Kley, Andreas, Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Großbritannien, die USA, Frankreich und die Schweiz, unter Mitarbeit von Kissling, Christian. Stämpfli, Bern 2004. 265 S. Besprochen von Wilhelm Brauneder.
Wieser, Bernd, Vergleichendes
Verfassungsrecht. Springer, Wien 2005, XVI, 152 S. Besprochen von Wilhelm
Brauneder.
Hartmann, Peter Claus, Französische
Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450-2002). Ein Überblick, 2. Aufl. Duncker
& Humblot, Berlin 2003. 235 S. graph. Darst. Besprochen von Wilhelm
Brauneder.
Berchtold, Klaus, Verfassungsgeschichte der Republik
Österreich I 1918-1933. Springer, Wien 1998, XVI, 755 S. Besprochen von Wilhelm
Brauneder.
Kölz, Alfred, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Stämpfli & Co., Bern 2004. XXXII, 960 S. Besprochen von Wilhelm Brauneder.
Rathgeb, Christian, Die
Verfassungsentwicklung Graubündens im 19. Jahrhundert (= Schriften zur Verfassungsgeschichte
1). Schulthess, Zürich 2003. XXVIII, 215 S. Besprochen von Wilhelm Brauneder.
Auf die theoretisch oft erörterte
Frage, was denn Verfassungsgeschichte überhaupt sei bzw. wie sie darzustellen
wäre, geben vorhandene Darstellungen eine pragmatische Antwort: Sie fällt sehr
unterschiedlich aus. Dies betrifft schon einmal den örtlichen Raum:
staatenübergreifend, staatsbezogen, sogar teilstaatsbezogen.
Die Darstellung Kleys betont im Titel
allein den zeitlichen Bezug – „Neuzeit“ – und verschiebt den örtlichen in den
Untertitel, der auf mehrere Staaten verweist. Tatsächlich verdeutlicht das Einheben
auf gegenseitige Einflussnahmen Gemeinsames. Grundsätzlich sei eine Verfassung
im Zusammenhang mit theologischen, philosophischen, geschichtlichen und anderen
Vorstellungen zu sehen (26). Konkret betont werden etwa für die USA neben dem
Vorbild Schweiz als Bundesstaat (88) „transatlantische“ ideengeschichtliche Einflüsse
(90ff.), umgekehrt der Einfluss der USA auf die Schweizer Bundesverfassung 1848
(156ff.), zuvor jener des napoleonischen Frankreich (143ff.). Derartiges steht
aber doch ganz stark im Hintergrund, beispielsweise lesen wir nichts über
französische und deutsche Einflüsse auf Kantonsverfassungen oder über die
Parallelität der Struktur des Schweizer Staatenbundes von 1815 zum Deutschen
Bund. Dies rührt wohl auch aus dem verständlichen Ansatz her,
Verfassungsgeschichte sei stets auf „den jeweiligen Staat“ bezogen (31f.). Nach
einer Einleitung gliedert sich die Arbeit denn auch in die im Untertitel
genannten Staaten mit einer jeweils chronologisch dargestellten
Verfassungsgeschichte auf etwa dreißig Seiten, Großbritannien ist mit vierzig
Seiten bedacht. Gerade deshalb fällt hier auf, dass Staatsstruktur, es handelt
sich schließlich um ein „United Kingdom“, und Verwaltungsorganisation fehlen,
im Vordergrund steht vor allem mit dem Parlamentssystem (politische Parteien,
Wahlrecht etc.) das Regierungssystem. In der Darstellung der USA geht es dann
freilich auch um den Weg vom „Staatenbund zum Bundesstaat“. Kley listet ferner
„mehrere Probleme“ auf wie etwa die Sklaverei (101). Frankreichs Darstellung
folgt im Wesentlichen den einzelnen Verfassungen, bleibt aber nahezu auf die
Große Revolution und Napoleon beschränkt, die weitere Entwicklung ist äußerst
knapp (135f.) als „Auswirkungen der Französischen Revolution“ abgehandelt. Im
Gegensatz dazu erreicht die Schweizer Entwicklung über die einzelnen Phasen vom
„Ende des Ancien régime“ die Verfassung 2000 mit Darstellungen der
Verfassungssituation in der jeweiligen Epoche. Dem Text folgt übrigens ein
Dokumentenanhang, der sich auf die „Verfassungsgeschichte der Französischen
Revolution und der Schweiz“ konzentriert (173ff.). Insgesamt verifiziert die
Darstellung Kleys zitierte Feststellung vom konkreten Staatsbezug der
Verfassungsentwicklungen. Gegenseitige Einflüsse, in der Theorie gemeinsame
Grundlagen und parallele bis identische Entwicklungstendenzen lassen sich als
„europäische Verfassungsgeschichte“ begreifen. Sich aber darauf zu beschränken
hieße, sich von konkreten Verfassungssituationen und von der
Verfassungsrealität zu entfernen, die übrigens Kley mehrfach anspricht (England
68f., Schweiz 167ff.).
Wiesers Darstellung ist für die vergleichende Sicht
der Verfassungsgeschichte interessant. Grundsätzlich könne die „Vergleichung
von Verfassungen … der geschichtlichen Perspektive nicht entraten“, die
„Kenntnis der historischen Dimension bildet … eine notwendige Voraussetzung für
das Verständnis des geltenden Verfassungsrechts“ (47). Die europäische und
nordamerikanische Dimension der Verfassungsentwicklung – Südamerika wäre unbedingt miteinzubeziehen – sieht Wieser in folgendem Umstand: Es „hingen alle Texte
voneinander ab“ (10). Zum staatenübergreifenden Verfassungsdenken verweist er
zu Recht auch auf das „Gemeine deutsche Staatsrecht“ (etwa Klüber, Zöpfl), auf
vergleichende Werke wie die Mohls oder Gneists
– zu ergänzen wäre auch Lorenz von Stein – und schließlich auch auf Werke zur Allgemeinen Staatslehre (10f.). Gerade
hier zeigt sich aber das schon erwähnte Dilemma: Es handelt sich nicht um
konkrete Staatsordnungen, keine Allgemeine Staatslehre hat, naturgemäß, je
gegolten. Wiesers These, ein „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ (nach
Häberle), erarbeitet durch Verfassungsrechtsvergleichung, ermögliche Einsichten
in einzelstaatliche Verfassungsordnungen, lässt sich sicherlich auch auf die
historische Dimension übertragen (31), natürlich nicht der praktische Zweck
einer Förderung der „Weiterentwicklung eigenen Verfassungsrechts“ (32 f.). Ob
es allerdings auch historisch hilfreich ist, an die Stelle
„genetisch–historisch“ definierter „Verfassungsfamilien“ merkmalbestimmte
„Verfassungsrechtskreise“ zu setzen (so für das geltende Recht 108f.) sei
angezweifelt. Ein wenig euphorisch mutet übrigens die Vorstellung einer
„Einheit Europas in der geschichtlichen Dimension“ (31) an, schon allein im
Grundrechtsdenken (Staatszielbestimmungen – subjektive Rechte) sind die
Unterschiede erheblich. Aufschlussreich für das, was auch historisch geleistet
werden kann, ist übrigens folgender Vergleich: Nach einem Grundlagen-Teil von
knapp fünfzig Seiten widmen sich sechzig Seiten der „Makrovergleichung“
(Verfassungsbegriff, Verfassungsänderung etc.), die „Mikrovergleichung“ auf
etwa dreißig Seiten betrifft allerdings bloß die Verfassungsgerichtsbarkeit!
Hartmanns „Französische Verfassungsgeschichte“
gibt ihrem Untertitel gemäß einen ausgezeichneten „Überblick“. Verständig
aufbereitet und verständlich geschrieben sind auch komplexe Strukturen auf den
wesentlichen Punkt gebracht, was besonders für das Ancien régime höchst
nützlich ist etwa hinsichtlich der lokalen Strukturen von Verwaltung und Justiz
(27ff, 33ff.), im Detail der „intendances“, der „parlements“ (30ff.) und der
Provinzialstände (41f.), ebenso hinsichtlich der Kirche (53ff.), wobei stets
sehr informativ auch das Quantitativ-Räumliche in Erscheinung tritt. Der
Schwerpunkt der Darstellung liegt im Zeitraum ab 1789/1791 als „Epoche der
geschriebenen Verfassungen“. Die einzelnen Verfassungen als durchgehendes
Gliederungskriterium sind zu Epochenabschnitten wie etwa „Die Entstehung der
parlamentarischen Regierung (1814-1870)“ oder letztlich „Die fünfte Republik
(seit 1958)“ zusammengefasst. Bis 1945 wird jede Verfassung mit Vorgeschichte,
Inhalt, Anwendung und allenfalls Verfassungsänderungen vorgestellt, was in
höchst ansprechender Weise nicht nur Einsichten in politische Strömungen,
theoretische Erörterungen, Verfassungsstrukturen sowie Verfassungswirklichkeit
eröffnet, sondern auch Vergleiche ermöglicht. Zunehmend wird die Darstellung
immer dichter. Sind dem Zeitraum von 1814 bis 1870 etwa zwanzig Seiten
gewidmet, so jenem von 1958 bis 2002 der doppelte Umfang. Ab 1945 nehmen auch
die Erläuterungen zu wie etwa „Parteien“, schließlich „Die Wahlen von 2002“.
Den Text begleiten vereinzelt Graphiken zu Verfassungsstrukturen, die überdies ein
umfangreicher Anhang nach den Kriterien Staatsform, Staatsoberhaupt,
Regierungschef, Versammlungen (Parlamente), Zahl der Kammern, Wahlrecht
charakterisiert.
Ganz andere Wege geht Berchtolds
„Verfassungsgeschichte der Republik Österreich“. Bewusst beschränkt sie sich auf
eine Verfassungsentstehungsgeschichte, ja eine „Verfassungskampfgeschichte“,
denn von 1918 bis 1933 „herrschte durch fünfzehn Jahre ein fast
ununterbrochener Verfassungskampf. Diesen darzustellen ist das Ziel des Buches“
(V)! Dementsprechend werden zur Verfassungsreform von 1929 die „Ausgangspunkte
des Verfassungskampfes“ (530ff.) und schließlich das „Ergebnis des
Verfassungskampfes“ (569ff.) dargelegt. Signifikant für die Gewichtung ist
beider Umfang: Die überwiegend politischen „Ausgangspunkte“ sind auf vierzig
Seiten, das Ergebnis und damit der Inhalt der nahezu neuen Verfassung nur in
groben Zügen auf drei Seiten dargelegt! Das entspricht eben Berchtolds
Programm: „Im Vordergrund stehen … die politischen Kräfte und deren
Zielsetzungen, aber auch die Unausweichlichkeiten, die die
verfassungsrechtliche Entwicklung bestimmten und prägten“ (V). Das so
Dargestellte beruht auf breitester Quellenbasis, auch die Tagespresse ist
herangezogen wie beispielsweise für Reaktionen auf die diversen Wahlen im Jahre
1932 (639f.). Gängig ist die Darstellung von Parlamentsdebatten, und zwar auch
über nicht verfassungsrelevante Vorgänge wie etwa über die – nicht erfolgte –
Auflösung des Nationalrates nach den eben erwähnten Wahlen im Jahre 1932 (643-657),
zu verstehen als weite Vorgeschichte zum Ende des Parlamentarismus im März
1933. Insgesamt lässt sich eine Art Darstellungsmuster erkennen: parteiinterne
Vorgänge, fraktionsinternes Geschehen, parlamentarische Behandlung. Auf
weiteste Strecken verfolgen wir politische Geschichte. Tatsächlich dominiert
diese ausholende Art das Buch. Die
Fixierung auf die „Kämpfe“ um die Bundesverfassung führte notgedrungen zur
nahezu völligen Negierung eines weiteren Schauplatzes der
Verfassungsentwicklung: So gut wie nichts lesen wir über die Geschichte der
Landesverfassungen!
Die quellenfundierte Darstellung bringt es
offenkundig mit sich, dass weite Passagen sehr den Quellen verhaftet und
Zusammenhänge ausgespart bleiben. Beispielsweise wird das kaiserliche Manifest
vom Oktober 1918, welches die Umwandlung Österreichs (Cisleitaniens Bezeichnung
seit 1915) in einen Bundesstaat ankündigt, als „Revolution von oben“ gesehen
(….). Tatsächlich aber sollte der übliche parlamentarische Weg einer
Verfassungsänderung gar nicht verlassen werden („auf gesetzlichem Wege
erfolgen“!), wenngleich mit einer Ausnahme: Mitwirkung „durch Nationalräte …
gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation“. Damit war aber keineswegs
„die Bildung von Nationalräten … vor(gesehen)“, sie existierten, unter welchen
Namen auch immer, bereits - mit Ausnahme jener der deutschösterreichischen
Abgeordneten (7ff.). Dass mit dem Beschluss der Provisorischen
Nationalversammlung vom 30. Oktober „die Staatsform noch nicht offen
entschieden“ worden sei, ist eine zu verschämte Formulierung (22); in aller
Deutlichkeit müsste – was etwa die Parlamentsdebatte vom 30. Oktober zeigt –
festgehalten werden, dass man sehr wohl in der Sache bereits die demokratische
Republik festschrieb. So sind manche, und zwar nicht unentscheidende Teile der
Darstellung noch einer älteren Sicht verhaftet geblieben. Hierher gehört auch
die Bezeichnung „Lausanner Protokoll“ für die „Protokolle“ von 1932, obwohl die
offizielle Bezeichnung „Genfer Anleihevertrag“ (BGBl 12/1933) lautet bzw. in
der Übersetzung der Originale „Österreichiches Protokoll“ und sie überhaupt mit
den Genfer Protokollen 1922 eine Einheit bilden (672). Zu konstatieren ist
übrigens eine ganz erhebliche Zahl von Druck- und Beistrichfehlern. In der ganz
spezifischen Art der Darstellung liest man das Buch jedenfalls mit Gewinn und
der Hoffnung, dass auf diesen ersten Band bald die Fortsetzung folgen möge.
Die Verfassungsgeschichte von Kölz stellt, ohne dass
es im Titel ersichtlich wird, den zweiten Band der unter gleichem Titel
erschienenen, bis 1848 reichenden Verfassungsgeschichte 1992 dar (vgl.
Besprechung in: ZRG GA 1998, 627ff). Das Werk wurde aus dem Nachlass
herausgegeben, und zwar unter Einbeziehung eines Aufsatzes von Kölz (nun II/29.
Kapitel) sowie von den Herausgebern um zwei Kapiteln ergänzt (II/15. und 26.
Kapitel). Zwar wirkt die Gesamtdarstellung wie aus einem Guss und entspricht
vollauf dem ersten Band, an Quantität des Gebotenen überragt sie diesen noch,
verdünnt sich aber zusehends zur Bundesverfassung 2000 hin, ihre Ergebnisse
sind lediglich da und dort in die sachlichen Teile miteinbezogen. Ebenso bildet
das Kapitel „Der westeuropäische Zeitgeist“ gerade nur zwei Seiten, in dem dazu
noch die Vorarlberger Anschlussbewegung (an die Schweiz) von 1919 ihren Platz fand
und sogar die Literaturangaben zu diesem Kapitelchen dominiert (673). Dazu ist
allerdings zweierlei richtig zu stellen: Die in Vorarlberg durchgeführte
Volksabstimmung war weder eine solche für „den Anschluß an die
Eidgenossenschaft“, noch irregulär; vielmehr war sie offiziell von der
Landesregierung organisiert worden, betraf aber die Frage, ob diese in
Verhandlungen mit der Schweizer Bundesregierung eintreten solle.
Nach einem Grundlagen-Teil folgen im ersten
Hauptteil die Verfassungsentwicklungen in jeweils den einzelnen Kantonen und
sodann die im Bund. Dort wird nach Kantonsgruppen differenziert wie etwa
„Regenerierte Kantone ohne demokratische Bewegung“, Landsgemeindekantone etc.,
hier ist die Darstellung teils chronologisch, teils sachlich bestimmt. Aus der
Chronologie herausgehoben sind nämlich beispielsweise die Entwicklungen des
„Rechtsstaates seit 1848“, die der „Wirtschafts-, Finanz- und Sozialverfassung
im 20. Jahrhundert.“, auch die „Skizze“ der „Staatsrechtslehre“. Als
„Grundlagen“ werden „Theorie und treibende Kräfte des demokratischen
Staatsrechts“ vorgeführt (7ff.). Beide seien wichtig als „Klammer“ für das
Schweizer Staatswesen, übrigens neben Einflüssen aus den USA und, nach 1945,
aus Deutschland. Nach 1848 ließen sich aber Spuren der Theorie weniger deutlich
als zuvor festmachen. Von Interesse ist übrigens in diesem Grundlagenabschnitt
auch das Vorstellen diverser Verfassungskonzeptionen (9ff.). In der erwähnten
Struktur der beiden Hauptteile – Kantone und Bund – zeigt sich zweierlei: die
hohe föderale Struktur der Schweiz in der Verfassungsentwicklung wie vor allem
auch das Bewusstsein davon. Weder Berchtolds eben erwähnte
Verfassungsgeschichte, immerhin auch eines Bundesstaates, noch bundesdeutsche
Verfassungsgeschichten (vgl. Besprechung in: ZRG GA 2003, 450ff.) kennen eine
derartige Berücksichtigung der einzelnen (!) Gliedstaaten, bestenfalls eine
Entwicklung der Einheit „Land“ schlechthin (etwa W. Brauneder, Österreichische
Verfassungsgeschichte, 11. Aufl., Wien 2005). Eine derartige Behandlung ist
eben auch nur in einem dezentralisierten Einheitsstaat, der sich, wie
Österreich, zum schwachen Bundesstaat entwickelt, möglich. Die kantonalen
Verfassungsentwicklungen lassen sich aber nicht auf einen derartigen Nenner
bringen, dies zeigt die vorerwähnte Gruppenbildung, und es erweisen auch viele
Details: die Bedeutung des Bahnbaus für Bern (94), französische Vorbilder für
Solothurn (128) im Gegensatz zum Einfluss deutscher Flüchtlinge in Basel-Land
(149), die Ratsherrnverfassung von Basel-Stadt noch bis 1875 (337ff.), „ganz
eigentümlich“ die Verfassung Graubündens (355) mit einer „Freiheit“ für Gruppen
wie Familie, Talschaft (359), die Revolution im Tessin noch 1890 (388ff.) und
vieles mehr. Zum Teil greift bei den Kantonsverfassungen, um Kontinuitäten zu
unterstreichen, die Darstellung vor 1848 zurück und relativiert so diesen
Einschnitt. Erstaunen ruft der Umstand des immer wiederkehrenden, freilich
variablen Einflusses der französischen Verfassung 1783 hervor wie etwa noch auf
den Totalrevisionsversuch der Bundesverfassung von 1872 (593ff.). An
versteckter Stelle wird auch offen einbekannt, die Schweiz habe „zwischen 1798
und 1874 auf direktem Wege im starken Maße französisches Verfassungsrecht“
rezipiert (847).
Zu den gerade im europäischen Vergleich
interessanten Kaptiteln gehört jenes über das „Vollmachtenregime während des
Ersten Weltkrieges“ (665ff.). In unterschiedlicher Weise wurden ja zu
Kriegsbeginn, oft in Erwartung einer nur kurzen Kriegsdauer,
Legislativbefugnisse auf die Regierungen übertragen. In der Schweiz geschah
dies in wohl einmaliger Weise, nämlich aufgrund einer Staatszielbestimmung („Zweckartikel“:
insbesondere 668f.), was ab etwa 1916 auf Kritik vor allem aus der Westschweiz
stieß; von 1914 bis 1918 wurden immerhin eintausend Noterlässe in Kraft
gesetzt, was Kölz als „Übertreibungen des Vollmachtenregimes“ (670) bewertet;
aufgehoben wurde es übrigens erst im April 1919, eine eingeschränkte Ermächtigung
blieb aufrecht (672). Von vergleichendem Interesse zu antidemokratischen
Tendenzen ist etwa ein Verfassungs-Vorentwurf der Katholisch-Konservativen
Partei von 1935 mit korporatistischen Elementen analog zur österreichischen
Ständestaatsverfassung von 1934 (755). Interessant sind unter vergleichender
Perspektive auch eine Fülle weiterer Details und Einsichten wie etwa zur
„Herkunft des schweizerischen Verwaltungsrechts“ (831ff.).
Rathgeb legt eine der seltenen regionalen
Verfassungsgeschichten vor, zu einem letztendlich Schweizer Kanton mit
allerdings einer selbständigen und höchst spezifischen Entwicklung. Sie bündig
und verständlich darzustellen ist dem Verfasser allerdings nicht gelungen, und
zwar aus inhaltlichen wie darstellerischen Gründen. Schon das Wesen des
vor-eidgenössischen Graubündens bleibt im Dunkeln. Die dazu erhobene Frage
„Freistaat der Drei Bünde, Staatenbund oder Bundesstaat“(18f.) ist bereits
irrig gestellt, denn „Freistaat“ schließt an sich den Staatenbund aus: Oder
handelt es sich um eine zeitgenössische Bezeichnung? Was jeden einzelnen der
„Drei Bünde“ ausmacht, wird weder hier noch später klar dargestellt, ebenso,
vorerst, die Gesamtheit der „Drei Bünde“. Erst sehr spät (95) lässt sich
ansatzweise etwas über den frühen Aufbau Graubündens entnehmen, über den Namen
hören wir auch reichlich spät erst etwas, nämlich in einem „Exkurs“ zur
Kantonsverfassung 1803 (72f.). Die beste Charakteristik folgt aus einem Zitat
(Churer Zeitung: 80)! Das sehr wesentliche föderalistische Indiz der vierfachen
Einbürgerung ist gleichfalls (zur Verfassung 1803) eher exkurshaft abgehandelt
(82). Wie dieser wichtige Themenkomplex bleibt auch sonst manches vorerst
unerklärt, wird nahezu vorausgesetzt, später nachgeholt wie etwa die Abtretung
des Veltlins (erwähnt 35, erklärt 45 und 92), die Rolle der Habsburgermonarchie
(erst z. B. 48), die „Verfassung von Malmaison“ (so Überschrift 54) mutiert erst
unter „Kantonsverfassung von 1801“ zu einem Verfassungsentwurf (55). Bevor noch
etwas über diese Verfassung ausgesagt wird, lesen wir: „Vorweg sei
festgehalten, dass gesamtstaatliche Ereignisse eine geordnete Umsetzung der …
Kantonsverfassung verhinderten“ (55). Diese sprunghaft–assoziative
Darstellungsweise durchzieht nahezu das gesamte Buch: Strukturen werden kaum
erkennbar, auch nicht Chronologien, Wiederholungen verhindern eine kompakte
Darstellung, Fragen bleiben offen: 1802 (?) lehnt die Bevölkerung Graubündens
die „Zweite Helvetische Verfassung“ eindeutig ab, was waren aber die Folgen?
Stattdessen lesen wir im nächsten Satz, sie „brachte eine erhebliche
Erweiterung der Kompetenzen für die Verwaltungskammer“, worauf die Feststellung
folgt, sie „war nur während weniger Monate in Kraft“ (alles 63). Vieles geht
auch in historischen Details unter, dennoch gibt es merkwürdige
Charakteristiken: Für 1813 stellt der Verfasser die „Aufgeklärte Grande Nation“
den „staatsrechtlich noch kaum aufgeklärten alliierten Staaten“ gegenüber,
diesen und anderen flüchtigen Zeilen steht in einer nahezu ebenso langen
Fußnote lediglich Biographisches zur Seite (85). Der Einfluss der Alliierten
auf die Verfassung 1803 ist nur am Rande erwähnt (95, 106). Die historischen
Details belegen in vielfacher Weise die große Bedeutung französischer
Einflüsse: aufgeklärtes Schulwesen mit dem späteren französischen König Louis
Philipp als Lehrer (26!), Verbindung der Lesegesellschaft in Chur zu Pariser
Salons (27ff.), immer wieder der Einfluss französischen Verfassungsgeschehens
und konkreter Verfassungen von 1794 an (z. B. 33, 36ff, 56, 141). Verwirrend
sind natürlich Widersprüche: Am „21.April 1799 bildete der ‚Canton Rätien’
einen der 22 Verwaltungsbezirke Helvetiens“ (51) steht gegenüber: „Der Kanton
Graubünden zählt seit 1803 zur Schweizerischen Eidgenossenschaft“ (80). Für die
Jahre 1814 bis 1848 wird „tiefe Windstille“ zitiert (112), dann aber lesen wir
von „Reformforderungen“ (116ff.), „Reformbemühungen“ (120f.), sogar einem „Reformverein“
(insbesondere 124ff.). Keinen festen Boden unter den Füßen geben uns
verfassungsbegriffliche Einordnungen. Die Kantonsverfassung 1803 ist
„förderalistisch“ (70), besitzt „bundesstaatlichen Charakter“ mit
„staatenbündischem Strukturprinzip“ (72), brachte einen „föderalistischen
Bundesstaat“, den die Kantonsverfassung 1814 beibehielt (95). Was aber sind,
etwa nach dieser Verfassung, die einzelnen Gliedstaaten und ihre
„Gliedstaatenverfassungen“ (106), wie sahen diese überhaupt aus? Die
„Bundesstruktur“ der Kantonsverfassung 1814 lässt sich wohl nicht allein daraus
ableiten, dass „die untergeordneten Satzungen nicht gegen übergeordnetes Recht
verstoßen dürften“ (95), hier ist, ganz nebenbei, von den „Gliedstaatenverfassungen“
keine Rede. Einsichtiges wie etwa, durch die Helvetik habe die
Eidgenossenschaft einen „Rückfall“ in einen „Staatenbund“ erlitten, „Graubünden
hingegen schritt vom Staatenbund … zum Bundesstaat“, steht bloß so eingestreut
da (70), freilich wäre letzteres zu hinterfragen.
Deutlicher herausgehoben gehörten übrigens die
Beziehungen zur Eidgenossenschaft, welche Form sie im Laufe der Entwicklung auch
immer hatte, wenngleich die Vorstufen des späteren Kantons ursprünglich nicht
zur „Eidgenossenschaft“ zählten, sehr wohl aber, so der Verfasser, zur
kulturellen Schweiz (23).
Unterschiedliche Konzepte, verschiedene
Darstellungsweisen: Letztlich entscheidet der Benützer über ihre Angemessenheit
auch nach dem, was er nicht findet.
Wien Wilhelm Brauneder