John of Ibelin, Le Livre des Assises, hg. v. Edbury, Peter W. (= The Medieval Mediterranean 50). Brill, Leiden 2003. X, 854 S. Besprochen von Petra Roscheck.
Bei den sogenannten Assisen von Jerusalem handelt es sich um kompilierte Rechtstraktate aus dem 12. und 13. Jahrhundert zum Gewohnheitsrecht und Feudalrecht beziehungsweise Handelsrecht sowie zur Prozessordnung der Haute cour und der Cour des bourgeois, den beiden für adelige respektive nichtadelige Prozessparteien zuständigen Gerichtshöfen der Kreuzfahrerherrschaften von Jerusalem und Zypern. Die im Gegensatz zu den anonymen Abhandlungen zur Rechtsprechung an der Cour des bourgeois namentlich bekannten Autoren (aufbauend auf den unbekannter Feder entstammenden Livre au Roy Philipp von Novara, Johann von Ibelin, Geoffroy Le Tor und Jakob von Ibelin) zuzuordnende Sammlung von Betrachtungen über allgemeine Rechtsfragen von der Lehnsnahme bis zum Lehnsentzug (unter Ausklammerung des Komplexes Erbrecht sowie Rechte und Verpflichtungen des Lehnsträgers) und besondere Rechtsaspekte des Feudalwesens, die Blutgerichtsbarkeit der Krone sowie über Aufbau und Administration des Königreichs, stellt weit mehr als eine bloße Auflistung von Gesetzen und Vorschriften dar. Mit ihrer Fülle detaillierter Ratschläge zur Prozessführung könnten besagte Traktakte durchaus mit der modernen Bezeichnung eines Handbuchs für den Rechtsanwalt umschrieben werden. Dabei geben sie nicht nur Aufschluss über die Herrschaftsformen in den lateinischen Reichen des Ostens und das Zusammenleben in einer multiethnischen Gesellschaft, belegen nicht nur ein allmähliches Auseinanderdriften im juristischen und sprachlichen Bereich von französischem Mutterland und outre-mer, sondern spiegeln auch den Anspruch der Barone auf eine Beteiligung an der Machtausausübung und folglich ihre Bestrebungen wider, den Wirkungskreis der Krone einzuschränken. Hatte nicht der Verfasser der inhaltlich wie umfänglich bedeutendsten Abhandlung, Johann von Ibelin (1215-1266), Herr von Akkon und Ramla, Graf von Jaffa und Askalon, 1253 stellvertretender Verweser und ein Jahr später selbst bis 1256 Regent des Königreichs Jerusalem einst an der Seite seines gleichnamigen Onkels, des Herrn von Beirut, gegen Kaiser Friedrich II. als dem Suzerän von Zypern gekämpft?
Johann von Ibelins im Original nicht erhaltene umfangreiche Ausführungen erlangten, mit Addenda versehen, 1369 am Gerichtshof in Zypern, dem einzig verbliebenen Kreuzfahrerstaat, den Status eines offiziellen Referenzwerkes, dessen nachhaltige Bedeutung sich auch an einer 1535 vollendeten, von den örtlichen venetianischen Behörden in Auftrag gegebenen Übertragung ins Italienische sowie zahlreichen im 17. Jahrhundert vorgenommenen Abschriften ausmachen lässt. Die erste Druckausgabe wurde 1690 vom französischen Rechtsgelehrten Thaumas de La Thaumassière und die lange Jahre maßgebliche 1841 anhand einer vom Staatssekretär des Äußeren Montmorin über den Botschafter in Venedig Marquis de Bombelles 1789 bestellten Kopie einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert erstellt. Peter W. Edbury hat nun unter Berücksichtigung der von Beugnot nicht konsultierten Ausgangstexten und eines dem Grafen nicht bekannten, in Oxford aufbewahrten, aus Zypern stammenden Manuskripts aus dem frühen 14. Jahrhundert ein Quellencorpus zusammengefügt, das in gleichem Maße den Rechtshistoriker wie den Mediävisten und den Romanisten anspricht. Erstmalig liegen jetzt auch als Anhang (auf den Seiten 617 bis 810 publiziert) die den verschiedenen Handschriften beigefügten Ergänzungen und Einschübe vor, deren Überlieferung der Herausgeber auf eine verlorengegangene Rezension nebst deren Derivata zurückführt. Allerdings wäre zur Arbeitserleichterung namentlich bei rechtswissenschaftlichen Analysen eine drucktechnisch hervorgehobene Interpolierung in die betreffenden Kapitel oder eine Plazierung an deren Ende ebenso begrüßenswert gewesen wie eine Gliederung des Sachregisters nach lateinischen statt englischen Oberbegriffen - richtet sich die Edition doch an ein breites internationales Fachpublikum.
Mit welchen Schwierigkeiten diese beeindruckende Kollationierung verbunden war, zeigt ausgerechnet eine die historische Interpretation tangierende Fehlentscheidung bei einer Textrekonstruktion aus sämtlichen Fassungen: Kapitel 71 (S. 114) der Beugnot˙schen Edition beschäftigt sich mit dem Personenkreis, der außer in Fragen zu Personalien und Abstammung, kein Zeugenaussagerecht vor der Haute cour besitzt und führt unter anderen Renegaten, Personen, die während einem Jahr und einem Tag in sarazenischen Diensten gegen die Christen gekämpft haben, sowie Christen - namentlich Griechen - auf, die nicht der römischen Kirchenobödienz folgen [qui ont servi Sarrazins an et jor contre Crestiens; ou Grex ou genz de tel nassion qui ne sont obeissans à Rome]. Edbury stellt nun in Kapitel 58 (S. 167) einen Text wieder her, der historisch keinen Sinn ergibt, da er als Ausschließungsgrund auch einen bewaffneten Einsatz auf muslimischer Seite gegen die Griechen nennt, [qui ont servi an et jor sarrasins contre crestiens ou gres, ou gens de tel nacion qui ne sont obeissans a Rome: gres ne suriens ne ermins ne jacobins]. Hier liegt die Vermutung nahe, dass spätere Kopisten die mangelnde Logik erkannt und den Text stillschweigend bereinigt haben, indessen die hier angewandte Editionstechnik die irreführende oder zumindest verwirrende Formulierung gleichsam wissenschaftlich verbrieft. Selbstredend wird auf die einzelnen Varianten verwiesen und die betreffende Passage auch kommentiert, dabei jedoch eine fehlerhafte englische Übersetzung des Altfranzösischen geliefert, denn der Herausgeber führt an, besagten Satzteil dahingehend verstanden zu haben, dass von Söldnern in sarazenischen oder byzantinischen Diensten, die gegen die Christen eingesetzt wurden, die Rede ist [„I understand the phrase as found in CO to mean ´...who served Saracens or Greeks for a year and a day against Christians´“] und verweist auf eine bedauerlicherweise nicht im Wortlaut wiedergegebene Textstelle bei Philipp von Novara.
Diese kritische Anmerkung soll keinesfalls die unbestreitbaren Verdienste des Herausgebers schmälern, aber hervorheben, dass Beugnots Edition mitnichten überflüssig geworden ist. Abgesehen von der Tatsache, dass Sprachwissenschaftlern nunmehr die reizvolle Möglichkeit eines Vergleichs der voneinander abweichenden Schreibweisen geboten wird, weist nämlich die als Nachdruck aus dem Jahre 1967 leicht zugängliche Ausgabe von 1841 den unschätzbaren Vorzug auf, in den Fußnoten Thaumas de la Thaumassières Rechtskommentar aus einer Zeit, als das Gewohnheitsrecht eine noch nahezu ungeschmälerte Gültigkeit besaß, übernommen zu haben.
Saarbrücken Petra Roscheck