Knecht, Ingo, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 77). Duncker & Humblot 2007. 328 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Die anzuzeigende Marburger rechtswissenschaftliche Dissertation beginnt mit den vernichtenden Einschätzungen des Reichsdeputationshauptschlusses in der Historiographie des 19. Jahrhunderts als das „ungerechteste Werk“ (Johann Gustav Droysen) oder als „gemein und niedrig“ (Heinrich v. Treitschke) und endet mit einer Eloge: Dieses letzte Reichsgrundgesetz kurz vor Ende des Alten Reiches habe die Mittelstaaten und damit den Föderalismus in Deutschland gestärkt, habe die überkommene Adelsschicht geschwächt und so „einer an Freiheit und Gleichheit orientierten Gesellschaftsordnung“ vorgearbeitet, d. h. als „Motor für die moderne Grundrechtsentwicklung in Deutschland“ gewirkt und „den Weg zum modernen Verfassungsstaat“ geebnet (S. 275). Die „gesellschaftsreformerische Zielsetzung“ entnimmt Knecht angesichts des französischen Primats bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Reichsdeputationshauptschlusses Napoleons Vorstellungen und Absichten (267ff.), wie sie sich dann auch im Rheinbund, insbesondere im Königreich Westfalen politisch niedergeschlagen hätten – ein methodisch bemerkenswertes Vorgehen. Gewürdigt wird der Durchbruch eines staatskirchenrechtlichen „Toleranzgedankens“ des Reichsgesetzes, der nur vorübergehend von einer „anfangs oft übertriebenen Einmischungspolitik“ überlagert worden sei (S. 242), weiterhin die auf „längere Sicht“ für die Kirche als solche - nicht jedoch die Reichskirche - autonomiestiftende Wirkung, nur „kurzfristig“ überstrahlt von Besitzverlust und Organisationseinbußen (S. 243) und schließlich der Übergang der „Fürsorge für die Untertanen“ von der Kirche auf den Staat, womit der Reichsdeputationshauptschluss eine „wesentliche Rolle für die spätere Ausbildung des Sozialstaatsprinzips“ gespielt habe (S. 245). Insgesamt resultiert hieraus eine überzogen „positive“ Gesamtbilanz (S. 275). Nüchterner als dieser dritte, der „verfassungsgeschichtlichen Bedeutung“ gewidmete Teil der Arbeit liest sich der erste Teil, der Genese und Inhalt des Reichsdeputationshauptschlusses präzise schildert, die Arten und das Ausmaß der Säkularisation auflistet und den Vorgang der Mediatisierung einschließlich der Auswirkungen auf das Reichsverfassungsrecht beschreibt. Auch juristische Detailfragen, ob etwa die Vermögenssäkularisation gemäß § 35 RDHS mit Immediatwirkung ex lege eintrat oder eines landesherrlichen Säkularisierungsaktes, sei es in Form eines Administrativaktes oder Legalaktes, bedurfte, zu dem die Vorschrift lediglich ermächtigte, werden solide untersucht (S. 58ff.). Vornehmlich die hohe Bedeutung, die dem Reichsdeputationshauptschluss noch heute in Eigentumszuordnungsfragen eignet und sich in aktuellen Judikaten manifestiert, vermag das Anliegen der verfassungsgeschichtlichen Studie erklären, in ihrem zweiten und umfangreichsten Teil Rechtmäßigkeit und Rechtswirksamkeit dieses Gesetzes gutachtlich zu überprüfen. Hier wird im Rahmen der „formellen Rechtmäßigkeit“ gefragt, ob die „Übertragung der Beratungen auf die Reichstagsdeputation generell zulässig war“ und „im konkreten Fall auch ordnungsgemäß erfolgt ist“ und weiterhin ob die „Reichsdeputation verfahrensfrei gearbeitet“ habe (S. 96), was minutiös unter Heranziehung sowohl zeitgenössischer als auch späterer Literatur durchexerziert und bejaht wird. Die „materielle Rechtmäßigkeit“ prüft zunächst einen im Ergebnis verneinten „Verstoß gegen Naturrecht“ (S. 120f.), dann u. a. die im Ergebnis angenommene Verletzung einer „Bestandsgarantie aus ungeschriebenen Grundsätzen des Verfassungsrechts“ durch die Herrschaftssäkularisation und Mediatisierung (S. 123ff.) in einem detailliert und facettenreich gegliederten Votum, das Autoren von Gottfried Wilhelm Leibniz bis Carl Schmitt zusammenführt. Entgegen zeitgenössischer Stimmen wird die festgestellte Rechtswidrigkeit nicht mit Hilfe eines ius eminens gerechtfertigt, denn den „zeitgenössischen Juristen war vermutlich nicht immer klar, dass der bloße Übergang des Eigentums an einzelnen Vermögensgegenständen etwas grundsätzlich anderes ist als die Übertragung von Hoheitsrechten“ (S. 210). Knecht verwahrt sich auch konsequent dagegen, mit Ernst Rudolf Huber von einer „legalen Revolution“ zu sprechen, da dies „Rechtmäßigkeit suggeriert“ und zudem überhaupt keine Revolution vorgelegen habe (S. 221 und 225) – gravierend wohl auch, dass Heinrich Triepel diesen Terminus für die Machtergreifung 1933 geprägt hat. Die Anerkenntnis der normativen Kraft des Faktischen im Sinne Georg Jellineks lässt das über einhundert Seiten umfassende Gutachten schlussendlich in wenigen Zeilen zu dem Ergebnis zusammenschnurren, dass der Reichsdeputationshauptschluss ungeachtet seiner materiellen Rechtswidrigkeit wirksam geworden sei (S. 228). Konstatiert wird schließlich auch der Fortbestand der kompensatorischen objektiv-rechtlichen Pflichten zu Staatsleistungen an die Kirchen (S. 234), wobei kirchliche Ansprüche nicht direkt auf dem Reichsdeputationshauptschluss, sondern auf konkretisierenden Gesetzen und Verträgen gründeten (S. 76f. und 229). Die brisante Mischung aus Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik erschließt das Werk auch dem nicht spezifisch historisch interessierten Juristen.

 

Jena                                                                                                               Walter Pauly