebenswerks des 1936 nach Amerika emigrierten vormaligen Kieler und Bonner Professors für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminalwissenschaft Hans von Hentig. Dabei geht v. Mayenburg nach dem klassischen Muster der bioi paralleloi vor – nur ist einer der beiden Helden keine Person, sondern eine Spezialwissenschaft: die Kriminologie als juristische Disziplin einerseits und Hans von Hentig als ihr juristischer Motor und ihr Sprachrohr andererseits sind die Protagonisten, deren ineinander verschlungene Lebensläufe bis in das Jahr der Emigration des einen aufgelöst und mit sicherem Gespür sowohl für die Details als auch für die Hauptlinien geschildert werden. Dieses Programm führt logisch dazu, dass derjenige, der einen eindimensionalen, aus einem Guss geschriebenen Lebenslauf von Hentigs sucht, ihn bei von Mayenburg nicht finden wird. Der Vorteil dieser Darstellungsweise liegt auf der Hand – Redundanzen würden sofort auffallen und fehlen dementsprechend. Außerdem fällt die Orientierung innerhalb des Buches sehr leicht. Zahlreiche Rückkopplungen und häufige Zwischenergebnisse ermöglichen auch eine abschnittsweise Lektüre, die immer mit einem Ergebnis belohnt wird. Von Mayenburg zeigt aber neben der Wahl seiner Darstellungsmethode noch eine weitere Qualität als Schriftsteller. Er hält über den gesamten Text eine wohltuende Distanz zu seinen beiden Helden ein, analysiert biografische Brüche ebenso wie argumentative und inhaltliche Schwächen in den Arbeiten von Hentigs und kritisiert das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts junge Fach Kriminologie wegen seines einseitigen kriminalbiologischen Ausgangspunktes.

 

Nach einer gründlichen Einführung in die Grundlagenprobleme der von Juristen betriebenen Kriminologie (bekanntlich keineswegs eine Selbstverständlichkeit) beschreibt der Autor in sieben Kapiteln die Kriminologie als soziale Defensive (in von Hentigs Jugendjahren), als soziale Offensive (während von Hentigs Studium, gescheitertem juristischem Examen und „Verlegenheitsdissertation“), als patriotische Pflicht (in von Hentigs Rolle im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution), als Menschenversuch (während der bewegten politischen Tätigkeiten bis 1926), im Zeitalter ihrer methodischen Pluralisierung (als von Hentig Mitherausgeber der einflussreichen Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform – MKS – war und sich in Gießen habilitierte) und als strafrechtliche Hilfswissenschaft (während der Ordinariate von Hentigs  in Kiel und Bonn). Ein letzter (in das siebte Kapitel eingeschalteter Abschnitt) behandelt die Frage, ob von Hentig als maßgeblich von der psychiatrischen Kriminalbiologie der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beeinflusster Jurist eine Wende hin zu einer rassistischen Kriminologie vollzogen hat.

 

Das alles ist leicht und flüssig geschrieben, immer auf der Höhe der zeitgenössischen und der modernen Sekundärliteratur. Besonders hervorgehoben zu werden verdient es, dass auch von Mayenburg klar und deutlich herausarbeitet, dass die Initiative zur Etablierung eines neuen strafrechtlichen Nebenfaches, der nach Franz von Liszt in Kriminalbiologie und Kriminalsoziologie teilbaren Kriminologie, von der psychiatrischen Wissenschaft des späten 19. Jahrhunderts ausgegangen ist. Ohne Emil Kraepelin, den Übervater der deutschen Psychiatrie, und Gustav Aschaffenburg, seinen Schüler und forensisch interessierten Multiplikator wäre weder der Schulenstreit in der Strafrechtswissenschaft denkbar gewesen noch hätte sich die Kriminologie als Fach herausbilden können. Von Mayenburg vermeidet zwar diese vereinfachende Zusammenfassung und stellt (S. 126-145) die Zusammenhänge detaillierter dar. Bei genauerem Hinsehen lässt aber auch er keinen Zweifel daran, dass die Rechtswissenschaft die Terminologie vom Verbrechen als individueller bzw. als sozialer Krankheit nicht erfunden, sondern von der jungen forensischen Psychiatrie übernommen hat. Gleiches trifft für den Determinismusstreit zu. Bezeichnenderweis gilt das auch für die Lehrmethode, für die Hans von Hentig in Gießen und Kiel besonders bekannt geworden ist – die Präsentation von Strafgefangenen in der in die Strafanstalt verlegten juristischen Vorlesung (S. 361f.). Neu war diese „klinische Methode“ nur innerhalb der grundständigen Juristenausbildung. Kriminalpsychologen wie Kraepelin haben bereits knapp 50 Jahre vor von Hentig am praktischen Einzelfall orientierte kriminalpsychologische Vorlesungen (für Mediziner und Juristen) abgehalten, in ihnen zahlreiche Kranke präsentiert und mit den Hörern die Anfertigung von Gutachten geübt.[1]

 

Von Mayenburg gelingt es in den einzelnen Kapiteln immer wieder nachzuweisen, inwieweit von Hentig von diesen (und anderen) wesentlichen Streitständen beeinflusst worden ist bzw. sie selbst beeinflusst hat. Die letztlich darwinistische Grundbeeinflussung (auch durch Cesare Lombroso) zeigt sich schon in von Hentigs Frühwerk „Vom Wesen der Moral“ (1910). Überraschenderweise war das in der Person von Hentigs kombinierbar sowohl mit einem beherzten Konservativismus, ja einem frauenfeindlichen Chauvinismus einerseits, andererseits auch mit einem radikalen Nationalbolschewismus, der von Hentig in den beginnenden 20-er Jahren sogar vor Gericht brachte. Von Mayenburg macht es sich mit diesen schillernden Opportunismus bzw. von Hentigs „doppelter Moral“ (wie schon ein Zeitgenosse konstatierte) keineswegs leicht. Gründlich geht er den einzelnen Motivationen und Erscheinungen nach und ist durchgängig mit einer nachvollziehbaren Erklärung erfolgreich, ohne sich in Spekulationen zu verlieren. Das betrifft auch das augenfällige Faktum, dass von Hentigs Kriminalbiologie klar rassistische Versatzstücke aufwies, eindeutig antisemitische Theorien aber ablehnte (vgl. insbes. S. 329-344).

 

In einer Gesamtschau ist noch darauf hinzuweisen, dass von Mayenburgs Schrift im Vergleich mit anderen rezenten Veröffentlichungen die Vorzüge der rechtshistorischen gegenüber der allgemeinhistorischen Arbeitsweise für den Juristen deutlich hervortreten lässt. Sowohl von Hentigs Beiträge als auch die der Kriminologie zur Strafrechtswissenschaft werden sicher in den juristischen Kontext (in diesem Fall vor allem Kompetenz- und Schulenstreit sowie Strafrechtsreform) eingeordnet. Das gelingt Historikern, soweit ihnen die juristische Ausbildung fehlt, nicht immer so gut.

 

Die Literatur ist umfassend ausgewertet – es verbleiben keine Desiderate. Dass der Autor eine Vielzahl archivalischer Quellen erhoben und ausgewertet hat, bedarf keiner weiteren Hervorhebung. So werden die Passagen über von Hentigs großbürgerlich-aristokratische Herkunft, sein Offiziersdienst im Ersten Weltkrieg, seine Betätigungen als Umstürzler in Sachsen und Thüringen, seine Rolle als Herausgeber der MKS und seine Habilitation in Gießen zu plastischen, stets konkreten historischen Schilderungen, die aber zugleich immer im Dienste der Kriminologiegeschichte stehen. Die üblichen Literaturverzeichnisse, ein biografisches Verzeichnis sowie Personen- und Sachregister runden das vollständig gelungene Werk ab.

 

Wer also meisterlich geschriebene Kriminologiegeschichte lesen will, der darf David von Mayenburgs Buch nicht verpassen. Mehr davon!

 

Leipzig                                                                                   Adrian Schmidt-Recla



[1] S. dazu Steinberg, Holger, Kraepelin in Leipzig. Eine Begegnung von Psychiatrie und Psychologie, Bonn 2001, S. 169 f.