Hansel, Rüdiger, Jurisprudenz und Nationalökonomie. Die Beratungen des BGB im Königlich Preußischen Landes-Ökonomie-Kollegium 1889 (= Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz, Beiheft 10). Böhlau, Köln 2006. XII, 304 S. Besprochen von Werner Schubert.
Die Frankfurter Dissertation Hansels ist hervorgegangen aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt: „Zur Diskussion zwischen deutschen und österreichischen Juristen und Ökonomen im späten 19. Jahrhundert um eine soziale Gestaltung der Rechtsordnung“ (im Rahmen des Schwerpunktprogramms: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“). Den Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens bildete die Feststellung, „dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein besonderes Interesse von Seiten der Juristen der Nationalökonomie galt. Beide Fächer verstanden sich zu dieser Zeit als Leitwissenschaften in der Auseinandersetzung um unterschiedliche Ideen und Konzeptionen zur Gestaltung einer Rechts- und Wirtschaftsordnung“ (S. V). Hansel behandelt diese Thematik anhand der Verhandlungen des „Königlich Preußischen Landes-Ökonomie-Kollegiums“ (LÖK) über den ersten BGB-Entwurf im Jahre 1889. Zunächst erläutert Hansel den Forschungsansatz (S. 1-31) näher. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war man sich nach Hansel bewusst, dass die Jurisprudenz „allein nicht in der Lage sei, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben abzubilden. Es bedurfte statistischer und nationalökonomischer Erkenntnisse, um ein zeitgemäßes Recht zu schaffen“ (S. 10). Die Nationalökonomie wurde für Juristen zu einem Maßstab, der an das Privatrecht angelegt wurde: „Rechtssätze werden auch von einem ökonomischen Standpunkt aus bewertet; Zivilrechtswissenschaftler nehmen nationalökonomische Recherchen zur Kenntnis und versuchen, sie in die zivilrechtliche Dogmatik umzusetzen“ (S. 22). Nicht nur der Verein für Socialpolitik, sondern auch landwirtschaftliche Gremien waren wichtige Beratungsgremien von Juristen und Ökonomen. Unter den landwirtschaftlichen Organisationen nahm das 1842 vom preußischen Staat begründete LÖK (1921 aufgelöst) eine herausragende Stellung ein. Es diente für die preußische Regierung dem Landwirtschaftsminister als Beratungsgremium und war zugleich öffentlichrechtlicher Dachverband für die privatwirtschaftlichen Vereine und Landwirtschaftskammern. Nach der Reorganisation des LÖK in den 70er Jahren war die Zahl der vom Landwirtschaftsministerium zu ernennenden Mitglieder auf ein Drittel der Gesamtmitglieder beschränkt. Der Vorsitzende wurde ab 1878 vom Plenum gewählt. Die Plenarberatungen über den BGB-Entwurf im November 1898 wurden durch eine Kommission im Oktober 1889 (hierzu lagen die Gutachten von vier Referenten vor) vorbereitet, in welche der LÖK-Vorsitzende v. Marcard (Unterstaatssekretär im Landwirtschaftsministerium) 14 Nichtmitglieder berief, unter denen die Prof. Dieckerhoff (Veterinärmediziner) und Gierke sowie Struckmann (Mitarbeiter von Gottlieb Planck in der 1. BGB-Kommission) waren. In der Kommission war ferner das LÖK-Mitglied Danckelmann (Oberforstmeister; nichtständiges Mitglied der 2. BGB-Kommission). Leider sind Aufzeichnungen über die 16 Sitzungen der Kommission nicht überliefert, so dass als Quelle für die Beratungen in erster Linie die mit einer Begründung versehenen Beschlussvorlagen der Kommission neben den Referaten im Plenum in Betracht kommen. Sämtliche Materialien der BGB-Beratungen, insbesondere die Stenogramme der Plenarverhandlungen des LÖK, sind enthalten in einem Ergänzungsband der Landwirtschaftlichen Jahrbücher (1890). An den Beratungen nahmen auch teil der Landwirtschafts- und Justizminister sowie der Staatssekretär des Reichsjustizamts Oehlschläger. Aus den 48 Beratungsgegenständen hat Hansel die Sachmängelgewährleistung beim Viehkauf, die Diskussion über den Grundsatz „Kauf bricht Miete/Pacht“ sowie die Fragen der Rentenschuld, der Grundschuld und der Grunddienstbarkeiten ausgewählt. Zu diesen Tagesordnungspunkten bringt Hansel zunächst eine allgemeine Einführung in den Beratungsgegenstand und Hinweise auf die zeitgenössischen Streitfragen. Anschließend geht er dann auf die einzelnen Argumente ein, die sich in den Gutachten für die Kommission, in der Begründung der Kommissionsbeschlüsse sowie in den Referaten und Redebeiträgen in der Plenarberatung finden. Im Einzelnen lehnte das LÖK die Rentenschuld als einzige Belastungsform für den ländlichen Grundbesitz ab. Der Personalkredit sollte durch eine stärkere Trennung vom Realkredit ausgebaut werden; dieser sollte vornehmlich auf der Grundschuld beruhen. Entgegen der Entscheidung der 1. BGB-Kommission war die Begründung und Aufhebung von Grunddienstbarkeiten nicht von einer Eintragung bzw. Löschung im Grundbuch abhängig zu machen. Ferner sollte entgegen dem 1. BGB-Entwurf die Viehmängelhaftung sich nicht nach dem deutschrechtlichen System der Hauptmängel, sondern mit sachgemäßen Einschränkungen nach dem allgemeinen Gewährleistungsrecht richten. In diesem Zusammenhang weist Hansel mit Recht auf die große praktische Relevanz der Viehmängelhaftung – hinzu kommt noch die wichtige Tierhalterhaftung – zur damaligen Zeit hin, da Zugtiere im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch eine zentrale Bedeutung für das zivile und militärische Transportwesen hatten. Zum Grundsatz Kauf bricht Miete/Pacht empfahl das LÖK den gegenteiligen deutschrechtlichen Grundsatz.
In den Diskussionen zwischen Juristen und Ökonomen bzw. ökonomisch vorgebildeten Landwirten kam vor allem als rechtspolitisches Leitbild die Lenkungswirkung von Gesetzen zur Sprache. Das LÖK bekannte sich grundsätzlich zum Leitbild freier Märkte, auf dem Wettbewerb herrscht, ohne dass es die Bedeutung der gestaltenden Rolle des Staates verkannte, der Fehlentwicklungen entgegenwirken sollte. Als die Terminanten des Marktgeschehens waren von den LÖK-Mitgliedern nach Hansel Angebot und Nachfrage, die Verkehrsinteressen und die wirtschaftlichen Befugnisse anerkannt. Auch wenn man noch nicht von einem kostentheoretischen Ansatz im ausgehenden 19. Jahrhundert sprechen kann, so spielten bereits die Kostenargumente und unterschiedliche Kostenarten (u. a. Kosten der Rechtsdurchsetzung, Kosten bei Vertragsgestaltung, Kosten für Eintragung dinglicher Rechte usw.) in der Diskussion eine erhebliche Rolle. Insgesamt zeigen die Arbeiten der Juristen, die sich vor allem auf Roscher, Schäffle und Schmoller bezogen, und Ökonomen im LÖK, dass diese sich der grundlegenden Bedeutung der Rechtsordnung für die Gestaltung der Wirtschaft bewusst waren: „Das Privatrecht konnte sich nicht mehr auf einzelwirtschaftliche Sichtweisen beschränken und vom volkswirtschaftlichen Geschehen und Denken abwenden. Juristen und Nationalökonomen sahen sich herausgefordert, eine zukunftsweisende Rechtsordnung zu entwerfen, die mit Innovationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts Schritt halten konnte“ (S. 224). Den Juristen, so Hansel, waren gesamtwirtschaftliches Denken und die Berücksichtigung wirtschaftlicher Bedürfnisse geläufig, wie sich dies bereits in den Arbeiten des Sachenrechtsredaktors Johow zeigte.
Mit seinen Untersuchungen hat Hansel die Bedeutung der
volkswirtschaftlichen Fragen und Postulate für das Privatrecht des ausgehenden
19. Jahrhunderts erstmals zusammenhängend herausgestellt. Nach Ansicht der
damaligen Zeit hatte die Zivilgesetzgebung auch den ökonomischen Standpunkt zu
berücksichtigen, der mit der „sozialen Aufgabe“ des Privatrechts kollidieren
konnte, aber auch oft übereinstimmte (z. B. in der Bewertung des Grundsatzes
Kauf/Pacht bricht Miete). Zu bedauern ist, dass das Werk kein Verzeichnis der
sämtlichen 48 Beratungsgegenstände zum BGB enthält und dass Hansel auf einen
detaillierteren Hinweis auf weitere wichtige Beratungsgegenstände des LÖK (etwa
auf Fragen der Formbedürftigkeit von Rechtsgeschäften und auf weitere Fragen
des Miet- bzw. Pachtrechts) verzichtet hat. Auch die an der Diskussion
beteiligten Personen hätten biographisch noch detaillierter dargestellt werden
können. Die Hinführung des Lesers auf den Beratungsgegenstand „Grundschuld“
erscheint im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion auch in den
BGB-Kommissionen eher zu knapp. Insgesamt hat Hansel einen weiteren wichtigen
Aspekt der mit der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs verbundenen
rechtspolitischen Diskussion herausgearbeitet, der bis heute, wenn auch in
erheblich differenzierterer Form, die Gesetzgebungsdiskussionen bestimmt.
Allerdings bedürfen die von Hansel entwickelten Forschungsansätze und
Forschungsergebnisse noch einer detaillierteren Ausformung, etwa durch Heranziehung
weiterer Beratungsgremien der Wirtschaft und der Landwirtschaft und durch
Einbeziehung wichtiger wirtschaftspolitischer Gesetze der Kaiserzeit (z. B. des
GmbH-Gesetzes, des Börsengesetzes und des Versicherungsvertragsgesetzes).
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Werner Schubert |