Jansen, Stefanie, Wo ist Thomas Becket? Der ermordete Heilige zwischen Erinnerung und Erzählung (= Historische Studien 465). Matthiesen, Husum 2002. 240 S. Besprochen von Jörg Schwarz.

 

Nur in wenigen Fällen kann sich der Verfasser bzw. die Verfasserin einer historischen Studie darauf berufen, die exakt formulierte Fragestellung seiner bzw. ihrer Arbeit direkt in den Quellen zu finden. Stefanie Jansen jedoch wird dieses Glück in ihrer Arbeit – einer an der Universität Frankfurt am Main entstandenen Dissertation aus dem Jahr 2000 – zuteil. „Glück“ bedeutet dabei (wie man gerechterweise hinzufügen muss) immer auch die Fähigkeit, dergleichen aus dem Stimmengewirr der Quellen herauszuhören und es auf geschickte Weise auf eine andere Bedeutungsebene zu transponieren. In einer der zahlreichen Viten, die über Thomas Becket, den am 29. Dezember 1170 im Dom von Canterbury ermordeten Erzbischof dieser Stadt, entstanden sind, der Vita Sancti Thomae Cantuariensis Archiepiscopi et Martyris des Edward Grim, wird folgender Dialog überliefert: „Wo ist Thomas Becket, der Verräter des Königs und des Reiches?’ Als sie keine Antwort bekamen, schrieen sie lauter: ‚Wo ist der Erzbischof?’ Darauf antwortete eine unerschrockene Stimme [...]: ‚Hier bin ich, nicht ein Verräter, sondern ein Priester, was sucht ihr mich?’“. Diese Frage – „Wo ist Thomas Becket?“ – macht Jansen zur Ausgangsfrage ihrer Untersuchung, die, wie die Autorin in der Einleitung versichert (S. 10f.), kein Buch über den vieltraktierten Mord im Dom, keine Darstellung über „Beckets letzte Tage“ (vgl. William Urry, Thomas Becket. His Last Days, Stroud 1999) sein will. Vielmehr will Jansen in ihrem Buch die Frage stellen, wie die zeitgenössischen Berichterstatter des Lebens Thomas Beckets ihren Stoff erzählen; wie sie den Konflikt zwischen ihm und seinem Widerpart, König Heinrich II. von England (1154-1189), wahrnehmen; welche Geschichten sie konkret auswählen. Und weiter: Wie entstand die für den Historiker fassbare Geschichte vom Konflikt zwischen dem Erzbischof und Heinrich – tatsächlich erst nach Beckets Tod oder bereits in den sieben Jahren des Exils in Frankreich? Ist es nur eine Geschichte, die erzählt wird oder sind es mehrere Geschichten? Worauf, auf welche Vorlagen, welches Material, greifen die Verfasser dieser Geschichten zurück? Schließlich: In welcher Situation haben die betreffenden Autoren geschrieben? Und wer waren ihre Adressaten?

 

Alle diese Fragen – Jansen weiß es nur zu genau und versteht es, auf mögliche Einwände zu reagieren – „riechen“ auf den ersten Eindruck nur allzu sehr nach klassischem Proseminar, nach dem berühmt-berüchtigten Quis? Quid? Ubi? etc. Doch über dieses „grundlegende Verfahren“ (S. 11) der Quellenkritik hinaus will die Autorin mit Hilfe neuerer wissenschaftlicher Ansätze zu Wahrnehmungs- und Erinnerungsphänomenen ebenso wie zur Erzähltheorie zu Fragen der Multiperspektivität und Rekonstruktion von Geschichte bzw. von Geschichten aus Erinnerungen führen. Mit anderen Worten: Jansens Studie ist eingebettet in die Forschungen ihres Lehrers Johannes Fried, der derartige Fragen inzwischen in einer umfangreichen Monographie abgehandelt hat (J. Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004). Gewissermaßen auf dem Weg zu diesem Buch, das inzwischen eine große Resonanz hervorgerufen hat, wies Fried in einer vorbereitenden Studie auf die Arbeit seiner Schülerin und die essentials deren Aussagen hin. Angesichts des Ausmaßes an Verfremdungen und Veränderungen, die die Becket-Geschichte in den Lebensbeschreibungen des Erzbischofs erfährt, schloss Fried mit dem Ausruf: „Arme Historiker!“ (Ders., Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: Historische Zeitschrift 273, 2001, S. 561-593, hier S. 571).

 

In dem intelligent angelegten und mit Verve geschriebenen Buch Stefanie Jansens wird dies nun alles ausführlich dargelegt. Die Verfasserin präsentiert ihre Feinanalyse zunächst in dem Großabschnitt „Gleichzeitige Quellen“ (2.), in dem zuerst die Becket-Briefe (2. 1), sodann die erzählenden Quellen (2. 2) untersucht werden. Ein weiterer Großabschnitt widmet sich unter der Überschrift „Nach dem Mord im Dom“ zum einen den Viten, die über den alsbald heilig Gesprochenen geschrieben worden sind (3. 1), sowie den Chroniken, die über den Becket-Fall, im Zentrum oder ganz am Rand, berichten (3. 2). Das Ergebnis dieser Untersuchungen, dargelegt an einem für mittelalterliche Verhältnisse scheinbar einzigartig gut dokumentierten Gegenstand, scheint für jegliche Formen von historischem Arbeiten in der Tat deprimierend, jedenfalls stark ernüchternd. Wie die Ritter 1170 in der Kathedrale von Canterbury – so Jansen ganz am Schluss ihres Buches (S. 212) – stehe man da und riefe aus: „Wo ist Thomas Becket?“. Und wie diese erhielte man zunächst keine Antwort; man probierte es wieder: „Wo ist der Erzbischof?“ Schließlich halle von allen Seiten das Echo: „Hier bin ich“, doch, so das Fazit, der Ursprung dieses vielfachen Echos sei nur schemenhaft zu erkennen. Zu diesem Ergebnis, so Jansen, trage vor allem die Tatsache bei, dass, etwas verkürzt und zusammenfassend gesagt, die Becket-Geschichten, die wir heute kennen, alle rückwärts hin ausgerichtet, auf den Mord hin ausgerichtet und projiziert worden seien. Alle Erzähler dieser Geschichte, selbst – und das ist das Ernüchterndste von allem – die Augenzeugen seien in hohem Maße auf ihre schriftliche Vorlagen angewiesen, die sie, den jeweiligen Erzählsituationen und Erfordernissen ihres Publikums entsprechend, abwandelten, verfremdeten, neu zusammengestellt weitererzählten. Bei allen, so Jansen, sterbe Thomas Becket als Märtyrer für die Rechte der Kirche, nicht für die Rechte und Besitzungen seiner Diözese bzw. des Krönungsrechtes in Canterbury (S. 211) – doch gerade dies ist, wie Becket in seinen Briefen selbst bezeugt, der einzige „materielle Punkt“, der bei den Verhandlungen in Fréteval auf der Tagesordnung gestanden habe. Niemand wird der Autorin hier widersprechen; in diese Verhandlungen mehr hineinzulegen wäre reine Spekulation, nicht belegbare Ausdeutung.

 

Nur „schemenhaft“ sei der Ursprung des vielfachen Echos zu erkennen, so Jansen im Schlusssatz des Buches. Auch wenn der eine oder andere Leser gerne das „nur schemenhaft“ vielleicht doch noch einmal ins (so weit irgend möglich) Positive gewendet, also die Schatten, Umrisse und Schemen als solche als plausible und verwertbare Erkenntnisse gedeutet gesehen hätte: Das Ergebnis der Arbeit Jansens überzeugt, wie weitreichend die erkenntnistheoretischen Implikationen, die sich daraus ergeben, auch immer sein mögen. Es ermahnt zu einem so kritisch wie möglich an der jeweiligen Genese und jeweiligen Erfordernissen der Erzählsituation ausgerichteten Blick auf erzählende Quellen, völlig unabhängig von der zeitlichen Nähe, einem der klassischen Hauptargumente des Grundkriteriums der „Glaubwürdigkeit“, zum beschriebenen Gegenstand. Erzählende Quellen – und dies hätte, um mögliche Depressionen nach der Lektüre dieses Buches abzumildern, vielleicht doch noch einmal hervorgehoben werden können – verlieren als solche zwar keineswegs an Wert; doch sind, weit stärker als bisher, andere Fragen an sie zu stellen. Der Quellenwert verlagert sich von der Aussage auf den Aussagenden.

 

Mannheim                                                                                                    Jörg Schwarz