Litzinger, Heike Kathrin, Juristen und die Bauernfrage. Die Diskussion um das
bäuerliche Grundeigentum in Russland von 1880 bis 1914 (= Studien zur
europäischen Rechtsgeschichte 221). Klostermann, Frankfurt am Main 2007. XII,
317 S. Besprochen von Herbert Küpper.
Russlands Recht ist anders. Diesem Phänomen wird seit fast
zwei Jahrzehnten eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der westlichen
Rechtswissenschaft zuteil. Hierin spiegeln sich wohl enttäuschte Erwartungen
wider, weil viele im Westen ebenso unhistorisch wie unreflektiert überheblich
davon ausgingen, dass sich das in Trümmern liegende sowjetische Recht in eine
Rechtsordnung westlichen Stils verwandeln werde.
Diese Erwartung hat sich jedoch – man ist versucht zu sagen:
programmgemäß – nicht erfüllt, denn Russland hat eine eigenständige
Rechtsordnung entwickelt, die sich deutlich von den Rechtsordnungen Westeuropas
und Nordamerikas unterscheidet. Dies betrifft nicht so sehr die geschriebenen
Gesetze, denn diese verbleiben mehr oder weniger im Rahmen des im
romanisch-germanischen Rechtskreis Gewohnten. Anders sind vor allem die
„weichen“ Faktoren des Rechts, die Rechtskultur, die Funktion und Durchsetzung
von Rechtsnormen und das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Diese
rechtskulturellen Faktoren haben einen langen Atem und sind im Falle Russlands
in einer Kontinuität vom Zarenreich über den Sozialismus bis hin zum heutigen
Recht nachweisbar. Wer also das Anderssein des russischen Rechts verstehen
möchte, muss sich auch mit seiner Geschichte – und zwar möglichst jenseits
einer bloßen Dogmen- und Rezeptionsgeschichte – beschäftigen.
Eine gute Gelegenheit hierzu bietet der vorliegende Band
Heike Kathrin Litzingers,
der eine für das russische Gerechtigkeitsverständnis überaus wichtige Frage
behandelt: die des Eigentums an landwirtschaftlichem Boden. Die private,
kollektive oder staatliche Verfügungsgewalt über das Ackerland ist ein Komplex,
in dem sich russische Gerechtigkeits- und Rechtsanschauungen deutlich von der
liberalen Konzeption eines Privateigentums, das unterschiedslos an (fast) allen
Wirtschaftsgütern bestehen kann, unterscheiden. Eine vertiefte Untersuchung der
Geschichte dieses Rechtsbereichs verspricht daher Erkenntnisse über die
russische Rechtskultur, die über den Gegenstand der Betrachtung hinausweisen.
Eine derartige vertiefte Analyse leistet Litzinger mit
ihrer Untersuchung der juristischen Diskussionen zur Bauernfrage in der
Umbruchszeit von 1880 bis 1914. Nach einer Einführung in das Thema berichtet
sie zunächst über die beiden Gruppen, um die es geht: die Juristen und die
Bauern. Sie gibt einen Überblick über die Entstehung und die
Professionalisierung des russischen Juristenstands, der wissenschaftlichen
Infrastruktur und des Selbstverständnisses der Juristen gegenüber dem Staat. Es
folgt ein Abriss der Sozial- und Rechtsgeschichte des russischen Bauernstands
ab der unvollständigen Bauernbefreiung von 1861 und der staatlichen Politik
gegenüber diesem Problem.
Es folgen fünf Kapitel, die jeweils um ein bestimmtes
Rechtsinstitut oder um eine bestimmte Rechtsfrage kreisen. Ihre Reihenfolge
schließt sich der historischen Entwicklung an und verläuft inhaltlich in etwa
vom Allgemeinen zum Besonderen. In jedem Kapitel wählt die Autorin einige
wenige zentrale zeitgenössische Werke aus und stellt sie und ihre Autoren näher
vor. Der übrige Diskussionsstand und die übrigen juristischen Teilnehmer an der
damaligen Debatte werden demgegenüber nur verkürzt dargestellt. Durch die
Konzentration auf vergleichsweise wenige, dafür besonders wichtige oder
aussagekräftige Texte gelingt es der Autorin im Wesentlichen, die verwirrende
Vielfalt einer über Jahrzehnte hinweg mit viel Engagement,
rechtswissenschaftlichem Eifer und politischer Überzeugung geführten Debatte so
zu reduzieren, dass ein juristisch vorgebildeter Leser ohne Spezialkenntnisse
zu Russland und seiner Rechtsgeschichte die Argumente und ihre Bedeutung
nachvollziehen kann.
Das erste Sachkapitel hat das Rechtsinstitut des Eigentums
zum Inhalt. Es beginnt mit Dmitrij Ivanovič Mejer und seinem
Lehrbuch, das die russische Zivilrechtslehre erstmals zur Zivilrechtswissenschaft
erhob, indem es römisch-rechtliche Begrifflichkeiten und Denkschemata wie etwa
die Unterscheidung von Besitz und Eigentum einführte. Das zweite zentrale Werk
ist das von Konstantin Petrovič Pobedonoscev, der als Praktiker
nicht die dogmatischen Höhen erreichte wie der zuvor genannte Mejer, dem
aber das Verdienst zukommt, das vorhandene russische Rechtsmaterial
zusammenzuführen. Wie es der Mejerschen Dogmatik am Kontakt mit dem geltenden
russischen Recht fehlte, so fehlte es der Pobedonoscevschen Darstellung des
geltenden Rechts an dogmatischer Vertiefung, weshalb Pobedonoscev z. B.
die im geltenden russischen Recht nicht angelegte Unterscheidung zwischen
Besitz und Eigentum auch gedanklich nicht gelingt. Eine Synthese aus dem
russischen Gesetz und (importierter) Dogmatik schaffen erst spätere
Juristengenerationen und hier besonders Gabriel’ Feliksovič
Šeršenevič, der sich den Fragen des Grundeigentums nicht nur von ihrer
rechtstheoretischen Seite näherte, sondern zugleich auch für eine gerechte Verteilung
des Ackerlands an die Bauern kämpfte. Der gleichaltrige Aleksej
Michajlovič Guljaev hingegen verbleibt in der „slawophilen“ Tradition,
lehnt eine auf römisch-rechtlichen Begrifflichkeiten aufgebaute Dogmatik ab und
betont das eigenständig Russische, wiederum um den Preis, dass ihm eine
analytische Durchdringung des widersprüchlichen vorwissenschaftlichen
russischen Rechtsstoffs nicht gelingt.
Das zweite Sachkapitel ist den Versuchen gewidmet, die
Umverteilungsgemeinde obščina, ihre Rechtsnatur und ihr rechtliches
Verhältnis zu dem Land, den sie den ihr angehörigen Bauernhaushalten zuteilt,
zu erfassen. Analysiert werden die Schriften der in dem vorhergehenden Kapitel
behandelten Autoren, wobei Mejer, der sein Hauptwerk vor der
Bauernbefreiung geschrieben hat, sehr kurz abgehandelt werden kann. Ansonsten
zeigen sich auch hier wieder die Unterschiede zwischen denen, die mit
römisch-rechtlichen Kategorien an das Problem herangingen und folglich in der
obščina eine juristische Person und in ihrem Verhältnis zum Land
Grundeigentum eben dieser juristischen Person sahen, und denen, die die
Eigenständigkeit des russischen Rechtsinstitut obščina betonten, daher
keine dogmatischen Kategorien zur Erfassung der obščina entwickelten, aber
ihre inneren Verhältnisse wesentlich präziser beschreiben und sozialpolitisch
erfassen konnten.
Das folgende Kapitel über den Streit um die obščina vor
1905 erweitert das Spektrum der betrachteten Rechtswissenschaftler. Es beginnt
mit Konstantin Dmitrievič Kavelin, der zwar grundsätzlich liberale
Einstellungen vertrat, im Hinblick auf die Bauern und ihr Feldkollektiv aber
staatlichen Schutz forderte, weil er es für eine dem freien Markt überlegene
und auf funktionierende Traditionen gestützte Institution hielt. Allerdings
argumentierte er ebenso in Unkenntnis der Tatsachen des russischen Dorflebens
wie zahlreiche seiner Zeitgenossen. Es folgt ein Einblick in die recht lebhafte
Diskussion nach der Jahrhundertwende, nachdem eine Hungersnot das Dorf wieder
in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hatte. Litzinger zeichnet die
Debatten um die Bauern als rechtlich reglementierter Stand, die
obščina-Verfassung einschließlich der Aufsicht durch die Landeshauptleute
und die Hof- und Landfrage anhand wichtiger zeitgenössischer Beiträge nach.
Im sechsten Kapitel werden die staatlichen Reformprojekte,
die als Reaktion auf die im vorigen Kapitel behandelten Missstände begonnen
wurden, dargestellt. Der Schwerpunkt liegt hierbei weniger auf den staatlichen
Maßnahmen selbst, sondern vielmehr auf den begleitenden
rechtswissenschaftlichen Debatten, aus der eine Vielzahl von Autoren zitiert
wird. Hierbei wird auch für den heutigen Leser schnell deutlich, dass
unabhängig von dem konkreten Gegenstand der Diskussion – sei es die
Dorfverfassung, die Rechtslage der obščina, die Hofverfassung, die Geltung
und der Inhalt des lokalen bäuerlichen Gewohnheitsrechts oder die Erstreckung
des allgemeinen Zivilrechts auf die Bauern – der Hauptmissstand in dem
ständischen Sonderrecht für die Bauern mit seinen aus der Zeit der
Leibeigenschaft stammenden Restriktionen und die Therapie in der Aufhebung der
ständischen Besonderheiten der Bauern und ihre Unterstellung unter das für die
übrigen Reichsbewohner geltende Recht lag.
Das letzte große Sachkapitel ist der rechtswissenschaftlichen
Rezeption der Stolypinschen Reformen von 1906 gewidmet. Anhand der
Stellungnahmen von fünf bereits in früheren Kapiteln vorgestellten Autoren wird
die juristische Diskussion von Vertretern liberaler bis regierungsnaher Denk-
und Politikrichtungen aufgerollt. Gemeinsam ist allen, dass sie die innere
Widersprüchlichkeit und das geringe handwerkliche Niveau der Normtexte
kritisieren; die rechtspolitische Kritik hingegen – die sich vereinfacht auf
den Gegensatz von Einzeleigentum und Kollektiveigentum (obščina)
reduzieren lässt – ist entsprechend dem zitierten politischen Spektrum
ausdifferenzierter.
Das abschließende Fazit der Autorin schlägt den Bogen von der
Einordnung der juristischen Autoren, Lehrmeinungen und Strömungen in die
allgemeinen kulturellen Tendenzen ihrer Zeit (v. a. in den Gegensatz von
Westlern und Slawophilen) bis hin zur heutigen rechtspolitischen Diskussion
über das Bodeneigentum in Russland. Letzteres liegt nahe, weil die heutige
Debatte um die rechtliche Zukunft des früheren Kollektivlands, das auch heute
oft noch in den Händen der Rechtsnachfolger der früheren Sowchosen und
Kolchosen liegt, ganz bewusst an die Diskussionen vor und nach den
Stolypinschen Reformen anknüpft. Ohne rechtsgeschichtliche Kenntnisse ist die
heutige Rechtsentwicklung weder in ihrer rechtspolitischen noch in ihrer
dogmatischen Dimension verständlich. Die in Unkenntnis dessen im Westen gehegte
Erwartung, das Bodenrecht in Russland werde nach westlichem Muster ausgestaltet
und der Ackerboden zu einem Investitionsgut ohne Besonderheiten werden, wird
wohl weiter enttäuscht werden.
Mit ihrem weit angelegten Spektrum deckt Litzinger die
wichtigsten Positionen in den jahrzehntelangen Debatten um die obščina ab.
Selbstverständlich werden nicht alle, die sich seinerzeit zu Wort gemeldet
haben, berücksichtigt, sondern nur eine repräsentative Auswahl. Die Qualität
der Auswahl erlaubt jedoch einen vertieften Blick in das rechtspolitische und
rechtskulturelle Denken jener Zeit. Die Bauernfrage ist als Kristallisationspunkt
für Aussagen über die Rechtskultur besonders geeignet, weil sich hier Fragen
der Dogmatik, der Politik und der Gerechtigkeit mischen. Nach der Lektüre des
vorstehenden Werkes versteht man nicht nur, wie das russische Rechtsdenken des
19. Jahrhunderts „tickte“, sondern versteht auch manche Entwicklung im heutigen
russischen Recht besser, denn die damals ausgetauschten Argumente und
rechtspolitischen und rechtskulturellen Grundhaltungen sind heute noch – oder
wieder – akut, auch wenn die „Bauernfrage“ mittlerweile anderen Fragen gewichen
ist. Von bleibendem Wert ist der Einblick in die Epoche, in der sich die
neuzeitliche russische Rechtskultur formierte und die Grundlagen für das
heutige Recht gelegt wurden.
Das Werk Litzingers liest sich sprachlich gut; positiv
zu vermerken ist zudem, dass viele – wenn auch nicht alle – russischen
Fachbegriffe auch im Original angegeben werden. Störend sind die nicht ganz
seltenen Fehler bei Zahlen- und Jahresangaben. So wird die erste Ausgabe des
Kurses von Mejer durch Vicyn statt mit 1857 mit 1957 angegeben
(S. 79 Fn. 24), oder auf S. 88 wird Pobedonoscev als einer der zentralen
Vorbereiter der Justizreform von 1864 genannt und im nächsten Satz sein
Geburtsdatum mit 1872 angegeben. Trotz dieser kleinen Mängel ist der
vorliegende Band jedem zu empfehlen, der sich mit dem vergangenen oder dem
heutigen russischen Recht beschäftigt. Sein Thema, das Verhältnis von
Privateigentum zu kollektiven Formen des Wirtschaftens und Besitzens, weist
über das historische oder heutige Russland hinaus und macht das Buch zu einer
interessanten Fallstudie für alle, die sich mit dieser Grundfrage
rechtshistorisch, rechtsvergleichend, rechtssoziologisch oder
rechtsphilosophisch befassen.
München Herbert
Küpper