Kauhausen,
Ilka,
Nach der ,Stunde Null‘. Prinzipiendiskussionen im Privatrecht nach 1945 (=
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 52). Mohr (Siebeck),
Tübingen 2006. XVIII, 297 S. Besprochen von Tilman Repgen.
I.
„Meinem Doktorvater Prof. Dr. Joachim Rückert“ liest man auf der ersten Seite
der hier zu besprechenden Arbeit Ilka Kauhausens. Es ist nicht so oft, dass
Doktoranden ihre Arbeiten dem Doktorvater widmen. In diesem Fall passt es aber
besonders gut, da der Gegenstand seit langem im Zentrum des Interesses Rückerts
steht. Die privatrechtliche Prinzipienfrage, man könnte auch sagen: die Privatrechtstheorie,
hat in den Arbeiten Rückerts einen hohen Stellenwert. Für das Bürgerliche
Gesetzbuch, für die juristische Zeitgeschichte hat Rückert im
Historisch-kritischen Kommentar zum BGB zu diesem Thema eine Pionierleistung
geliefert (HKK-BGB I, vor § 1, S. 34-122). Kauhausen baut darauf auf und bringt
nun eine Darstellung en miniature für
die Zeit von 1945 bis ca. 1980, gestützt auf die Lehrbuchliteratur und geprüft
anhand der Aufsatzliteratur zu Gegenständen des BGB.
Das
Fazit von Kauhausen ist ernüchternd: Die Privatrechtswissenschaft hat auf der
theoretischen Ebene fast ausnahmslos (die Ausnahmen seien gleich benannt: Nipperdey,
Coing, Hallstein, v. Hippel) versagt. Man habe, so resümiert Kauhausen, die
Chance der Stunde Null zu einer Rückkehr zum ursprünglichen Konzept des BGB,
das in einem geschlossenen System von Prinzipien durch Anwendung vorausschauender
prinzipieller Rechtssätze Gerechtigkeit habe garantieren wollen (insoweit
Rückert folgend), nicht genutzt. Stattdessen habe sich ein methodisch diffuses
Gerechtigkeitsstreben durchgesetzt, das zwar bisweilen mit Prinzipien arbeite,
diese aber weder in eine taugliche Hierarchie bringe, noch von außerrechtlichen
Erwägungen abschotte (Kauhausen spricht von einer „,außerrechtlichen’
Wertungsjurisprudenz“). Die Rechtsanwendung bleibe so zu einer permanenten Abwägung
verschiedener Wertungen im Einzelfall verurteilt.
So
könnte man mit knappen Sätzen die Hauptthese der Arbeit zusammenfassen. Und in
der Tat ist die These auf den ersten Blick plausibel, wenn man die Gesetzgebung
und Gesetzesanwendung der letzten Jahrzehnte mit dem Prinzip der Privatautonomie
konfrontiert. Prinzipielle Folgerichtigkeit ist dort selten zu finden, noch
seltener bewusst gemacht und fast gar nicht thematisiert. Das mag die „im
Prinzip“ seltsame Wehrlosigkeit der zivilrechtlichen Dogmatik gegen manche grobe
Verletzung des Privatrechtsgedankens zum Beispiel durch die
Antidiskriminierungspolitik der Europäischen Union und deren Umsetzung in
Deutschland erklären (vgl. etwa den Sammelband von Isensee, Vertragsfreiheit
und Diskriminierung, Berlin 2007).
Schulte-Nölke hat
als einer der Ersten festgestellt (Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler
1997), dass erst in der bundesrepublikanischen Zeit das BGB zu seinem Bürger
gekommen sei, dass erst dann die dem BGB adäquaten gesellschaftlichen
Verhältnisse erreicht worden seien. Diese These wird durch die vorliegende
Arbeit zwar nicht widerlegt, aber doch um eine wichtige Nuance ergänzt: die
Chance zu einer Privatrechtsgesellschaft bestand zwar, aber die Privatrechtswissenschaft
hat sich nicht der ursprünglichen Konzeption des Gesetzgebers, die aus vorausschauenden
prinzipiellen Rechtssätzen Rechtssicherheit und damit möglichste Gerechtigkeit
erzeugen wollte, anverwandelt, sondern sie hat - wenigstens mehrheitlich - den
Weg der Abwägungsjurisprudenz in Richtung auf ein Richterrechtssystem eingeschlagen.
Dass dies bewusst geschehen sei, wird man nicht behaupten wollen.
II.
Kauhausen ist im wesentlichen zwei großen Fragen nachgegangen: (1) Gibt es
Prinzipien im Privatrecht und wie werden sie begründet? (2) Welche methodischen
Voraussetzungen und Funktionen haben die Prinzipien? Die Antwort auf diese
Fragen sucht Kauhausen mit historischer Methode.
Diese
Ergebnisse Kauhausens sind die Frucht einer sorgfältigen Analyse privatrechtlicher
Literatur der Nachkriegszeit bis in die späten 1970er-Jahre. Neben der Arbeit Rückerts
boten verschiedene Biographien aus den letzten Jahren eine gewisse Grundlage,
so insbesondere die Arbeiten zu Karl Larenz (Frassek, 1996; es fehlen die Arbeiten
von Kokert, 1993 und Hartmann, 2001), zu Heinrich Lange (Wolf, 1998), Heinrich
Lehmann (Depping, 2002) und Fritz von Hippel (Ramm, 1992). Die Dissertation
Hollsteins zu Nipperdey (2006) ist ungefähr zeitgleich in Frankfurt entstanden
und fand daher wohl keinen Eingang mehr in die Druckfassung. Der besondere Reiz
der vorliegenden Untersuchung ist jedoch der Querschnitt durch die Literatur
zwischen 1945 und 1980, der jenseits des Biographischen Entwicklungstendenzen
deutlich werden lässt.
Kauhausen
konstatiert zunächst in den Vorworten einiger Lehrbücher zum Allgemeinen Teil
des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Lehmann 1946, Nipperdey 1952, Larenz 1967)
Absichtserklärungen, rechtlichen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen, und
gelangt nach verschiedenen äußeren Betrachtungen zu Quantität und Ort der Behandlung
prinzipieller Fragen im Teil C zu den unterschiedlichen, insgesamt wenig klaren
Prinzipienbegriffen.
Der
Begriff „Prinzip“ schillert in den Quellen. Für Lehmann (1946) sind Prinzipien
„leitende Grundgedanken“, für Nipperdey (1952) „Wertungsgrundsätze“, für Larenz
(1967) „Leitgedanken“, „rechtliche Strukturen“, für Rehfeldt (1962) „in allen
Rechtsordnungen aller Zeiten gemeinsame, wiederkehrende Grundsätze des
positiven Rechts“. Wichtig erscheint die Feststellung, dass für die meisten Autoren
Prinzipien nur Leitgedanken, nicht aber Rechtssätze sind, womit sie nach
Auffassung von Kauhausen (S. 25, Rückert folgend) vom ursprünglichen Konzept
des BGB abweichen.
Im
nächsten Abschnitt (D) kümmert sich Kauhausen um die Diskussion über die Begründung
für die Existenz von Prinzipien. Diese Diskussion liefert zugleich wertvollen
Aufschluss über den Prinzipienbegriff selbst und seine rechtspraktische
Bedeutung. Nach 1945 war es allgemein üblich, die Prinzipien als im
„Kulturrecht“ des christlichen Abendlandes, evtl. in den Menschenrechten
verankert zu sehen. Ausführlich wird die wegweisende Schrift Helmut Coings über
„Die obersten Grundsätze des Rechts“ (1947) behandelt (S. 29-50). Coing sah die
Prinzipien zugleich als Ausdruck der Rechtskultur und als Forderung der
Gerechtigkeit an. Sie existierten für ihn in einem geschlossenen System, das er
wegen des Vorrangs der Freiheit allerdings als entwicklungsfähig begriff.
Kauhausen kommt zu dem Ergebnis, die Rechtsgrundsätze bei Coing seien nicht
naturrechtlich begründet, sondern kulturrechtlich, ein Ausdruck der
geschichtlichen Entwicklung. Gleichzeitig sicherte Coing die Prinzipien aber
metaphysisch in materialer Wertethik ab. Für die Rechtsanwendung gewannen die
Prinzipien bei ihm nur Relevanz, soweit sie positiviert waren, während sich der
Gesetzgeber an den überzeitlich gültigen Prinzipien zu orientieren habe.
Kauhausen spricht hier von einem „schwachen“ Naturrecht – schwach, da es das
positive Recht nicht brechen kann. Der Richter bleibt stets dem Gesetz unterworfen.
Dem
Ansatz Coings stand damals die Auffassung Gustav Boehmers gegenüber, der ein
geschichtlich legitimiertes, überpositives Naturrecht als Quelle der Prinzipien
auffasste. Der wesentliche Unterschied zu Coing liegt dabei auf der praktischen
Seite. Obgleich Coing und Boehmer die Prinzipien durch Empirie letztlich einem
Kulturrecht entlocken, möchte Boehmer – insoweit in Übereinstimmung mit Hermann
Weinkauff – dem Richter den Rückgriff auf diese Prinzipien gestatten, ihn also
unmittelbar an das Naturrecht binden, während Coing für eine strikte Bindung
des Richters an das Gesetz votierte. Kauhausen nennt die Position Boehmers und
Weinkauffs „stark“ naturrechtlich, da hier mit „außerrechtlichen“ Prinzipien (z.
B. S. 68) gearbeitet werde, die in der Lage seien, positives Recht zu brechen. Sehr
differenziert ist also die Rolle des Richters, die davon abhängt, ob man die
Prinzipien in ein geschlossenes System des positiven Rechts fasst oder ob man
sie als vorpositive Gegebenheiten begreift, die sich notfalls auch gegen das
Gesetz durchsetzen können. Nach 1945 findet man in dieser Diskussion insoweit
keine Gemeinsamkeit. Letztere endet vielmehr darin, dass als Erkenntnisquelle
der Prinzipien weniger ein Natur- als ein Kulturrecht anzusehen sei.
Die
bereits angedeuteten unterschiedlichen Konzepte der Prinzipienbegründung,
Prinzipienfunktion und Prinzipienwirkung kristallisieren sich dann in den
1950er- und 1960er-Jahren zu zwei Wegen heraus, für die auf der einen Seite
Hans Carl Nipperdey, auf der anderen Karl Larenz stehen (Kapitel E). Im Lehrbuch
Nipperdeys ist für Kauhausen der „Endpunkt … der naturrechtlichen Begründungsdiskussion“
erreicht. Nipperdey sieht die Prinzipien in der Verfassung verankert. Die verfassungsmäßige
Ordnung enthält danach für den Richter die bindenden Aussagen über die gültigen
Prinzipien, an deren erste Stelle im Sinne einer Hierarchie Nipperdey die
Freiheit setzt. Das Grundgesetz schwebt gleichsam als „objektive Wertordnung“
über dem Privatrecht. Über deren Einhaltung wacht letztlich das
Verfassungsgericht. Der Richter ist danach nicht zur Rechtsschöpfung
berechtigt, sondern einer „rechtsimmanenten Wertungsjurisprudenz“ unterworfen
(S. 110f.). Ungeklärt bleibt hier, ob und wie Nipperdey diese Theorie auch im
Bereich seiner Tätigkeit am Bundesarbeitsgericht umgesetzt hat, der ein
gehöriges Maß an rechtsschöpferischer Kraft nachgesagt wird.
Larenz
hat einen anderen Weg vorgeschlagen. Auf der Grundlage eines postulierten
ethischen Personalismus ging Larenz von Prinzipien aus, die unabhängig von der
Verfassung im Privatrecht Gültigkeit beanspruchen. Diese Prinzipien bilden ein
offenes System, an dem sich der Richter bei der Entscheidungsfindung
orientieren soll. Nicht ohne Grund meint Kauhausen, man wisse nicht so recht,
woran man sei (S. 126).
Kauhausen
untersucht sodann, inwieweit die übrigen Lehrbücher diesen Wegen gefolgt sind.
Konkret prüft sie die Werke von Heinrich Lange, Heinrich Lehmann, Werner Flume,
Heinz Hübner, Thilo Ramm, Dieter Schwab, Eike Schmidt, Peter Bähr, Hans Brox
und Bernd Rüthers. Die Werke von Westermann, Schmelzeisen, Diederichsen, Helm,
Pawlowski und Ernst Wolf schieden aus, weil dort keine prinzipiellen Erwägungen
angestellt werden. Dem ethischen Personalismus im Sinne von Larenz folgte man
nicht. Deutlichere Spuren hinterließ Nipperdey. Die Verankerung der Prinzipien
im Grundgesetz haben fast alle mitgemacht. Freilich ist damit noch nicht
ausgesagt, welche Bedeutung und Wirkung die Prinzipien dabei einnehmen sollten.
Das ist der Gegenstand des folgenden Kapitels (F.), in dem Kauhausen
detailliert nach den Inhalten, der Hierarchie und der Funktion der Prinzipien
in den einschlägigen Lehrbüchern sucht. Alle Autoren sehen die gleiche
rechtliche Freiheit als ein Prinzip des Privatrechts an. Über die Grenzen der
Privatautonomie herrscht aber – außer bei Nipperdey und Coing – keine Klarheit.
Bei Larenz zum Beispiel zerfließen sie in einem offenen System, bei Flume
liegen sie in der veränderlichen „bestehenden Rechtsordnung“ und laufen daher
unbestimmt aus. Allgemein konstatiert man ein Spannungsverhältnis zwischen
‚frei’ und ‚sozial’, das wiederum nur Coing und Nipperdey in einer klaren
Wertehierarchie (Vorrang für die Freiheit) auflösen. Nur dort findet man die
Prinzipien im Sinne vorausschauender Rechtsregeln im Rahmen einer einheitlichen
Rechtsordnung als geschlossenes System, das vollständiges Recht und „damit
relativ bessere Rechtssicherheit und Gerechtigkeit“ verbürgt. Diese zentrale
These der Arbeit begründet Kauhausen damit, dass die Prinzipien sonst das positive
Recht brechen, anstatt es zu stärken und zu ergänzen (S. 209).
Das
auffällige Phänomen, dass die Prinzipienfrage in der Lehrbuchliteratur eine
abnehmende Bedeutung hatte, erklärt Kauhausen vor allem mit der wohlfahrtsstaatlichen
Entwicklung der Bundesrepublik - auch darin Rückert folgend (S. 143, 209). In
der Tat hat diese Erklärung etwas für sich. Vielleicht sind „satte“
Gesellschaften weniger an Werten interessiert. Es gewinnt diese These sogar
noch an Plausibilität, wenn man die Parallelität zum allgemeinen gesellschaftlichen
Werteverlust in Betracht zieht, der gemeinhin mit der Jahreszahl 1968
umschrieben wird. Freilich kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass hiermit
zunächst nur eine oberflächliche Koinzidenz beschrieben ist. Wichtig ist aber
die Beobachtung Kauhausens, dass eine bewusste Hierarchie der Prinzipien in
einem geschlossenen System geeignet erscheint, „eine stille Umdeutung“ zu
bremsen. Vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der Entwicklung des
Privatrechts im Nationalsozialismus, das sich insofern „ungebremst“ angepasst
hat, betont das Kauhausen mit Recht. Allerdings war im Nationalsozialismus der
politische Wille zur Umdeutung ganz offenbar. Ob ein anderes
Prinzipienbewusstsein der Umdeutung widerstanden hätte, ist zweifelhaft. Die
Bremswirkung immanenter Prinzipien des Privatrechts darf man nicht
überschätzen. Das wird in vielen Urteilen seit 1933 klar, die sich ganz offen
über die juristische Methode hinweggesetzt haben (vgl. Luig, NJW 1992, 2536ff.).
Im
Kapitel G. konfrontiert Kauhausen ihre Ergebnisse mit der privatrechtlichen
Aufsatzwelt in NJW, SJZ und JZ (1946-1970). Nur bei Walter Hallstein und Coing
trifft Kauhausen auf einen Umgang mit Prinzipien in der von ihr favorisierten
Form (geschlossenes System mit Hierarchisierung der Prinzipien,
Freiheitsvorrang). Ausführlicher behandelt sie noch verschiedene Beiträge Ludwig
Raisers und Fritz von Hippels sowie Josef Essers.
Insgesamt,
so resümiert Kauhausen, sei 1945 die Chance zum Neuaufbruch nicht geglückt.
Eine Stunde Null habe insofern nicht stattgefunden. Zwei Systeme zur Sicherung
der Gerechtigkeit hätten sich gebildet: vorausschauende Anwendung prinzipieller
Rechtssätze versus Abwägung im Einzelfall auf der Grundlage eines (offenen)
Systems überpositiver Prinzipien. Gerechtigkeit, so lautet das pauschale
Urteil, habe man nicht erreicht (S. 277). Nur in den Konzepten Coings und
Nipperdeys sei eine wirkliche Lösung gefunden worden, die „relativ
vorhersehbare und damit gerechte Entscheidungen sichern konnte“ (S. 277). Doch
dieser Lösung ist man zum Bedauern Kauhausens nicht gefolgt. Kauhausen schließt
mit einem eher skeptischen Ausblick auf die dogmatische Aufgabe der
Privatrechtswissenschaft, eine Privatrechtstheorie zu entwickeln, die Freiheit
und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückt.
III.
Methodisch ist die Arbeit gelungen. Die Gedankenführung ist trotz des äußerst
abstrakten Gegenstandes klar und konsequent. Die leitenden Fragen werden
formuliert und beantwortet. Jedes Kapitel endet mit treffenden Zusammenfassungen.
Angesichts des komplexen Gegenstandes ist das eine große Leistung. Auch wenn
Kauhausen am Ende (S. 270) feststellt: „In der Zeit nach 1945 gab es in der
deutschen Rechtswissenschaft wenig prinzipielles Interesse und keine Prinzipiendiskussionen
im Privatrecht“, so muss man doch sagen, dass die Lektüre von 280 Seiten über eine
Diskussion, die nicht stattfand, lohnend ist. Sie lohnt in rechtshistorischer
Perspektive allemal, weil sie den Blick auf die zeitgeschichtliche
Privatrechtsliteratur schärft und Entwicklungslinien sichtbar macht, die zwar
in eine Sackgasse zu führen scheinen, aber ganz eindeutig ein besseres
Verständnis der Privatrechtsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen. Die
Lektüre lohnt aber auch aus dogmatischer Sicht, weil sie die Wahrnehmung eines
Defizits in der Theorie ermöglicht, das mindestens bewusst gemacht werden muss,
will man Privatrecht wissenschaftlich betreiben.
Im
Blickwinkel historischer Methode zweifelhaft ist hingegen die Neigung Kauhausens,
den „Helden“ ihrer Untersuchung sozusagen Noten zu verteilen. Deutlich ist ihre
Sympathie für die Position Nipperdeys, vorwurfsvoll die Haltung gegenüber den
Autoren, welche die Prinzipienfragen nicht lösen - oder gar nicht erst
aufwerfen. Dabei unterstellt Kauhausen, dass man noch nach 1970 die
nationalsozialistische Vergangenheit „bewältigen“ müsse und prinzipielle
Sicherungen gegen einen Rückfall in das Unrecht des Dritten Reiches suchen müsse.
Das mag politisch gewünscht, gar korrekt sein. Ob es ein rechtswissenschaftliches
Bedürfnis dieser Art gibt, ist jedoch eine andere Frage. Rechtsdogmatisch
bleibt offen, ob eine prinzipientreue Rechtswissenschaft überhaupt die
Leistungsfähigkeit hat, die sich Kauhausen theoretisch erhofft. Die angestoßene
Diskussion braucht noch mehr historische Information. So wäre der Bedeutung der
Prinzipien in der konkreten Falllösung, in der Rechtsprechung nachzugehen. So
wäre weiter zu fragen, ob die Dogmatik nicht vielleicht doch mehr mit Prinzipien
arbeitet, die sie nicht ausspricht, nicht hinterfragt und doch anwendet. Das
läge durchaus in der Tradition der Privatrechtswissenschaft auch des 19. Jahrhunderts.
Gerade
für die aufgeworfene spannende Frage nach dem Verhältnis von „frei“ und
„sozial“, das schon in der Entstehungszeit des BGB kontrovers beurteilt wurde
(so dass man kaum von einer Festlegung des Gesetzes selbst ausgehen kann), wäre
es interessant, nach konkreten Auswirkungen bei den einzelnen Rechtsinstituten
des Privatrechts zu suchen. Der von Rückert (HKK-BGB, Bd. 1, vor § 1 Rdn. 88f.,
103, 105-107) mit gutem Grund vorgeschlagene „vierte Weg“ einer
„emanzipierenden Hilfe“ nach dem Motto „Gib mir nicht den Fisch, sondern lehre
mich angeln“ wird in den untersuchten Lehrbüchern nirgends verfolgt. Kauhausens
Analyse bietet für weitere Erforschung des Verhältnisses von Freiheit und
Sozialität eine solide Grundlage. Ein Desiderat bleibt die Prüfung der für die
Rechtspraxis nach 1945 überragend wichtigen Kommentarliteratur. Wie steht es
dort mit Rechtsprinzipien oder mit Fallrecht? Der juristischen Zeitgeschichte
geht die Arbeit nicht aus. Auf dem Gebiete des Privatrechts kann sie aber
nunmehr von höherem Niveau aus starten. Fragt man nach der Bedeutung
prinzipiellen Rechtsdenkens im Privatrecht, so findet man in Kauhausens Untersuchung
eine verlässliche Hilfe für die Zeit zwischen 1945 und 1980. Parallele Analysen
dieser Breite für die Zeit bis 1945 fehlen freilich noch. Hier würden sich
manche Kontinuitäten auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg ergeben
– gerade für die Frage nach „sozial“, nach dem Gemeinschaftsgedanken, von dem
Nipperdey 1928 schrieb, sein Ausgleich mit den Individualinteressen sei von
jeher die Lebensaufgabe der Juristen. Es ist ein Verdienst Kauhausens und ihres
Doktorvaters, diese Aufgabe mit den Mitteln der Rechtsgeschichte lebendig gemacht
zu haben.
Sehr
klar hat Kauhausen die beiden verschiedenen Wege zur Gerechtigkeit, die nach
1945 im Privatrecht beschritten worden sind, nachgezeichnet. Auf der einen
Seite der Weg von Nipperdey u. a., die in einem geschlossenen System den
Richter allein auf das positive Recht verweisen, auf der anderen Seite den Weg
von Larenz u. a., die dem Richter den Rückgriff auf überpositive Prinzipien
gestatten wollen. Diesen zweiten Weg hält Kauhausen für falsch – und bringt
damit eine deutlich rechtspolitische Wertung in ihre Untersuchung. Sie nennt den
zweiten Weg eine Entscheidung für „vermeintliche“ Gerechtigkeit (z. B. S. 89).
„Vermeintlich“ in den Augen Kauhausens, weil so keine Rechtssicherheit, keine
gleiche Entscheidung über Gleiches gewährleistet sei (vgl. S. 277). Darüber
lässt sich diskutieren. In der Tat fällt auf, dass die Prinzipien mal in
überpositiver Verankerung als vorrangig gegenüber gesetztem Recht aufgefasst
werden, mal hingegen eine systemimmanente Verankerung befürwortet wird, die dem
Richter den Rückgriff auf überpositives Recht konsequent abschneidet.
Mindestens zwei Punkte müssten meines Erachtens mit in den Blick genommen
werden: (1) Unter Umständen führt auch die „Abwägungsmethode“ rein tatsächlich
bei gleichen Sachverhalten zu gleichen Ergebnissen. Das wäre freilich genauer
zu untersuchen. Beispielsweise lässt sich die Gefahrenbereichsrechtsprechung
zur Beweislastverteilung bei der positiven Vertragsverletzung durchgängig auf
ein gemeinsames Prinzip (vertragliche Übernahme einer garantieähnlichen
Einstandspflicht) zurückführen (Keilmann, Dem Gefälligen zur Last, 2006; Baumgärtel/Repgen,
Handbuch der Beweislast, Bd. 3, § 280 Rdn. 19ff.). Die Rechtsprechung gibt also
eine Abwägung anhand eines überpositiven Kriteriums (Sphärentheorie) vor,
entscheidet aber in voller Übereinstimmung mit dem Vertragsprinzip. Es leuchtet
unmittelbar ein, dass die von Kauhausen bevorzugte Methode klarer und
nachprüfbarer zu Rechtssicherheit führt als die Abwägungsmethode. Ob aber die
Abwägungsmethode, der Rückgriff des Richters auf vorpositive Prinzipien nur
„vermeintliche“ Gerechtigkeit produzieren kann, erscheint mir damit noch nicht
bewiesen. (2) Ein zweiter Punkt ist die Schwierigkeit, in einem Rechtssystem
mit lediglich positivierten Prinzipien (geschlossenes System) das für jede
Rechtsordnung erforderliche Potential an Rechtskritik freizusetzen. Coing hat
dafür noch mit der - von Kauhausen eigentlich für überflüssig gehaltenen -
Verankerung seiner Prinzipien zugleich in der Wertethik einen Weg gewiesen,
weil der Gesetzgeber so selbst nicht frei von vorgegebenen Werten handeln kann.
Der von Kauhausen mit größter Sympathie beschriebene Weg Nipperdeys, der
letztlich dem Grundgesetz die Funktion der Rechtskritik zumisst, ist jedoch
holperig. Denn die Verfassung selbst ist veränderlich. Das war zu Nipperdeys
Zeiten weniger deutlich als es heute ist. Man denke nur an die Entwicklung von
Ehe und Familie in den letzten fünfzig Jahren. Die immer wieder geführten
Debatten über die Einschränkungen der Vertragsfreiheit – und deren
verfassungsrechtliche Überprüfung – zeigen es ebenfalls. Hier ist zu fragen,
wie in einem solchen geschlossenen Prinzipiensystem Rechtskritik verlässlich
möglich ist.
Hamburg Tilman
Repgen