Handbuch der
europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert – Institutionenund
Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, hg. v. Brandt, Peter/Kirsch,
Martin/Schlegelmilch, Arthur unter redaktioneller Mitarbeit von Daum,
Werner, Band 1 Um 1800. Dietz Verlag Bonn 2006. 1224 S. Besprochen von
Karsten Ruppert.
Der
Ruf nach interdisziplinären oder vergleichenden historischen Darstellungen (und
hier besonders in europäischer Perspektive) wird oft erhoben, doch selten
eingelöst. Daher wird ein Handbuch, das sich vorgenommen hat, die
Verfassungsgeschichte Europas im 19. Jahrhundert (bis 1914) zu präsentieren von
vorneherein mit Zustimmung rechnen können. Dazu gesellt sich Respekt für Herausgeber
und Autoren, die dafür nicht weniger als vier voluminöse Bände veranschlagt
haben. Parallel dazu werden die jeweiligen Quellentexte, meist aus den
einschlägigen Gesetzessammlungen kopiert und die in den weniger gängigen
Sprachen auch übersetzt, auf einer CD-ROM zur Verfügung gestellt; die zum
anzuzeigenden ersten Band liegt bereits vor. An eher versteckter Stelle
(„Danksagung“ S. 34) erfährt man, dass der Anstoß zu diesem „Großprojekt“ auf
den 1994 verstorbenen Berliner Ordinarius Otto Büsch zurückgeht, die
Finanzierung von der Friedrich-Ebert-Stiftung übernommen wurde und die
wissenschaftliche Verantwortung beim „interdisziplinären Institut für
Verfassungswissenschaften der Fernuniversität in Hagen“ liegt.
Das
Kernproblem eines solchen Handbuchs, einen Arbeitsbegriff von Verfassung zu
entwerfen, der allen Einzelabhandlungen zugrunde gelegt werden kann und
zugleich die an politischen Wertvorstellungen orientierte moderne Vorstellung
von Verfassung wie auch die stärker inhaltlich ausgerichtete des 19.
Jahrhunderts abdeckt, wird überzeugend gelöst. Eher pragmatisch als abstrakt
und prinzipiell sollen immer jeweils die 12 „hauptsächlichen Organisations- und
Regierungsbereiche staats- und regierungspolitischen Handelns“ untersucht
werden, auch wenn keine voll ausgebildete Verfassungsordnung oder gar eine
geschriebene Verfassung vorliegt (S. 11). Die Umsetzung dieses durchaus
akzeptablen Ansatzes einer vergleichenden Verfassungsgeschichte ist allerdings
nicht genügend durchdacht worden. Denn die „12 Inhaltskomponenten“ beziehen
sich eben nicht nur auf die Staatstätigkeit, sondern umfassen auch
Institutionen und Grundzüge der Verfassung wie Verfassungsstruktur, Wahlen,
Grundrechte und Verfassungskultur. Nicht ganz zu vermeiden ist eine gewisse
Monotonie der Darstellung, da die bereits erwähnten Verfassungselemente und die
Tätigkeiten (Verwaltung, Justiz, Militär bis hin zur öffentlichen Wohlfahrt)
aller „um 1800“ in Europa bestehenden Staaten von Großbritannien bis zum
Osmanischen Reich im Hauptteil immer wieder auf denselben Feldern analysiert
werden.
Wem
ein solcher Verfassungsbegriff im Vergleich zu der in der
Verfassungsgeschichtsschreibung ja ebenfalls vertretenen Vorstellung von der
Verfassung als der Gesamtheit der politischen und sozialen Ordnung zu eng
erscheint, dem muss entgegengehalten werden, dass der damit verbundene Anspruch
angesichts des umfassenden Gegenstands wohl kaum hätte eingelöst werden können.
Andererseits ist das, was dann ausgebreitet wird, aber auch nicht die „Rechtspraxis“
(was ist darunter in der Verfassungsgeschichte überhaupt gemeint?) „im gesellschaftlichen
Wandel“, die doch nach dem Untertitel des Handbuchs, dessen Hauptanliegen sein
soll.
Mit
der etwas eigenartigen Zeitangabe „um 1800“ soll zum Ausdruck gebracht werden,
dass das Schwergewicht der europäischen Verfassungsentwicklung in der Zeit um
die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gesehen
wird, sich die Autoren aber vorbehalten, im jeweiligen Fall weit, manchmal
mehrere Jahrhunderte, zurückzugreifen, aber nirgends über das Ende der
napoleonischen Hegemonie hinausgegangen werden soll.
Nach
den begrifflichen und methodischen Vorüberlegungen folgen in dem wenig
organisch aufgebauten einleitenden Teil bezeichnenderweise „Anmerkungen“
genannte Ausführungen „zum gesamtgesellschaftlichen Kontext der europäischen
Verfassungsentwicklung um 1800“. Ihren Anspruch, die Verfassungsgeschichte
sozialgeschichtlich zu vertiefen, lösen sie nicht ein, da sie über
Allgemeinplätze nicht hinauskommen. Wenig überzeugt auch die anschließende
Darstellung der Wechselwirkung zwischen den „Nordamerikanischen Freistaaten“
und Europa, da dort einiges zur Entwicklung in den britischen Kolonien bis zur
Inkraftsetzung der Verfassung 1789 gesagt wird, doch wenig zu deren Rückwirkung
auf Europa. Legt man die später folgenden Artikel zu den einzelnen europäischen
Ländern zugrunde, dann gab es die auch nicht, dort wird jedenfalls nicht darauf
eingegangen.
Obwohl
es doch sinnvoll gewesen wäre, gibt es auch so gut wie keine wechselseitige
Bezüge zwischen dem Kapitel über das „Europäische Verfassungsdenken
um 1800“ und dem folgenden empirischen Hauptteil. Es hätte nahe gelegen, das
Denken nicht eigens zu behandeln, sondern in die jeweiligen Staatenartikel zu
integrieren. Denn das Verfassungsleben vollzog sich nicht ohne Theorie und
diese hat jenes reflektiert. Das Kapitel selbst besteht aus zwei völlig
unterschiedlichen Teilen. Einem „Abriss“ von Werner Daum, der einiges streift,
aber noch mehr ignoriert. Vor allem aber kennt er die Position nicht eines
Denkers aus dessen Schriften, sondern schöpft alles aus sekundären Quellen.
Hingegen zeigen Pierangelo Schieras Ausführungen über „Komponenten und
Zielrichtung eines europäischen Konstitutionalismus“ die gedanklichen
Grundlagen der Verfassungsgebung in den wichtigsten europäischen Staaten auf
breiter Kenntnis der sie begleitenden Debatten auf.
Schließlich
versuchen die Herausgeber, in einem gemeinsamen Abriss entlang der „12
Dimensionen“ einen synoptischen Überblick über die europäische
Verfassungsentwicklung zu geben. Als Motive und Gründe für den Aufbruch werden
herausgestellt: die Integration neu geschaffener Staaten, die angesichts des
Menetekels der Französischen Revolution nicht mehr zu umgehende Einbindung
bisher von den politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossener Schichten
und die finanzielle Abschöpfung der Gesellschaft für öffentliche Zwecke.
Deutlich, wenn auch vielleicht etwas zu prononciert, herausgearbeitet wird, dass
nicht die Verfassungen der französischen Revolution für das 19. Jahrhundert geschichtsmächtig
wurden, sondern dass Napoleon in zweierlei Hinsicht prägend war. Erstens wurde
durch die Begründung seines Kaisertums wie durch die Installation monarchischer
„Napoleoniden“ das Feld für eine Restauration der Monarchie vorbereitet (nur
die Schweiz überlebte als Republik) und zweitens wurden die napoleonischen
Verfassungen vor 1810 das Modell für den Konstitutionalismus des Jahrhunderts,
der sich in zahlreichen Varianten entfaltete. Die Verfassungsexperimente
Napoleons werden also erstaunlich positiv bewertet und bis 1810 als Versuche,
parlamentarische Mitbestimmung zu ermöglichen, verstanden; nur über die ab 1810
wird das Verdikt autokratisch gefällt. Zu einer solchen Sicht kann man aber nur
kommen, wenn in Frankreich wie in den Satellitenstaaten der
oligarchische Charakter der Systeme ausgeblendet wird. Die Repräsentation
beschränkte sich auf die Nutznießer des Regimes und auf die vom jeweiligen
Herrscher Abhängigen.
Wenn
auch die Vorbildfunktion und Ausstrahlung Frankreichs in diesem Zeitraum nicht
zu bestreiten ist, so vernachlässigt dieser Versuch einer Synthese doch die
Entwicklung in den anderen Ländern zu sehr zugunsten von Republik, Konsulat und
Kaiserreich. Er macht darüber hinaus ein Grundproblem der europäischen
Verfassungsgeschichte dieser Zeit deutlich, aus dem auch für die Konzeption des
Handbuchs Konsequenzen hätten gezogen werden müssen: vieles war vorläufig,
Experiment und Gedankenspiel, nur wenig hat die Epochengrenze überdauert; das
hätte eine kürzere Behandlung dieser Zeit nahe gelegt.
Wenn
die folgenden Artikel über die Verfassungsbewegungen in den
verschiedenen europäischen Staaten auch von unterschiedlicher Qualität sind, so
gibt es doch Defizite, die allzu häufig zu finden sind. Unter der
herangezogenen Literatur findet sich viel Gängiges und Allgemeines wie
zusammenfassende Artikel, Handbücher und Abrisse, die sich meist kaum
voneinander unterscheiden. Die Spezialliteratur wird zu oft mehr zitiert als
verarbeitet. Von einem Handbuch kann man auch verlangen, dass die Literatur
kommentiert und in den Gang der Forschung eingeordnet wird.
Auf
einer solchen Grundlage geraten die Aussagen manchmal banal und oft
unbefriedigend allgemein. Wenn z. B. ausgeführt wird, dass sich beim Übergang
vom Alten Reich zum Rheinbund Veränderungen von „gigantischem Ausmaß“ vollzogen
hätten, dann wüsste man gern, welche das gewesen sind und warum sie so
außergewöhnlich waren. Weitgehend auf der Grundlage von Zusammenfassungen und
entlang der Verfassungs- und Gesetzestexte geschrieben, gleichen doch viele
Ausführungen einem Gerippe, an dem man das Fleisch vermisst: Der Leser erfährt
dann, dass es diese oder jene Institution gegeben habe. Doch warum wurde sie
eingeführt?, wie funktionierte sie?, wie ist ihre Stellung im Ganzen der politischen
Ordnung zu bewerten? All diese sich aufdrängenden Fragen
bleiben zu oft ohne Antwort. Es zeigt sich auch, dass der Versuch, die
Entwicklung in den verschiedenen Staaten mit Hilfe der 12 vorgegebenen
Dimensionen zu integrieren, dann unbefriedigend bleibt, wenn in den einzelnen
Kapiteln allzu oft nur auf den behandelten Staat gestarrt wird, ohne auch zu
vergleichen und auf die europäischen Bezüge einzugehen.
Bedauerlicherweise
gehören einige Artikel zur deutschen Entwicklung zu den schwächsten, nämlich
die zum Rheinbund, den napoleonischen Modell- und den süddeutschen
Reformstaaten. Hier finden sich sachliche Fehler( z. B. wurde der Kaiser im 18.
Jahrhundert längst nicht mehr allein nach den Bestimmungen der „Goldenen Bulle“
gewählt noch gab es einzelne „deutsche Länder“) und durchgehend falsche
Vorstellungen vom Alten Reich wie von den Reformen des Zivil- und Strafrechts
in den süddeutschen Staaten.
Woran liegt es, dass der erste Band dieses begrüßenswerten Unternehmens eher ein nützliches Nachschlagewerk geworden ist als ein wissenschaftlich überzeugendes Handbuch? Vermutlich vor allem deswegen, weil sich zu oft statt der jeweiligen Experten (auch aus dem Ausland) Verfasser zur Materie äußern, die sich auf dem Gebiet, das sie behandeln, bisher wenig ausgezeichnet haben. Lag das daran, dass die Berliner Schule und die Historiker aus dem Umkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung unter sich bleiben wollten? Was auch immer der Grund war, für die weiteren Bände kann eine Öffnung nur von Vorteil sein. Dies auch deswegen, weil dann die Chance größer ist, dass ein so ambitioniertes und umfangreiches Unternehmen auch wirklich zu Ende geführt wird.
Eichstätt Karsten Ruppert