Latzin, Ellen,
Lernen von Amerika? Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine
Absolventen (= Transatlantische historische Studien 23). Steiner Verlag 2005.
500 S., 7 Ill. Besprochen von Dietmar Grypa.
Bei dem
anzuzeigenden Band handelt es sich um eine von Walter Ziegler in München
betreute Doktorarbeit. Die Autorin beschäftigt sich mit dem „Hauptinstrument“
der „Umorientierungspolitik“ der amerikanischen Militärregierung, das erstaunlicher
Weise bisher noch keine eigenständige Untersuchung erfahren hatte, obwohl es
etwa 14.000 Westdeutsche, rund 2.000 Amerikaner und 500 Westeuropäer erfasste
(S. 11-12, 327-328). Es setzte sich aus mehreren eigenständigen Programmen
zusammen: der Entsendung amerikanischer und europäischer Spezialisten nach
Deutschland, dem Austausch von Schülern und Studierenden zwischen Amerika und
Deutschland sowie der Entsendung deutscher Fachkräfte und
Führungspersönlichkeiten in europäische Länder und die Vereinigten Staaten.
Ellen Latzin konzentriert sich in ihrer Studie bewusst auf die rund 1000
Personen aus Bayern, die zu den 7.500 deutschen Führungskräften aus
verschiedensten Berufsgruppen zählten, denen während mehrmonatiger Reisen in
den USA durch Kontakte zu Berufsgenossen, staatlichen, kommunalen und privaten
Einrichtungen, Verbänden und Vereinen umfassende Einblicke in den „American Way
of Life“ zuteil wurden. Die Autorin stellt damit diejenige Gruppe in den
Mittelpunkt, der für die in den letzten Jahren unter den Paradigmen der
„Amerikanisierung“ und „Westernisierung“ untersuchten Phänomene in der jungen
Bundesrepublik eine zentrale Rolle zukam.
Die
Dissertation ist klar gegliedert. Der Einleitung, die den Forschungsstand und
die Quellenlage zum gewählten Thema darstellt, folgt der erste Hauptteil, der
„Demokratisierung als amerikanisches Besatzungsziel“ überschrieben ist (S.
33-74). Hier schildert die Verfasserin knapp und prägnant die Konzeption und
die Ziele der „Reeducation“, problematisiert das amerikanische
Demokratieverständnis, geht auf die „Paulskirche“ als „Vorbild deutscher
Demokratie“ ein, bevor sie kurz die besatzungspolitischen Richtlinien für die
„Reeducation“, einige thematische Schwerpunkte sowie die administrativen
Strukturen schildert. Im Anschluß daran steht der strategische Wechsel in der
Demokratisierungspolitik der amerikanischen Besatzungsmacht von der
„Reeducation“ zur „Reorientation“ im Jahr 1947 und die daraus folgenden
administrativen Veränderungen im Zentrum der Ausführungen, bevor die Autorin
dem Leser einige der Kernbereiche der „Reorientation“ wie etwa die
Amerikahäuser oder das Filmprogramm der Militärregierung kurz vorstellt. Ein
mehrseitiges Fazit sichert die Ergebnisse dieses Abschnittes. Der zweite
Hauptteil des Buches widmet sich dem „Kulturaustausch als Instrument der US‑Besatzungspolitik“
(S. 75-120). Nach einem kurzen Blick auf die Anfänge des Kulturaustausches im
20. Jahrhundert und die ersten deutschen Auslandskontakte nach 1945 wird in
diesem Kapitel vor allem auf den Umfang des Programms, Austauschkategorien,
Reiseverlauf, Auswahlkritieren, die amerikanischen Ziele und die deutschen
Erwartungen, die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die
administrativen Strukturen in Deutschland und den USA, die deutsche Beteiligung
am Auswahlverfahren, die Finanzierung des Austauschprogrammes sowie das Problem
der Auswanderung eingegangen. Ein Exkurs, der parallele Austauschprogramme wie
etwa das „Technical Assistance Program“ oder das Fulbright-Programm in den
Blick nimmt, rundet die allgemeinen Ausführungen der Autorin ab, und ein
mehrseitiges Fazit fasst erneut die wichtigsten Ergebnisse zusammen. Im
folgenden dritten und umfangreichsten Kapitel (S. 121-326) werden vor allem
acht Gesichtspunkte des Kulturaustauschprogramms für Bayern untersucht: der
Umfang des Programms, seine administrativen Strukturen, das Auswahlverfahren
zwischen Theorie und Praxis, die bayerischen Absolventen, die unterschiedlichen
Bereiche der Studienreisen (Bildungswesen; Politik und öffentliche Verwaltung;
Gewerkschaften und Arbeitgeber; Medien; „Cooperative Action Teams“
[Städteteams]; Religion und Kirchen; Jugendarbeit; Justiz und Innere
Sicherheit; Ernährung, Land‑ und Forstwirtschaft; Frauen; Gesundheit und
soziale Fürsorge; Kunst, Kultur und Bibliothekswesen; Städtebau und
Landesplanung), das „Follow-up-Program“, das Entstehen von Netzwerken und die
öffentlichen Reaktionen auf das Kulturaustauschprogramm.
In
ihrer Zusammenfassung kommt die Verfasserin zu einer weitgehend positiven
Bewertung des Kulturaustauschprogramms. „Die ermittelten bayerischen
Absolventen des Austauschprogramms stellen ein beeindruckendes, zugleich jedoch
auch sehr heterogenes Spektrum der Nachkriegseliten dar“, doch „erreichte die
Besatzungsmacht genau diejenigen Berufsgruppen, die an den geplanten
Nachkriegsreformen mitwirken sollten“. „Unter den bayerischen Amerikafahrern
waren erstrangige Vertreter des jeweiligen Berufsfeldes, die unmittelbar in der
Nachkriegszeit wirkten, und daneben eine große Zahl aus dem zweiten und dritten
Glied, die erst in den kommenden Jahrzehnten im öffentlichen Leben Bayerns
Schlüsselpositionen errangen und den Aufenthalt in den Vereinigten Staaten als
Karrieresprung nutzten. Dadurch erhielt das Programm eine Langzeitwirkung, die
teilweise bis in die 1980er und 1990er Jahre reichte“. Die Amerikaner hatten
nicht nur „ein erstaunliches Gespür“ dafür, wer sich zu „zukünftigen
Spitzenvertretern des bayerischen öffentlichen Lebens“ entwickeln sollte,
sondern bemühten sich zudem erfolgreich um eine „gezielte Positionierung der
Amerikafahrer in bereits bestehenden Institutionen“ (S. 329).
Die
Reichweite des bayerisch-amerikanischen Austausches liegt für Ellen Latzin auf
sechs Ebenen: 1. die Teilnehmer trugen demokratisches Gedankengut aus einer
stabilien Demokratie in ihre Heimat. 2. das effektive Konzepts der Nachbetreuung
führte zu einer „Multiplikation der Amerkiaerfahrung“ und so „entfaltete das
von seinem Ansatz her elitäre Programm eine erhebliche Breitenwirkung“. 3. auf
den verschiedenen fachlichen Ebenen trug das Programm „zu einem differenzierten
Wissens-, insbesondere jedoch zu einem Methodentransfer in viele Bereiche des
öffentlichen Lebens in Deutschland bei“. 4. die durch das Austauschprogramm
entstandenen persönlichen Kontakte führten „zur Bildung eines transatlantischen
Netzes“, das „die frühen deutsch-amerikanischen Beziehungen der Nachkriegszeit
auf informeller Ebene mitprägte“. 5. durch den Wissens- und Methodentransfer
sowie die vielfältigen persönlichen Kontakte „leistete das Programm ferner
einen wichtigen Beitrag zur Westbindung der jungen Bundesrepublik“. 6. förderte
und zeigte das Kulturaustauschprogramm „auch die wachsende Eigenständigkeit der
Deutschen auf dem internationalen Parkett“ (S. 333).
In
welch beeindruckender Breite die Führungsschichten von Staat und Gesellschaft
in Bayern durch die untersuchte Maßnahme der amerikanischen Regierung erfasst
wurden, dokumentieren die von Ellen Latzin im Anhang ihrer Studie
zusammengestellten Biogramme der Absolventen des Austauschprogrammes in der
Kategorie Führungskräfte und Fachleute (S. 337-430). Die Liste liest sich wie
ein „Who is who“ des Freistaates Bayern in der Nachkriegszeit. Hier finden sich
der bayerische Kultusminister Alois Hundhammer und der spätere
Ministerpräsident Franz Josef Strauß ebenso wie der SPD-Politiker Rudolf Zorn,
der zeitweise als bayerische Wirtschafts- bzw. Finanzminister wirkte, oder
Waldemar Freiherr von Knoeringen, der von 1947 bis 1963 Vorsitzender der SPD
Bayern und von 1958 bis 1962 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD war.
Aus den Reihen der FDP wären Otto Bezold oder Hildegard von Hamm-Brücher, für
die Bayernpartei Joseph Baumgartner oder Stefan Billinger zu nennen. Doch
nahmen keineswegs nur Politiker an dem Austauschprogramm teil, vielmehr wurden
tatsächlich Repräsentanten aus allen Bereichen der bayerischen
Nachkriegsgesellschaft miteinbezogen. Hier seien exemplarisch nur noch einige
Personen genannt: Maria Baur, die Landesbäuerin des Bayerischen
Bauernverbandes; Albert Meyer, der Landesbezirksvorsitzende Bayern der ÖTV; P.
Franz Prinz SJ, der Begründer der Katholischen Sozialen Wochen und Herausgeber
der Christlich-Sozialen Werkbriefe; Anton Maier, der Präses des Süddeutschen
Verbandes der katholischen Arbeitnehmervereine und spätere Domkapitular des
Erzbistums München-Freising; der Reichsführer der katholischen Sturmschar und
Mitbegründer der Katholischen Jungen Mannschaft Franz Steber; Hans Meinzolt,
der Präsident der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern;
Otto Ammler, der Vorsitzende des Evangelischen Hilfswerks und der Inneren
Mission; Hermann K. A. Weinkauff, der vom Oberlandesgerichtspräsidenten in
Bamberg zum Präsidenten des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe aufstieg; Wilhelm
Arnold, der spätere Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie; Fritz
Baer, der Leiter der bayerischen Staatskanzlei, oder Josef Singer, der
Präsident des bayerischen Senats; der Verleger Edgar Hanfstaengl; Werner
Friedmann, der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung und Begründer der Deutschen
Journalistenschule, und Immanuel Birnbaum, der Leiter des Ressorts Außenpolitk
der Süddeutschen Zeitung; Karl Bosl, der Vorsitzende des Bayerischen
Philologenverbandes und spätere langjährige Ordinarius für Bayerische
Geschichte an der Münchner Universität, oder Franz Knöpfle, Mitarbeiter der
Staatskanzlei und später Professor in Speyer, Würzburg und Augsburg sowie
Rektor der Hochschule für Philosophie in München und Präsident der Universität
Augsburg.
Eichstätt
Dietmar
Grypa