Gosewinkel, Dieter/Masing, Johannes, Die Verfassungen in Europa 1789-1949. Eine wissenschaftliche Textedition. Beck, München 2006. XXIV, 2116 S. Besprochen von Wilhelm Brauneder.

 

Zu den zahlreichen Editionen von Verfassungstexten (siehe dazu E. Grothe, Die große Lehre der Geschichte, in: Rechtsgeschichte 9/2006, 148ff.) hat sich eine weitere gesellt. Ihr zeitlicher Rahmen ist nachvollziehbar: Vom „Aufstieg des modernen Verfassungsstaats“ bis hin zu seiner „Wiedererstehung beziehungsweise seinem Ausbau 1945/46“; die restliche Zeit wird sozusagen dem geltenden Recht zugeordnet (1). „Großbritannien“ sprengt durch die Aufnahme älterer Texte den zeitlichen, den geographischen Rahmen die „Vereinigten Staaten von Amerika“. Beide Ausnahmen werden mit Verflechtungen zur kontinentaleuropäischen Verfassungsentwicklung begründet. Freilich eine Einbahnstraße: Hinausführende Einflüsse etwa auf die südamerikanischen Verfassungen bleiben ausgeblendet. Aber nicht nur dies. „Ausgegrenzt“ bleiben ausdrücklich die sogenannten „sozialistischen Räteverfassungen“, weil ihnen ein anderes „Legitimationskonzept“ zugrundeliege. Diese Begründung steht allerdings auf tönernen Füßen: Etwa stimmt das „Legitimationskonzept“ der USA-Verfassungen mit dem der französischen Charte von 1814 auch nicht überein. Noch gravierender als dieser konzeptionelle Mangel ist ein ganz anderer: Bei föderalistischen Staaten wie der Schweiz und Deutschland fehlt jegliche Kantons- bzw. Landesverfassung, und dies selbst in Zeiträumen, wo beide Gebilde Staatenbünde waren. Ähnliches gilt für die österreichischen Landesordnungen (1495, FN 2). Wesentliche Elemente der schweizerischen wie der deutschen Verfassungsentwicklung, die sich in den Ländern abspielte – man denke etwa an Grundrechte, Verfassungsgerichtsbarkeit –, bleiben damit undokumentiert. Ausgeklammert sind weiters, was prinzipiell nicht unverständlich ist, Verfassungsentwürfe. Im Falle Österreichs führt dies dazu, den richtungsweisenden Reichstags-Verfassungsentwurf 1848/49 (Kremsierer Verfassungsentwurf) nicht zu finden. Wenn „grundsätzlich nur tatsächlich in Kraft getretene Vollverfassungen und ihre Änderungen“ (1) aufgenommen wurden, dann frägt sich, warum dies mit der Reichsverfassung (Paulskirchenverfassung) 1849 geschehen ist: Die faktische Geltung fehlte ihr ja völlig. Inkonsequent angewendet ist auch die Regel, nur „Vollverfassungen“ aufnehmen zu wollen (1): Fortzulassen gewesen wären dann u. a. zu Frankreich der Beschluss vom 2. August 1802 (253), zu Österreich die beiden Patente vom 31. Dezember 1851 (1486ff.). Man kann diese Akte als „Änderungen“ verstehen, dann aber fehlen zu Österreich jene vom August 1851 (RGBl. 194, 196). Merkwürdig ist, um in Detailkritik fortzufahren, dass zu Österreich der dritte Rechtsakt vom 31. Dezember 1851 (nur eine Reichsgesetzblatt-Nummer weiter), nicht erwähnt wird, der die neuen Verfassungsgrundsätze festlegte und dessen wesentliche Ergänzung das, sehr wohl aufgenommene, Oktoberdiplom 1860 (1490ff.) darstellt. Hier sei eingeflochten, dass das österreichische Reichsgesetzblatt nicht, wie es aber geschieht, so wie sein deutscher Namensvetter nach Seiten, sondern nach Nummern zitiert wird.

 

Einen eindeutigen Fehlgriff stellt das zu Ungarn Dargebotene dar: Es ist dies lediglich die Verfassung 1848, deren „tatsächliche Wirkung“ schon im Herbst 1849 ein erstes Ende fand. Welche Verfassung galt in Ungarn nach Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit mit dem Ausgleich 1867? Die Nichtaufnahme ist in einer irrigen Weise wie folgt begründet: „Ungarn fehlte die maßgebend ungeteilte Regelungsgewalt für alle überregionalen finanziellen, außenpolitischen und militärischen Angelegenheiten“ (1409): Die Konstruktion der zwei-Staaten-Monarchie ist damit völlig verkannt. Dies bestätigt der Umstand, dass Österreichs Verfassung 1867 sehr wohl Aufnahme fand! Dies hätte eigentlich nach der eben angeführten Begründung gar nicht geschehen dürfen, denn Österreich (Cisleithanien) und Ungarn waren aufgrund des Ausgleichs zwei völlig gleichgestellte Staaten! Abgesehen von der verfehlten, föderalistische Gestaltungen negierenden Konzeption steht es selbst mit der Auswahl der Verfassungen des Schweizer Bundes nicht zum besten: Warum fehlt die Mediationsakte 1803? Hier hätte sich übrigens die Verzahnung mit den Kantonsverfassungen sehr deutlich gezeigt. Die erste aufgenommene Verfassung der Tschechoslowakei ist jene von 1920 – der Staat wurde aber schon 1918 gegründet, was war zuvor? Man erinnert sich daran, dass Verfassungsfragmente nicht abgedruckt werden – für den gleichfalls 1918 neu entstandenen Staat der Republik (Deutsch-)Österreich fehlen sie für diesen Zeitraum allerdings nicht: Die Edition verwehrt daher einen Vergleich der beiden nahezu am selben Tag entstandenen Staaten in ihrer Frühphase. Wie war dies übrigens in Estland, auch hier bestand der Staat schon vor 1920, ebenso in Lettland und in Litauen vor 1922?

 

Die Akribie des Abdrucks der Texte ist in Hinblick darauf, dass spätere Änderungen minuziös berücksichtigt werden, positiv hervorzuheben, ebenso die Übersetzung bisher in Deutsch nicht vorliegender Texte. Aber man frägt sich, welchen Wert die Edition insgesamt besitzt. Ansprüchen der Rechtsgeschichte genügt die teils sehr seltsame Auswahl jedenfalls nicht. Diese Disziplin verlangt eine andere Textauswahl als sie Vertreter des geltenden Staatsrechts für dieses erstellen mögen. Angesichts der aufgezeigten Mängel ist sie nämlich kaum brauchbar für eine Verfolgung der Verfassungsentwicklung in etlichen Staaten, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland, ähnlich auch in Österreich, untauglich beispielsweise für Ungarn und für zahlreiche Staaten im Umbruch 1918/19. Übrigens: Liechtenstein hat es wahrlich nicht verdient, vergessen zu werden! So nützt die Edition nur dem, der ihre Mängel kennt und ihre Lücken zu füllen weiß.

 

Wien                                                                                                  Wilhelm Brauneder