Gerhardt, Johannes, Der erste Vereinigte Landtag in
Preußen von 1847. Untersuchungen zu einer ständischen Körperschaft im Vorfeld
der Revolution von 1848/49 (= Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und
preußischen Geschichte 33). Duncker & Humblot, Berlin 2007. 310 S. Besprochen
von Werner Schubert.
Der erste Vereinigte Landtag in Preußen (11. 4.-26. 6.1847) war nach den sog. Februarverordnungen König Wilhelms IV. berufen worden, die jedoch nicht an das Verfassungsversprechen von 1815, sondern nur an das Staatsschuldengesetz von 1820 und das Provinzialständegesetz von 1823 anknüpften. Der Landtag, über den mit dem Werk Gerhardts nunmehr eine detaillierte Untersuchung unter Einbeziehung der archivalischen Überlieferung insbesondere der Ausschussberatungen vorliegt, vereinigte die 617 Abgeordneten der acht Provinziallandtage der preußischen Monarchie und gliederte sich in zwei Kurien, die Dreiständekurie (Ritterschaft, Städte, Landgemeinden) und die Herrenkurie (Fürsten, Grafen und Standesherren). Insgesamt umfasste der Adel rund 50% der Stimmen. Die Herrenkurie beriet und beschloss in Finanzsachen zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Landtags, der ein Entscheidungsrecht nur hinsichtlich neuer Steuern und Schulden hatte. Im Übrigen berieten die Kurien getrennt; sie hatten für den Gesamtstaat vorbereitete Gesetzentwürfe und über Petitionen zu beraten. Ein Recht auf periodische Berufung stand dem Landtag nicht zu. Mit den Februarverordnungen war ferner noch der Vereinigte ständische Ausschuss als eigenständige Zentraleinrichtung ins Leben gerufen worden, der vor allem Gesetze, die Veränderungen in Personen- und Eigentumsrechten vorsahen, zu beraten hatte. Neu gegenüber den Provinziallandtagen war, dass die Sitzungsprotokolle mit den Namen der Redner veröffentlicht wurden. Neu war auch, dass an den Beratungen der Ausschüsse die Minister und Regierungskommissare teilnehmen und das Wort ergreifen konnten. Beratungsgegenstand des Vereinigten Landtags und der Ausschüsse waren neben der „Adresse“ Petitionen (insbesondere in Verfassungsfragen), die Bewilligung von Geldern für die Ostbahn von Berlin nach Königsberg, die Errichtung von Landesrentenbanken und vier Gesetzentwürfe (u. a. die Vorlage über die Rechtsverhältnisse der Juden).
Das Werk Gerhardts befasst sich, von der
Verfassungsfrage abgesehen, nicht primär und detailliert mit den
Beratungsgegenständen als solchen, sondern zunächst mit der parteipolitischen
Auseinandersetzung der Abgeordneten mit der Verfassungsfrage und anschließend mit
dem Landtag als „sozialen Ort politischer (konservativer) Eliten“. Im ersten
Hauptteil, die verfassungspolitische Diskussion (S. 72ff.), geht es zunächst um
die politische Einstellung der Abgeordneten. Im Gegensatz zur bisherigen
Literatur, die mit einem erst um 1850 entstandenen Liberalismusbegriff arbeitet
und die Mehrheit der Landtagsabgeordneten als liberal einstuft, ordnet Gerhardt
die Abgeordneten, die das Prinzip der ständischen Repräsentation nicht in Frage
stellten, weitgehend als konservativ ein, so dass der Landtag als Forum der
Auseinandersetzung zwischen verschiedenen konservativen Gruppierungen anzusehen
sei. Die Binnendifferenzierung der politischen Strömung „Konservativismus“, die
Gerhardt vornimmt, bildet nach ihm eine gewisse Analogie zu dem, was die
Forschung zum Liberalismus im 19. Jahrhundert bereits geleistet habe (S. 268). Gerhardt
unterscheidet im Einzelnen zwischen den reaktionär- und den
status-quo-konservativen Abgeordneten, den neuständischen Abgeordneten
(einschließlich des Juste milieu) und zwischen historisch-ständischen und
pragmatisch-ständischen Abgeordneten. Die letztere Gruppierung arbeitete mit
dem vor allem von Dahlmann konkretisierten Begriff des „Rechtsbodens“,
der es gestattete, „einerseits rückwärts blickend auf historische Rechte Bezug
zu nehmen, andererseits in dynamisierter Form die Fortentwicklung gegenwärtiger
Rechtsverhältnisse zu fördern“ (S. 269). Der Begriff spielte auch auf dem zweiten
Vereinigten Landtag von 1848 (und im Frankfurter Parlament) eine wichtige Rolle
im Hinblick auf die Wahrung der Rechtskontinuität (S. 108ff.). – Der zweite
Hauptteil über den Landtag als Ort politischer Eliten ordnet die handelnden
Akteure zunächst sozialgeschichtlich ein (ständische und konfessionelle
Zusammensetzung) und behandelt die Frage, wie Politikinhalte und Entscheidungen
zustande bzw. nicht zustande gekommen sind (Arbeit in den
hierarchisch-autoritär strukturierten Abteilungen, Zusammenspiel zwischen König
und Ministern). In diesem Zusammenhang geht Gerhardt der zentralen Rolle
nach, die Ernst von Bodelschwingh als Landtagsmarschall, Kabinetts- und
Innenminister spielte. In weiteren Kapiteln behandelt Gerhardt „Faktoren
politischer Zusammenschlüsse“ (S. 196ff.; hier über die Wortführer aus der
Rheinprovinz und der Provinz Preußen und über Vincke als Oppositionsmann auf
eigene Rechnung). Ausführlich besprochen werden die Versammlungs- und
Kommunikationsräume (S. 242ff.). Auch wenn das „monarchische Projekt“ Landtag,
das auf der speziellen Staatsauffassung des Königs beruhte, nicht lebensfähig
war, so hat die zentralständische Körperschaft „Landtag“ als Höhepunkt des
vormärzlichen Liberalismus „vielen Akteuren, die in der Folgezeit bis weit in
das Kaiserreich hinein eine entscheidende Rolle im politischen Leben spielen
sollten, zum ersten Mal Gelegenheit geboten, parlamentarische Erfahrungen zu
sammeln“ (S. 266). Insofern könne man ihn – so Gerhardt – durchaus als
eine „Schule des Parlamentarismus“ bezeichnen, die für dessen weitere
Entwicklung in Preußen eine kaum zu überschätzende Bedeutung besitze. In diesem
Zusammenhang ist zu bedauern, dass Gerhardt den vom Landtag gewählten
Vereinigten Ausschuss nicht mehr behandelt hat, der von Januar bis Anfang März
1848 sich ausführlich mit dem Entwurf zu einem gesamtpreußischen
Strafgesetzbuch befasste (hierzu E. Bleich, Verhandlungen des im Jahre
1848 zusammen berufenen Vereinigten ständischen Ausschusses, 4 Bde., Berlin
1848, Reprint 1991). Hier hätte sich zeigen können, wie weit das von Gerhardt
entwickelte Modell des Landtags als Ort der Auseinandersetzungen zwischen
konservativen Gruppierungen angesichts auch liberaler Forderungen tragfähig
ist. Im Einzelnen hätten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Einberufung
und die Beratungen des Landtags etwas ausführlicher dargestellt werden können,
als dies S. 48ff. geschehen ist. Insgesamt handelt es sich bei dem Werk Gerhardts
um eine kenntnisreiche Arbeit, deren Lektüre auch dem
Verfassungsrechtshistoriker und dem allgemein an der preußischen
Rechtsgeschichte Interessierten wichtige Einsichten vermittelt.
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Werner Schubert |